Ausgelesen
Unsere Buchempfehlungen im Frühjahr 2022
In der Masse von Neuerscheinungen nach neuen Sichtweisen, ungewohnten Perspektiven und ungewöhnlichen Ideen zu suchen, ist das Ziel unserer Buchauswahl. Hier eine neue Ausgabe unserer Buchauslese mit einem neuen Schwung an Titeln mit Themen querbeet. Mit den wichtigsten Thesen vorgestellt in Kurzrezensionen. Texte: Winfried Kretschmer mit Beiträgen von Hans Holzinger (hh), Stefan Wally (sw) und Clara Buchhorn (cb). Unsere aktuelle Liste versammelt eine Auswahl von Titeln unserer aktuellen changeX-Buchumschau und der pro Zukunft-Buchkolumne.
Adam Grant:
Think Again.
Die Kraft des flexiblen Denkens. Was wir gewinnen, wenn wir unsere Pläne umschmeißen.
Piper Verlag, München 2022, 368 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-492-07135-2
Eines seiner Hauptärgernisse, schreibt Adam Grant, Professor für Organisationspsychologie an der renommierten Wharton Business School, sei vorgetäuschtes Wissen - "wenn Menschen so tun, als wüssten sie Dinge, die sie gar nicht wissen". Dies ärgere ihn so sehr, dass er gerade ein ganzes Buch darüber schreibe. Insofern kann man sein derzeit aktuelles Buch als eine letzte Warnung verstehen: Think Again, eine Aufforderung, ein Appell zum Umdenken. Die zentrale These dabei lautet: "Intelligenz wird traditionell als die Fähigkeit zu denken und zu lernen betrachtet. Doch in einer turbulenten Welt könnten andere kognitive Fähigkeiten noch wichtiger sein: die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen." Um den Wert des Umdenkens geht es in seinem Buch, also darum, geistige Flexibilität zu entwickeln und dieselbe geistige Beweglichkeit bei anderen zu fördern, sei es im zwischenmenschlichen Umgang oder in der organisierten Zusammenarbeit. Dies sind auch die drei Ebenen und entsprechend die drei Teile des Buches: Umdenken im persönlichen, im interpersonellen und im kollektiven Rahmen. Doch ist der Mensch ein geistig eher träges Wesen und oft wenig geneigt, andere Denkpfade einzuschlagen. "Wir ziehen oft die Bequemlichkeit, an alten Ansichten festzuhalten, der Schwierigkeit vor, uns mit neuen Sichtweisen auseinanderzusetzen", konstatiert Grant. Statt sich auf die Verteidigung vorhandenen Wissens zurückzuziehen, empfiehlt er, sich in den Modus eines Wissenschaftlers zu versetzen, also "aktiv unvoreingenommen" den Dingen gegenüberzutreten. Was wir erlangen sollten, ist "selbstbewusste Demut" - darunter versteht Grant "den Glauben an unsere Fähigkeiten, verbunden mit dem Bewusstsein, dass wir vielleicht nicht die richtige Lösung haben oder nicht einmal das richtige Problem in Angriff nehmen. Wir haben dann genügend Zweifel, um unser altes Wissen zu überprüfen, und genügend Selbstvertrauen, um nach neuen Einsichten zu streben."
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Wendy Wood:
Good Habits, Bad Habits.
Gewohnheiten für immer ändern.
Piper Verlag, München 2022, 336 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-492-07079-9
Etwa die Hälfte der Menschen fassen Medienberichten zufolge zu Neujahr gute Vorsätze, 80 Prozent von ihnen aber haben im Februar schon wieder aufgegeben. Der Versuch, sein Verhalten zu verändern, endet damit, dass die Veränderung einfach nicht stattfindet. Es mangele an der Willenskraft, heißt es dann meist. Frust und Scham sind die Folge. Doch dem liegt ein Missverständnis zugrunde, sagt Wendy Wood - ein Missverständnis, das in vielerlei Hinsicht rational sei. Denn sich zu einem Vorsatz durchzuringen, erweckt den Eindruck, als sei das Wichtigste schon geschafft. Tatsächlich aber liegen die Dinge anders. Wendy Wood zeigt in ihrem Buch, dass Willenskraft nicht genug ist. Denn diese Betonung auf rationaler Entscheidung und rationaler Umsetzung ignoriert den unbewussten, routiniert ablaufenden Anteil an unserem Verhalten. "Wir müssen aufhören, unser rationales Ich zu überschätzen", fordert Wood. "Wir müssen verstehen lernen, dass wir auch aus Anteilen bestehen, die tiefer liegen." Und die anders funktionieren. "Unsere unbewussten Anteile … bilden Gewohnheiten aus, die es uns ermöglichen, unsere Handlungen aus der Vergangenheit ganz einfach in der Gegenwart zu wiederholen." Man könne sich diese Anteile auch "als voll ausgebildete, alternative Ichs vorstellen, die nur darauf warten, anerkannt zu werden - und für uns zu arbeiten". Unsere Gewohnheiten sind gewissermaßen unser zweites Ich. Sagt Wood. Und macht Hoffnung: "Wir können unerwünschte Gewohnheiten verändern, indem wir gute Gewohnheiten ausbilden, die mit unseren Zielen übereinstimmen." Das ist das Versprechen ihres Buches.
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Olga Tokarczuk:
Übungen im Fremdsein.
Essays und Reden.
Kampa Verlag, Zürich 2022, 320 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-311100751
In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2018 hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk einige sehr präzise Sätze über unsere Wahrnehmung der Welt gesagt. Sie konstatierte, dass wir für die rasend schnellen Veränderungen heute noch keine passenden Erzählformen gefunden haben. Die Coronakrise hat sie dann genutzt, ihr essayistisches Werk zu ordnen. Welch ein Glück. Denn entstanden ist dabei ein Essayband mit inspirierenden Texten, der nun auch in deutscher Sprache vorliegt (und dem auch die Nobelpreisrede beigegeben ist, die wir in den Buchempfehlungen schon kurz gestreift haben). In ihren Essays reflektiert Tokarczuk über ihr Schreiben, die Wahl ihrer Themen und die Perspektiven ihres Erzählens. Das mag als l'art pour l'art erscheinen, doch darf nicht vergessen werden, dass Kunst und Literatur - in Letzterer am deutlichsten in der Auflösung der Perspektive des allwissenden Erzählers im Roman - zuerst die Auflösung einer zentralen Weltsicht vollzogen haben. Zwei kleine Entdeckungen beinhaltet die Essaysammlung. Zum einen Tokarczuks Reflexion über Übersetzer und Übersetzung - eine Funktion, die in einer in hoch spezialisierte Funktionen und Bereiche gegliederten Gesellschaft immer wichtiger wird. Tokarczuks Text ist eine Lobeshymne auf die Kunst des Übersetzens und regt an, die erweiterte Bedeutung mitzudenken. Zum anderen der Text, der mit dem Neologismus "Ognosie" überschrieben ist. Darin schlägt die Literatin einen neuen, komplexitätsbasierten Erkenntnisprozess vor - ein Denken in wechselseitigen Bedingtheiten: Ognosie ist ein "narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen". Diese Erkenntnis zielt auf Fülle und Vielheit, in ihrem Fokus stehen Ereignisketten außerhalb der kausalen und logischen Zusammenhänge, sie präferiert Fügung, Brücke, Refrain und Synchronizität statt einer Unterteilung in separierte Einheiten. Eine Ansage. Ein Anstoß, weiterzudenken.
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Michael Zichy:
Die Macht der Menschenbilder.
Wie wir andere wahrnehmen.
Reclam [Was bedeutet das alles?], Ditzingen 2022, 125 Seiten, 6 Euro (D), ISBN 978-3-15-014150-2
"Menschenbild" ist ein Begriff, den es so in keiner anderen Sprache gibt, schreibt Michael Zichy gleich zu Beginn seiner kurzen Abhandlung über die Macht der Menschenbilder. Erfunden hat ihn Nietzsche und damit die Grundlage gelegt für seine breite Verbreitung. Der Autor Michael Zichy hat sich in einer umfassenden Abhandlung um eine wissenschaftlich tragfähige Begriffsbestimmung bemüht und legt mit dem Reclam-Bändchen nun eine handliche Einführung zum Thema vor. Ihm geht es darum, die Unschärfe des Begriffs Menschenbild deutlich zu machen und Missverständnisse auszuräumen. Der "Nebel von Unklarheiten und Missverständnissen" ist für ihn indes kein Grund, den Begriff fallenzulassen. Vielmehr betont er: "Jede und jeder von uns hat und braucht ein Menschenbild: Menschenbilder sind allüberall." Menschenbilder seien macht- und wirkungsvoll. Sie bildeten die Grundlage jeder Gesellschaft und das Zentrum der Kultur. "Menschenbilder bilden das Fundament unseres Weltzugangs, unserer sozialen und politischen Ordnungen, und unseres Menschseins." Mit seiner Schritt für Schritt erweiterten Definition, wonach Menschenbilder ein mehr oder weniger kohärentes Bündel von Annahmen über den Menschen darstellen, bietet das Büchlein eine kompakte Einführung in das Thema. Es macht die Bedeutung des Menschenbilds deutlich und das Potenzial, das ihm innewohnt: "ein enormes reflexiv-kritisches Potenzial".
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James Cheshire, Oliver Uberti:
Atlas des Unsichtbaren.
Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.
Hanser Verlag, München 2022, 260 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-446-27093-0
Unsichtbarkeit war schon öfter ein Thema auf changeX - meist ging es dabei um Frauen: um weibliche Unsichtbarkeit und um die Unsichtbarkeit der von Frauen geleisteten Arbeit, vor allem im Bereich Pflege und Fürsorge, Care-Arbeit. Unsichtbarkeit in einer weiter gefassten Perspektive ist das Thema einer neuen Sammlung von Infografiken: dem soeben erschienenen Atlas des Unsichtbaren. "Über Jahrhunderte war in Atlanten dargestellt, was die Menschen sahen: Straßen, Flüsse, Berge. Heutzutage benötigen wir Grafiken, um die unsichtbaren Muster zu enthüllen, die unser Leben beeinflussen", so die Autoren. Der Atlas des Unsichtbaren sei "eine Ode an das Ungesehene", an eine Welt von Informationen, die nicht nur durch Wörter und Zahlen allein vermittelt werden könne. "Mit jeder Sekunde verknoten sich die Daten der Welt zu einem größeren Knäuel." Aus diesem Knäuel ziehen die Autoren einzelne Informationsfäden heraus und machen ihre Bedeutung deutlich. Sie bedienen sich dabei diverser Datensätze aus unterschiedlichen Quellen. Drei Beispiele vielleicht: So lassen sich Migrationsbewegungen anhand historischer DNA-Proben nachverfolgen. Dies zeigt zum Beispiel, dass die meisten Menschen in Europa einen großen Anteil ihres Erbguts einer Gruppe von Menschen verdanken, von denen sie wahrscheinlich noch nie gehört haben: den Jamnaja, einer Kultur von Steppenbewohnern, die vor bald 5000 Jahren die Graslandschaften Europas erschlossen und auch Stonehenge erbaut haben. Das zeigt: Nationalismus hat keine Grundlage, ist nur eine Einstellung. Eine andere Quelle, die Bewegung von Menschen - in diesem Fall aktuell und simultan - abzubilden, sind Mobilfunkdaten. Sie erlauben es auch, die Bevölkerungszahl abzuschätzen, jederzeit und überall. "Zensus auf Knopfdruck" nennen das die Autoren - eine Ergänzung zur klassischen Volkszählung und zugleich eine in Notsituationen mitunter lebensrettende Datenquelle. Und auch die unsichtbare Frauenarbeit scheint in den Karten auf. Nach wie vor verrichten Frauen mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Sichtbar machen lässt sich dies anhand von Daten der OECD, die zeigen: "Selbst in den fortschrittlichen Ländern schultern Frauen die größeren Bürden des Alltags." Ein schöner Blick ins Unsichtbare. Und zugleich eine Illustration des Nutzens von Big Data (nicht zu verwechseln mit den Massen an individualisierten Daten, die die digitalen Plattformen sammeln - zum eigenen Nutzen).
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Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge:
Sprunginnovation.
Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen.
Econ Verlag, Berlin 2021, 240 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-430210638
Disruption überall. Die Rede von disruptiver Innovation ist zu einer Kampfansage an eine träge, bestehenden Prozessen und Denkweisen verhaftete Industrie geworden. Und wird häufig unbedacht nachgebetet. Wenn in diesem Buch nun von "Sprunginnovation" die Rede ist, ist das mehr als eine bemühte Übertragung des englischen Begriffs ins Deutsche, sondern beinhaltet eine wichtige Bedeutungsverschiebung: "Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer. Sprunginnovatoren finden mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik eine neue Lösung für ein relevantes Problem." Eine Sprunginnovation wirke wirtschaftlich disruptiv, sie "zerstört oft alte Märkte und schafft neue", schreiben die Autoren, grenzen sich zugleich aber vom kalifornischen, vom digitalen Plattformkapitalismus geprägten Verständnis disruptiver Innovation ab: "Die angeblich so disruptiven Plattformen aus dem Silicon Valley lösen Probleme, die wir eigentlich nie hatten." Die digitalen Geschäftsmodelle seien Scheininnovationen, Innovationstheater. Ihr Ziel: Monopolbildung. Notwendig seien vielmehr "sprunghafte Innovationen, die das Leben einer größtmöglichen Anzahl von Menschen in größtmöglichem Umfang besser machen". Kurz: "radikal bessere Technologie". Dafür liefern die Autoren, und hierin liegt der entscheidende Wert ihres Buches, eine passende Fortschrittsdefinition. Sie wurzelt in den Werten der Aufklärung und verbindet eine kollektive, globale mit einer individuellen Nutzenperspektive. Ihr Ziel ist die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, ihre Leitlinie bilden die 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung. Dieser angereicherte Fortschrittsbegriff schaffe "ein deutlich besseres Verständnis, was technischer Fortschritt im 21. Jahrhundert heißen kann". Nur Innovationssprünge könnten die Folgen der Industrialisierung bewältigen, lautet das bedenkenswerte Credo des Buches, dessen Technikoptimismus freilich zu Vorsicht mahnt.
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Patrizia Nanz, Charles Taylor, Madeleine Beaubien Taylor:
Das wird unsere Stadt.
Bürger*innen erneuern die Demokratie.
Edition Körber, Hamburg 2022, 112 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-89684-292-3
Gemeinsam mit dem Politologen Claus Leggewie hat die Demokratieforscherin Patrizia Nanz das Konzept der "Konsultative" als "vierte Macht" des Staates entworfen, nach dem demokratisch und repräsentativ zusammengesetzte Zukunftsräte die Politik beraten sollen. Ihr neues Buch skizziert nun Ideen, um den grundlegenden Problemen der liberalen Demokratien - nämlich "einem zunehmenden Verlust ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen, und einer wachsenden Kluft zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung" - entgegenzuwirken. Ihr Vorschlag zielt auf neue Formen der Beteiligung, die kreative Kräfte freisetzen und Selbstorganisationspotenziale stärken sollen. "Um verantwortungsvolles Regierungshandeln wiederherzustellen, müssen wir unserer Ansicht nach die Demokratie von unten her neu aufbauen. Nur wenn wir die Demokratie an der Basis stärken und neu beleben, gewinnen die Bürgerïnnen Klarheit darüber, welche Forderungen sie erheben wollen und welche Zukunft sie sich für ihre Kommune oder Region vorstellen." Es gehe darum, lokale Gemeinschaften aufzubauen, die neue solidarische Bindungen erschaffen und die Interessen und Ziele von Angehörigen der Gemeinschaft miteinander in Einklang bringen. Weil Reformprojekte ohne Einbeziehung der Betroffenen schwer gelingen. Ein inspirierender Ansatz, der auf die Stärkung lokaler Gemeinschaften, die Selbstorganisation von Bürgerïnnen sowie auf neue Dialogforen setzt und über den titelgebenden Rahmen der Stadt weit hinausweist. (hh)
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Minouche Shafik:
Was wir einander schulden.
Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert.
Ullstein Verlag, Berlin 2021, 200 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-550201165
Minouche Shafik, Direktorin der London School of Economics, skizziert in ihrem neuen Buch einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nötig geworden sei, weil sich immer mehr Menschen von den bestehenden Ordnungen betrogen fühlen - kurz: das System für sie nicht mehr funktioniert. Shafik schildert die Entwicklungen, die dazu geführt haben, und umreißt die neuen Herausforderungen, die die Lage verschärfen. Die technologische Entwicklung und die sich wandelnde Rolle der Frauen waren ihr zufolge die beiden Hauptursachen dafür, dass der bestehende Gesellschaftsvertrag unter Druck geriet. Neue Herausforderungen würden die Lage verschärfen: die Alterung der Gesellschaft, die neuen Technologien, wie künstliche Intelligenz, und schließlich der Klimawandel. Diese Herausforderungen machten es unumgänglich, die gesellschaftliche Ordnung von Grund auf neu zu diskutieren und einen neuen Gesellschaftsvertrag zu begründen. Drei Prinzipien legt die Autorin hierfür fest: "Erstens, dass jedem das Minimum garantiert werden sollte, das notwendig ist, um ein würdiges Leben zu führen. (…) Zweitens sollte von jedem erwartet werden, dass er oder sie so viel wie möglich zum Gemeinwohl beiträgt und dafür die maximalen Chancen erhält durch lebenslange Weiterbildung, späteren Ruhestand und öffentliche Beihilfe zur Kindererziehung, sodass Frauen arbeiten können. Drittens sollte ein Mindestmaß an Schutz vor bestimmten Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter von der Gesellschaft übernommen werden, anstatt sie Einzelnen, den Familien oder Arbeitgebenden aufzubürden." Anstöße für eine wichtige gesellschaftliche Debatte. (sw)
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Steven Pinker:
Mehr Rationalität.
Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 432 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-10-397115-6
Steven Pinkers neues Buch ist eine umfassende und umfangreiche Verteidigung der Vernunft in Zeiten der Fake News. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf der Kritik des Irrationalen. Vielmehr erklärt Pinker die Probleme des menschlichen Denkens, die dazu führen, dass wir auf unvernünftige Argumente hereinfallen. Wichtig sind Pinker zwei Punkte: Zum einen betont er, dass die menschliche Natur nur dann zu verstehen sei, wenn wir uns die Diskrepanz zwischen der Umwelt, in der sich unsere Evolution vollzog, und unserer Umwelt von heute vor Augen führen. Unser kognitives System hat sich über Jahrtausende entwickelt, in der Welt von heute erliegt es aber vielfach systematischen Fehlwahrnehmungen und Denkfehlern, denen wir wiederum nur mithilfe von Logik, Wahrscheinlichkeit und kritischem Denken auf den Leib rücken können, so Pinker. Die Vernunft kann nicht nur Fehlwahrnehmungen zurechtrücken. Sie kann sogar über sich selbst nachdenken. Zum anderen: Es muss uns klar sein, dass niemand auf sich allein gestellt seinen Gedanken nachhängend rational genug sein kann, um zu vernünftigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Rationalität kann also sogar zeigen, dass ihre Anwendung gesellschaftlich eingebettet sein sollte. Das Buch ist eine Anleitung zum besseren Denken und eine entschiedene Verteidigung der Rationalität. (sw)
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Tyson Yunkaporta:
Sand Talk.
Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt.
Matthes & Seitz, Berlin 2021, 286 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-7518-0347-2
Der Dozent und Künstler Tyson Yunkaporta ist Angehöriger des australischen Apalech-Clans und forscht zu indigenem Wissen. Seine Einsicht, "dass es nicht die Welt der Gegenstände war, die uns erdete und erhielt, sondern die Art zu denken", ist zentral für sein Buch. Darin beschreibt er die Muster des Denkens, des Seins und des Tuns, die grundlegend sind für die indigene Kultur der "Ersten Völker". Yunkaporta, der sowohl über Einblick in indigenes Wissen verfügt wie auch in die Wissenssysteme der zivilisierten Welt, erzählt von Mustern, die sich in den vielfältigen Verbindungen zwischen verschiedenen Aborigine-Gemeinschaften entwickelt haben, und grenzt sich dabei ab von einem zu einfachen und folgenlosen Umgang mit indigenem Wissen. Oft werden die "Ersten Völker" und ihre nachhaltige, landverbundene Lebensweise zwar herangezogen, um Lösungen für aktuelle Probleme zu suchen, diese bleiben aber auf die Vergangenheit bezogen. Mit einem "Denken in Mustern" begegnet Yunkaporta heutigen globalen Nachhaltigkeitsfragen und kritisiert damit gegenwärtige Systeme. Dabei verschränkt er unterschiedliche Darstellungsweisen miteinander: erstens die Form mündlicher Überlieferung, die sogenannten Yarns, Erzählungen, die unterschiedliche Denkweisen zusammenbringen, zweitens eine bildhafte, künstlerische Ausdrucksweise in Form traditioneller geschnitzter Objekte und drittens die titelgebenden Sand Talks, das sind Bilder, die zur Weitergabe von Wissen auf den Boden gezeichnet werden. Die westliche geschriebene Sprache bildet erst die letzte, überwölbende Darstellungsform, gewissermaßen die oberste Schicht. So wie alle Objekte der materiellen Welt Wissen beinhalten, will der Autor "zu einem verbindenden Denken anregen". Dabei hält er unserem einspurig rationalen westlichen Denken den Spiegel vor. Und macht deutlich: Zivilisationen, die nicht nachhaltig agieren, haben nie lange Bestand gehabt. Als Hüter-Spezies sind wir Menschen aber dafür verantwortlich, zur Schöpfung beizutragen. Ein Buch, das uns noch ausführlicher beschäftigen wird. Von Clara Buchhorn und Winfried Kretschmer
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