Radikal bessere Technologie
Was braucht die Welt? Radikal bessere Technologie! Das ist die These eines Buches über grundlegende technologische Innovationen, meist als disruptive Technologien bezeichnet. Die beiden Autoren grenzen sich jedoch vom kalifornischen Begriff und Verständnis von Disruption ab und sprechen stattdessen von Sprunginnovation. Die diene nicht in erster Linie der Monopolbildung, sondern liefere eine neue Lösung für ein relevantes Problem und verändere unser Leben grundlegend zum Besseren. Die Leitplanken für diesen Weg der Innovation liefern die Autoren gleich mit: die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung.
Als der österreichisch-deutsch-amerikanische Ökonom Joseph A. Schumpeter Anfang der 1940er-Jahre den Begriff der "schöpferischen Zerstörung" in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt hat, war dies ein Affront gegen die herrschende ökonomische Lehre. Denn von Innovation war dort damals nicht die Rede, und was sich dahinter verbirgt, noch kaum verstanden. Schumpeter machte in seinem Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942) nun deutlich: Innovation ist der Schlüssel zu wirtschaftlicher Entwicklung, und "der Prozess der ‚schöpferischen Zerstörung‘ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum". Wer diese Besonderheit nicht erkenne, verrichte "eine sinnlose Arbeit". Das war eine Provokation mit weitreichender Wirkung. Innovation gilt seither als die maßgebliche Triebkraft wirtschaftlicher Entwicklung.
Von der schöpferischen Zerstörung zur Disruption
Statt von schöpferischer Zerstörung spricht man heute meist von Disruption (englisch to disrupt: "unterbrechen", "stören"), ein Begriff, der von dem amerikanischen Ökonomen Clayton M. Christensen geprägt wurde (The Innovator’s Dilemma, 1997). Disruptive Technologien sind ihm zufolge bahnbrechende technologische Veränderungen, die die Erfolgsserie einer bestehenden Technologie unterbrechen und diese vom Markt verdrängen. Christensen unterschied damit zwischen Innovationen, die lediglich bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen verbessern, und solchen, die die Spielregeln in einer Branche neu definieren und somit bahnbrechend wirken.
Aufgegriffen von der Start-up-Szene wurde der Begriff der Disruption schnell zum ökonomischen Kampfbegriff. Er steht für neue, junge Unternehmen, die alte, etablierte Branchen mit neuen Technologien und neuen Geschäftsmodellen herausfordern. Ein Feld, in dem Ökonomen die deutsche und europäische Wirtschaft schlecht aufgestellt sehen. Deren Stärke seien schrittweise Verbesserungen von Effizienz und Technologie, nicht aber bahnbrechende, sprunghafte Neuerungen. Das veranlasste die deutsche Bundesregierung, im Jahr 2018 die "Bundesagentur für Sprunginnovationen", kurz "SPRIND", zu gründen. Ziel: die Förderung disruptiver Technologien. Das ist in kurzen Zügen der Hintergrund des Buches, das der Gründungsdirektor von SPRIND, Rafael Laguna de la Vera, zusammen mit dem Wirtschaftsjournalisten Thomas Ramge vorgelegt hat. Sein Titel: Sprunginnovation.
Radikal bessere Technologie statt Innovationstheater
Der Begriff Sprunginnovation ist dabei mehr als eine bemühte Übertragung von Disruption ins Deutsche, sondern beinhaltet eine Verschiebung der Blickrichtung vom Bestehenden auf das zu Erreichende. In diesem zukunftsorientierten Sinne verstehen die Autoren den Begriff: "Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer. Sprunginnovatoren finden mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik eine neue Lösung für ein relevantes Problem." Die Liste der Sprunginnovationen im Buch ist imposant. Sie umfasst neben geläufigen Beispielen wie Buchdruck, Dampfmaschine, Fließband und Internet auch Errungenschaften wie Penicillin, Wasserklosett, doppelte Buchführung und mRNA-Impfstoffe. Eine Sprunginnovation wirke wirtschaftlich disruptiv, sie "zerstört oft alte Märkte und schafft neue", schreiben Laguna de la Vera und Ramge, grenzen sich zugleich aber vom kalifornischen, vom digitalen Plattformkapitalismus geprägten Verständnis disruptiver Innovation ab: "Die angeblich so disruptiven Plattformen aus dem Silicon Valley lösen Probleme, die wir eigentlich nie hatten." Die digitalen Geschäftsmodelle seien Scheininnovationen, Innovationstheater. Ihr Ziel: Monopolbildung.
Notwendig seien vielmehr "sprunghafte Innovationen, die das Leben einer größtmöglichen Anzahl von Menschen in größtmöglichem Umfang besser machen". Kurz: "radikal bessere Technologie". Es braucht also klare Kriterien, die definieren, was Innovation wirklich ausmacht, eine Fortschrittsdefinition mithin. Die liefern die Autoren, und hierin liegt der entscheidende Wert ihres Buches. Die vorgeschlagene Definition wurzelt in den Werten der Aufklärung, bezieht das Prinzip der utilitaristischen Ethik nach Jeremy Bentham - das größte Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen - mit ein und verbindet eine kollektive, globale mit einer individuellen Nutzenperspektive: konkret die 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung mit den tief verankerten menschlichen Bedürfnissen, wie sie Abraham Maslow mit seiner Bedürfnispyramide systematisiert hat.
Dieser angereicherte Fortschrittsbegriff schaffe "ein deutlich besseres Verständnis, was technischer Fortschritt im 21. Jahrhundert heißen kann": Nur Innovationssprünge könnten die Folgen der Industrialisierung bewältigen, lautet das Credo der Autoren, die nicht nur das Thema Sprunginnovation anschaulich vermitteln, sondern auch Einblicke in die Psychologie jener High Potentials geben, die durch eine spezifische Kombination von extremem Interesse, Biss und Hartnäckigkeit sowie dem Wunsch nach Wirkung solche Sprunginnovationen hervorbringen. Zu kurz kommt im Buch allerdings die Entwicklung des Innovationsbegriffs, wie sie einleitend kurz umrissen wurde.
Blinde Flecken des Technikoptimismus
Ein durchweg empfehlenswertes Buch also? Ja, mit zwei Einschränkungen. Zum einen fokussieren die Autoren fast ausschließlich auf technische Innovationen, auf technischen Fortschritt. Soziale Innovation hingegen kommt nicht vor (wenn man von der Nennung der doppelten Buchführung in der Beispielliste absieht). Es lässt sich aber mit guten Gründen fragen, ob es nicht verstärkt auch sozialer Innovationen bedarf, um aus der technologischen Sackgasse des Industriezeitalters herauszufinden. Das aber haben die beiden erklärten Technikoptimisten nicht im Blick. Ihr ungezügelter Technikoptimismus führt sie auch dazu, für eine Renaissance der Atomtechnik zu werben, ohne eingehende Begründung indes. Ihre Hoffnung auf "kleine, extrem sichere, besonders günstige Reaktoren" ist nur eine weitere jener Verheißungen, die die Geschichte dieser Technologie von Anfang an begleitet haben. Vom erreichten technologischen Stand einer erneuerbaren Energieversorgung aus gesehen ist Atomtechnik nichts weiter als ein Sprung zurück ins Dampfzeitalter.
Und, wie aktuell zu ergänzen ist, verlangt der Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Neubewertung der Atomtechnik im Hinblick auf Krisensituationen (genauer gesagt geht es um Erkenntnisse, die längst schon auf dem Tisch liegen). Dies in dreierlei Hinsicht: erstens die strategische Rolle von Atomanlagen als Angriffsziele in kriegerischen Auseinandersetzungen betreffend; zweitens im Hinblick auf die Resilienz der Technologie - denn paradoxerweise erfordert ein Atomkraftwerk, das ja zur Energieerzeugung dienen soll, im Fall einer Störung oder Abschaltung eine funktionierende Energieversorgung über das Stromnetz oder den sicheren Betrieb der Notstromaggregate zur Kühlung der Brennelemente; drittens im Hinblick auf die nukleare Nichtverbreitung (Proliferation). Auf diese Achillesferse jeglicher Nutzung spaltbaren Materials hatte Robert Jungk schon früh und mit Nachdruck hingewiesen. Für ihn war klar, dass es eine rein zivile Atomtechnik nicht geben kann.
Zitate
"Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer. Sprunginnovatoren finden mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik eine neue Lösung für ein relevantes Problem." Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge: Sprunginnovation
"Neue Technologie muss die Fehler alter Technologie wieder ausbügeln." Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge: Sprunginnovation
"Global gesehen kann uns nur radikal bessere Technologie helfen." Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge: Sprunginnovation
"Die angeblich so disruptiven Plattformen aus dem Silicon Valley lösen Probleme, die wir eigentlich nie hatten." Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge: Sprunginnovation
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Zum Buch
Rafael Laguna de la Vera, Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ Verlag, Berlin 2021, 240 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-430210638
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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