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Unsere Buchauslese Sommer bis Herbst 2022

 

In unserer Buchauslese geht es dieses Mal um Handeln und Nichthandeln, um Unterschiede, Diversität und Gerechtigkeit, um Identität und Differenz, um eine andere Erzählung der Menschheitsgeschichte, um Strategie in Zeiten radikaler Unsicherheit, um digitale Transformation als Aushandlungsprozess, um Improvisation als realisierte Freiheit, um ein Verständnis von Zukunft als Kunstwerk und Kunstform, um den alltäglichen Narzissmus in unserer Leistungskultur, um die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie, und es geht um eine Gegenerzählung zu der normalerweise erzählten Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert.

Vita contemplativa Freiheit von Zweck und Nutzen

Byung-Chul Han: Vita contemplativa. oder von der Untätigkeit. Ullstein, Berlin 2022, 128 Seiten, 22.99 Euro (D), ISBN 9783550202131

Vita contemplativa, das ist ganz offensichtlich ein Gegenentwurf zu Vita activa, Hannah Arendts viel zitiertem und bewundertem Philosophieentwurf, der den handelnden Menschen in den Mittelpunkt rückt - und damit perfekt in die aktivitätsversessene heutige Zeit passt. Der Philosoph Byung-Chul Han rückt nun die Folgen der Verabsolutierung des Handelns in den Blickpunkt: die "katastrophalen Folgen des menschlichen Hineinhandelns in die Natur" ebenso wie die Absorbierung der menschlichen Existenz durch den Zwang zu Tätigkeit, Produktion und Leistung. Sein Buch verbindet eine Zeitdiagnose mit einer philosophischen Reflexion über Handeln und Nichthandeln und schlägt einen Bogen zur praktischen Philosophie einer guten Lebensführung, ohne dabei in überkommene Schwarz-Weiß-Muster zu verfallen. Ja, Vita contemplativa ist ein Gegenentwurf zur Vita activa, aber nicht im ausschließenden Sinne eines Entweder-oder. Han geht es um eine Synthese, eine notwendige Ergänzung. Sein Argument in Kürze: Hannah Arendt hat nur die eine Seite, das aktive Handeln - den Zielpunkt ihrer Philosophie also -, in den Blick genommen, dabei aber die andere Seite ausgeblendet: die Kontemplation, das Nachdenken, ohne gleich ins Handeln zu kommen. Han hält dem entgegen: "Dem Handeln geht die Kontemplation als Weg zur Erkenntnis, zur Wahrheit voraus." Das heißt: "Vita activa ohne Vita contemplativa ist blind." Entscheidend sei, dass die Vita activa die Vita contemplativa "in sich aufnimmt". Die Verabsolutierung des aktiven Lebens ist indes nur Ausdruck eines sehr grundlegenden, in der westlichen Philosophie und Denkweise wurzelnden Missverständnisses: der Annahme, dass zielgerichtetes, zweckorientiertes Handeln generell der beste Weg zur Lösung einer Aufgabe oder eines Problems sei - eine funktionalistische Denkweise also, die instrumentelles Handeln über alles stellt. In seinem Buch entwickelt Han ein tiefer gehendes Verständnis zweckfreier Untätigkeit, nicht als Faulheit, sondern als die Voraussetzung kontemplativer Aufmerksamkeit. Untätigkeit bedeutet: "Wir tun zwar, aber zu nichts. Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit." Und zugleich Grundlage der Wahrnehmung und "Grundformel des Glücks".
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Unterschiede Jeder macht den Unterschied

Wolf Lotter: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber, Hamburg 2022, 328 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-89684-293-0

In der Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft erlangen Unterschiede eine zentrale Rolle, so die zentrale These des neuen Buchs von Wolf Lotter. Der Übergang führt, in kürzester Form zitiert, vom "Zeitalter der Einheit, Norm und kollektiven Nivellierung" ins "Zeitalter der Diversität und des anerkannten Unterschieds". Es ist eine Zeitenwende, eine grundlegende sich vollziehende gesellschaftliche Transformation. In der Einheitsgesellschaft erscheint der Unterschied als Bedrohung, so Lotter, in der Wissensgesellschaft wird er "gelebter Alltag". Das verlangt eine "Kursänderung in der Einstellung zum Unterschied", einen Wechsel der Denkrichtung von einer negativen zu einer positiven, von einer exklusiven zu einer inklusiven Bestimmung: Unterscheiden wir, um etwas auszuschließen, zu trennen oder abzugrenzen, etwa das Bekannte vom Unbekannten oder die eigene kulturelle und soziale Identität von der anderer?, fragt Lotter. "Oder aber unterscheiden wir, um zu erkennen, zu lernen und damit Möglichkeiten und Varianten zu respektieren?" Dann nämlich wächst die Zahl der Möglichkeiten. Verstehen von Vielfalt bedeute zu "erkennen, dass unterschiedliche Fähigkeiten die Anzahl an Lösungen erhöhen". Und weil Fähigkeiten immer an Menschen gebunden sind, steht im Zentrum der Transformation der Einzelne: "Jeder macht den Unterschied." Die neue Stellung des Individuums wurzelt in einem grundlegenden Wandel der Arbeit hin zur Wissensarbeit. In seinem Buch arbeitet Lotter heraus, was dieser Wandel für unterschiedliche Themenbereiche bedeutet, für das Verständnis von Gerechtigkeit, für Kritik und Wettbewerb, für die Gestaltung von Organisationen, für Unternehmensführung sowie für Bildung und die Organisation von Wissensarbeit. Überall dort gilt: "Unterschiede sind Ideen sind Wissen sind Kreativität", so das Credo des Autors, der immer wieder auf die gewachsene Rolle und Verantwortung des Einzelnen hinweist. Worauf es somit ankommt, das ist der "Mut zu sich selbst". Die wechselseitige Anerkennung des Persönlichen bildet wiederum die Grundlage eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses in einer Gesellschaft, die Unterschiede anerkennt. Das bedeutet: Einzelgerechtigkeit statt Gleichheit.
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Die Schönheit der Differenz Miteinander füreinander fühlen

Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denken. btb Verlag, München 2022, 560 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-442-75946-0

Unsere Persönlichkeit setzt sich aus vielen Ichs zusammen, Menschen tragen viele Identitäten in sich - die Vorstellung einer in sich geschlossenen Identität ist somit eine Illusion. Das ist das Thema, von dem das Buch von Hadija Haruna-Oelker handelt: Identität und Differenz. Sie will "Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden". Sie will die Blicke weiten, Möglichkeiten aufzeigen und Handlungsräume eröffnen, "um ein anderes Miteinander zu denken" - ein "Miteinander füreinander". Ihr Buch wendet sich "gegen polarisierendes Denken, Vereinfachungen oder die Vorstellung festgezurrter Gruppenidentitäten". Es ist ein Plädoyer für radikale Diversität als "die Utopie einer Gesellschaft, in der alle Menschen in ihrer Differenz leben können". In einer breiten Perspektive umreißt die Autorin die unterschiedlichen Kategorien, in die Menschen in unterschiedlicher Hinsicht eingeteilt werden. Sie beschreibt, wie diese zustande kommen - und wie sie verschwimmen, "weil kein Mensch eindeutig ist". Unsere gesellschaftliche Aufgabe in Zukunft sei, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet (Identität), sondern auch mit dem, was uns unterscheidet (Differenz) - eine "Generationenaufgabe", so Haruna-Oelker. Sie betont, "es ist wichtig, mit unseren Differenzen zu arbeiten", und bietet zugleich eine Praxis an, wie das geschehen kann: die indigene Philosophie des Ubuntu, die in der Anti-Apartheid-Bewegung und bei der Begründung des südafrikanischen Staates eine wichtige Rolle spielte. Das Prinzip des Ubuntu ist das Streben nach Übereinstimmung mit dem Ziel, einen Weg für alle zu finden. Entscheidend ist dabei, mit dem Gegenüber zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden, und so einen gemeinsamen Verhandlungsraum zu eröffnen. Dieser Ansatz könnte für Hadija Haruna-Oelker ein Vorbild sein, Gesellschaften und öffentliche Räume zu gestalten. Das verlangt ein "intersektionales Denken", das sich vor allem durch Empathie auszeichnet. Es bedeutet zu lernen, "miteinander füreinander zu fühlen".
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Anfänge Eine andere Erzählung

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-608-98508-5

Der gängigen Erzählung menschlicher Entwicklung zufolge waren Hierarchie, Herrschaft und zynisches Eigeninteresse schon immer die Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Jede Form menschlichen Zusammenlebens beruht demnach auf der kollektiven Unterdrückung unserer niedrigeren Instinkte. Diesem vorherrschenden großen Bild der Geschichte halten der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow ein anderes, konträres entgegen, "eine völlig andere Weltgeschichte", die auf einer puzzleartigen Zusammenstellung und Interpretation der Forschungsergebnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte beruht. Ihr Buch versteht sich als "ein Versuch, mit der Erzählung einer anderen, hoffnungsvolleren und interessanteren Geschichte zu beginnen". Über ein Jahrzehnt haben die beiden die archäologischen und anthropologischen Erkenntnisse der neueren Forschung zusammengetragen, interpretiert und zu einem neuen Bild zusammengesetzt. Sie bauen "ein alternatives Narrativ auf, das unserem heutigen Wissensstand eher entspricht". Dabei zeigt sich, dass die Standarderzählung "so gut wie nichts mit den Fakten zu tun hat". Das herrschende Narrativ sei nicht nur falsch, sondern zudem "völlig langweilig". Die neueren Forschungsergebnisse lassen vermuten, so Graeber und Wengrow, "dass der Verlauf der Menschheitsgeschichte weniger in Stein gemeißelt und reicher an spielerischen Möglichkeiten ist, als gemeinhin angenommen wird". Anhand einer geradezu überwältigenden Fülle an Beispielen aus allen Ecken der Erde illustrieren die Autoren, wie unterschiedlich menschliches Zusammenleben in der Vergangenheit ausgesehen hat. Angesichts dieser Vielfalt an Optionen in der Menschheitsgeschichte sehen sie den gegenwärtigen Zustand der Welt auch nicht als unvermeidliches Ergebnis der Entwicklungen früherer Jahrtausende. Damit stellen sie sich gegen eine Gesellschaftstheorie, die die Entwicklung der Menschheitsgeschichte so darstellt, als hätte sie notwendigerweise dort enden müssen, wo wir heute stehen. Dadurch erscheint nicht nur die Geschichte, sondern auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos. Ein eindrucksvolles Werk, das eine völlig neue Perspektive auf die Menschheitsgeschichte eröffnet.
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Systemaufbruch Strategie anders denken

Martin Kornberger: Systemaufbruch. Strategie in Zeiten maximaler Unsicherheit - die Wiederentdeckung von Clausewitz. Murmann Publishers, Hamburg 2022, 150 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-86774-725-7

Ziel, Plan, Implementierung: das überkommene Verständnis von Strategie. Immer wieder durchexerziert und meist kläglich gescheitert. Warum versagt Strategie so oft?, fragt Martin Kornberger, Philosoph und Professor für Ethik an der Wirtschaftsuniversität Wien, in seinem neuen Buch. Er bietet eine Antwort an, die sich auf der Höhe zeitgemäßen Denkens über Ungewissheit, Unsicherheit und eine offene Zukunft bewegt. Kornberger schreibt: "Strategie scheitert nicht etwa, weil wir sie nicht gut genug formulieren oder sie nur halbherzig implementieren. Strategie scheitert, weil wir sie von Anfang an falsch denken und falsch umsetzen. Der Fehler liegt darin, dass wir glauben, wir könnten ein zukünftiges Ziel definieren und dann alle jene Schritte vorausschauend planen, die zu dessen Erreichung notwendig sind." Kornberger setzt dem ein neues Strategieverständnis entgegen, "das der Komplexität rekursiver, vernetzter Umwelten gerecht wird". Seine Ausgangsfrage lautet, "wie wir Strategie in Zeiten radikaler Unsicherheit entwickeln können". Also dann, wenn "die lineare Verkettung von Ziel - Plan - Implementierung an der Realität zerbricht" - und genau das wurde schon vor 200 Jahren von dem preußischen General und Strategen Carl von Clausewitz beschrieben. Der steht nun Pate für Kornbergers neues Strategieverständnis, das darauf abzielt, lokales, angepasstes, selbständiges Handeln zu ermöglichen. Ein Handeln also, das sich auf die spezifische, aktuelle Situation vor Ort einlässt. "Nur die Initiative autonomer Akteure kann flexibel und agil auf das sich ständig ändernde Umfeld reagieren", schreibt Kornberger. Das verlangt, große Systeme aufzubrechen. Strategie erscheint dann nicht mehr als vorgegebener Plan, sondern als strategische Brücke, die Haltung und Orientierung für lokales Handeln vermittelt und dieses auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichtet. So wie Clausewitz’ Nordstern am Firmament.
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Träge Transformation Transformation als Aushandlungsprozess

Sascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren. Reclam [Was bedeutet das alles?], Stuttgart 2022, 92 Seiten, 6 Euro (D), ISBN 978-3-15-014188-5

Noch ein Buch, das Deutschlands skandalöses Hinterherhinken bei der Digitalisierung beklagt? Das wäre überflüssig, wenn es denn nicht mehr bieten würde als die wiederholte Skandalisierung dieses Zustands. Das aber leistet das kleine Büchlein von Sascha Friesike und Johanna Sprondel. Zum einen, indem es klärt, was unglücklicherweise häufig miteinander verwechselt werde, nämlich Digitalisierung und digitale Transformation. Digitalisierung ist eine Veränderung der Form, in der etwas dargereicht wird, es ist eine Übersetzung von einem Aufschreibesystem in ein anderes, erklären die Autorïnnen, und Digitalisierung funktioniere "letztlich recht gut". Woran es indes hapere, das sei digitale Transformation. Gelungene Transformation begreifen Friesike und Sprondel als "Ergebnis eines ‚Aushandlungsprozesses‘, durch den digitale Technologien … genutzt oder erweitert werden, um konkrete Bedürfnisse zu erfüllen". Es sind Prozesse, "in denen der Gegenstand selbst verändert wird" und das Ergebnis mithin offen ist. Es geht also darum, "ein neues Produkt zu schaffen oder ein vorhandenes Produkt auf ein neues Level seiner Existenz zu heben". Mit anderen Worten könnte man sagen, digitale Transformation ist komplex - "ein zusammenhängender, kollaborativer Prozess, der ein Verständnis aller Beteiligten von den relevanten Mechanismen, Praktiken, Problemen und Chancen verlangt". Klar, dass das etwas anderes ist als die Übersetzung von einem Medium in ein anderes. Klar auch, woran es mangelt: an den genannten Voraussetzungen, die einen Aushandlungsprozess erst ermöglichen und zum Erfolg führen. Eine wichtige Einsicht. Der zweite Gewinn, den dieses Büchlein erbringt, liegt darin, dass es mit einigen Missverständnissen - oder Glaubenssätzen - aufräumt, die im Zusammenhang mit Digitalisierung und digitaler Transformation immer wieder auftauchen: Es geht dabei um Visionsgläubigkeit oder Moonshot-Denken, um Technologieversessenheit, um die Behauptung radikaler Beschleunigung, um Komplexitätsreduktionstools, um Disruption und nicht zuletzt auch um die immer wieder geforderte neue Fehlerkultur, um nur einige der im Büchlein aufs Korn genommenen Merkwürdigkeiten zu nennen. Angesichts dieser Missverständnisse mahnen die Autorïnnen zu Besonnenheit und gründlichem Nachdenken. Weil es eben um Veränderungsprozesse geht, bei denen das Ziel auf dem Weg ausgehandelt wird.
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Zukunft Die Zukunft als Kunstform

Zoran Terzić: Zukunft. Kunst des Ungewissen. diaphanes, Zürich 2022, 198 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-0358-0460-7

Es beginnt mit einem Paradox: Wer mit Gewissheit behauptet, die Zukunft könne nicht vorhergesagt werden, weil wir nicht wissen, was kommt, artikuliert damit schon eine Vorstellung des Zukünftigen, ein Wissen. Um Vorstellungen, die auf die Zukunft projiziert werden, um implizites Wissen mithin, das gewissermaßen in die Zukunft vorausgeworfen wird, geht es in Zoran Terzić’ Buch. Seine These lautet, dass es beim Umgang mit der Zukunft "nicht so sehr aufs Wissen ankommt, sondern eher auf die Kunst, mit dem Ungewissen umzugehen". Jedes Neue setze eine gewisse Ahnungslosigkeit voraus. "Neu ist, was überrascht." Das Buch bietet zahlreiche Zugänge, dieses Kunstwerk Zukunft zu deuten. Es behandelt neun unterschiedliche Perspektiven, zentral dabei ist die Unterscheidung von vier "Futuritäten", verstanden als unterschiedliche Ausprägungen des Zukunftssinns: Zukunft als Prozess, Zukunft als Vision, Zukunft als Abgrund und Zukunft als Kunstform. Diese vier Ausprägungen würden aber, wenn über Zukunft gesprochen wird, in der Regel nicht unterschieden, sondern zu einer einzigen Perspektive verkürzt, so Terzić. Eine Form steht dann für Zukunft schlechthin. Ein differenziertes Zukunftsdenken hingegen mache deutlich, "dass Prozesse, Visionen, Abgründe und Kunstformen für sich genommen nicht Alleinvertretung des Realen, sondern ein Teil eines unverstandenen Komplexes sind, eines Zeit-Rätsels, das wohl mit der alten Frage nach Wesen und Bedingtheit des Menschseins seinen Ausgang nahm". Daraus "erwächst die Notwendigkeit einer Erweiterung des Zukunftsbegriffs, die mit der bloßen Pluralisierung zu Futures nicht erreicht werden kann". Denn - das Paradox vom Anfang - "in der Zukunftsdiversität steckt nichts, was nicht schon zuvor in sie gelegt wurde".
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Improvisieren! Improvisation und Freiheit

Georg W. Bertram, Michael Rüsenberg: Improvisieren!. Lob der Ungewissheit. Reclam [Was bedeutet das alles?], Stuttgart 2022, 144 Seiten, 12 Euro (D), ISBN 978-3-15-011367-7

Improvisieren, das macht man, wenn man anders nicht mehr weiterkommt. Wenn etwas Unerwartetes passiert - der Plan nicht aufgeht, die Lieferung nicht kommt oder in der Küche die entscheidende Zutat fehlt. Das ist die verbreitete Vorstellung von Improvisation: "Improvisieren gilt als Abweichung vom beherrschbaren Normalfall." Doch das ist ein Missverständnis, kritisieren der Philosophieprofessor Georg W. Bertram und sein Co-Autor, der Jazzpublizist Michael Rüsenberg. Ihr Buch will dieses Missverständnis ausräumen und plädiert für ein neues Selbstverständnis des Menschen als ein zur Improvisation fähiges Wesen. Gegen das verbreitete Missverständnis von Improvisation als ein Sich-irgendwie-Durchwursteln bringen die Autoren zwei zentrale Argumente vor. Zum einen kommt Improvisation nicht aus dem Nichts, sondern beruht "auf komplexen Vorbereitungen, auf einem Erwerb besonderer Fähigkeiten" - Erfahrung, Geistesgegenwart und eintrainiertes Vorgehen. Zum anderen ist Improvisation kein regel- oder zielloses Tun, sondern ist stets "in Handlungskontexte eingebunden". Improvisation ist somit nicht Notfallmodus, sondern voraussetzungsvolles Element einer Haltung, "mit der wir uns der Welt und anderen gegenüber öffnen". Und das dritte zentrale Argument lautet: Improvisation ist kein selbstvergessenes Tun, es passiert zuallermeist nicht aus sich heraus, sondern in Beziehung zur Welt und zu anderen. Mithin zu einer Zukunft, die ungewiss ist. Entscheidend dabei: "Die Ungewissheit geht dem Improvisieren nicht voran, sondern wird in ihm erzeugt." Was seine Handlung bewirkt, weiß der Improvisierende erst, "wenn die anderen geantwortet haben werden". Weil sie an Voraussetzungen gebunden und in Kontexte eingebunden ist, hat Improvisation auch keinen definierten Anfang. "Alles Improvisieren knüpft an vorangegangene Improvisationen an." Die (schöne) Schlussfolgerung: "Improvisieren realisiert Freiheit" - "und zwar durch die in ihm hergestellte Ungewissheit".
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Narzissten wie wir Narzissmus differenziert gesehen

Katharina Ohana: Narzissten wie wir. Vom Streben nach Aufwertung - ein ehrlicher Blick auf uns Menschen. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2022, 256 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-407-86718-6

"Politiker, Topmanager und Instagram-Stars fallen uns als Erstes ein, wenn es um das Thema Narzissmus geht", beschreibt Katharina Ohana gleich zu Beginn ihres Buches die gängige Wahrnehmung: Narzissten, das sind die anderen. So deutlich wir den Narzissmus bei anderen wahrnehmen und beklagen, so schwer tun wir uns, auch unsere eigenen narzisstischen Befindlichkeiten zu erkennen, so die Psychologin. Sie sagt: Der Narzissmus ist nicht nur eine Diagnose für offensichtlich gestörte Menschen. Sondern eine Qualität, die alle unsere menschlichen Gefühle, Gedanken, Erkenntnisse, Erfindungen und Handlungen überschattet. Neben dem pathologischen Narzissmus gibt es also eine Form von Alltagsnarzissmus, die sich in etwa in dem Wunsch nach Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder im Streben nach Selbstoptimierung äußert. Die Grenze sei dabei aber schwer zu ziehen, so Ohana. Die typischen Symptome wie Ichbezogenheit, Selbstüberschätzung, Erfolgsfantasien, Sehnsucht nach Bewunderung, Empathielosigkeit, Neid und Arroganz stellten in mehr oder weniger starker Ausformung "auch das ganz normale Alltagsverhalten unserer kapitalistischen Kultur dar". Der alltägliche Wunsch, besser zu sein, durchdringt unsere Leistungskultur bis in einzelne Verhaltensmuster hinein - und prägt auch unser westlich-rationales Denken. Descartes’ "Ich denke, also bin ich" begründete eine folgenreiche Trennung von Körper und Geist; im Zuge der Aufklärung sei unser Verstand dann "von unseren narzisstischen Ambitionen befreit worden, um uns zu höheren rationalen Wesen zu erklären", so Ohana. Doch lässt sich überhaupt ändern, was so prägend für unsere Denk- und Lebensweise ist? Und sind die Menschen überhaupt in der Lage, ihre narzisstischen Verhaltensmuster zu erkennen und zu ändern? Ohana ist zuversichtlich. Sie sieht ein neues, ganzheitliches, dynamisches und entwicklungsfähiges Menschenbild im Entstehen, das sich ausgehend von Erkenntnissen in Psychologie, Neurowissenschaften und Hirnforschung mehr und mehr verbreite und zu einer Paradigmenrevolution führen werde. Und die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellt: Ich bin, also denke ich. Kurzum und optimistisch: "Narzissten wie wir können reifer und freier werden."
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Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie Addition statt Autonomie

Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, 192 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-8031-5190-2

Im Rückblick werde die Documenta Fifteen vielleicht einmal als Schlüsselereignis gesehen, bei dem eine neue Bruchlinie in der modernen Kunst sichtbar wurde, argumentierte der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich kürzlich in der Zeit. In seinem neuen Buch ist nachzulesen, wo Ullrich diese Bruchlinie verortet. Es geht um nichts weniger als eine Standortbestimmung der Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Zur Disposition steht also ein Verständnis, nach dem Kunst in einem eigenen, den Anforderungen und Ansprüchen der übrigen Gesellschaft enthobenen, autonomen Bereich agiert. Diese Eigenmächtigkeit der Kunst ist nun zu Ende, konstatiert Ullrich, und macht dies an verschiedenen, sich überlagernden Entwicklungen fest. Da ist zum einen eine "Erschöpfung und Entleerung des Begriffs der autonomen Kunst", ein selbst verschuldetes Motiv also. Hinzu kommen die Globalisierung von Kunstmarkt und Ausstellungsbetrieb mit einer Annäherung an Kommerz und Markenbildung, aber auch der wachsende Einfluss sozialer Medien und der Sog der Aufmerksamkeitsökonomie. Zusammen verwischen diese Entwicklungen, wie Ullrich anschaulich zeigt, die vormals starken Grenzziehungen zwischen Kunst, Konsum und politischem Aktivismus. Nicht zuletzt sei auch "der relativ feste Werksbegriff der Moderne in eine Krise geraten". So erweise sich der "westlich-moderne Begriff von Kunstwerk … als historisch-geographischer Sonderfall". Die eben noch autonom agierende Kunst sieht sich plötzlich mit vielfältigeren Ansprüchen konfrontiert. Kunst, Mode, Design, Aktivismus kooperieren, beeinflussen sich, passen sich wechselseitig aneinander an, ja, sind oftmals gar nicht mehr voneinander zu trennen, so der Autor. Es entsteht "das neue Paradigma einer Kunst …, die sich an unterschiedlichen Kriterien gleichzeitig zu orientieren vermag". Ullrich spricht von einem "postautonomen Prinzip der Addition von Qualitäten und Funktionen". Seine Hoffnung indes, dass organisierte Netzwerke von Kuratoren diesen heterogenen Anforderungen eher zu genügen vermögen, hat sich auf der Documenta Fifteen allerdings krachend zerschlagen. Dazu bräuchte es wohl mehr Heterogenität nicht nur der gezeigten Kunst, sondern auch der Kuratorenteams.
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The Quartet Die Philosophie zurück im Leben

Clare Mac Cumhaill, Rachael Wiseman: The Quartet. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. C.H.Beck Verlag, München 2022, 504 Seiten, 26.95 Euro (D), ISBN 978-3-406-78184-1

"Praktisch alle großen europäischen Philosophen waren Junggesellen." So lautete die erste Zeile eines Manuskripts für eine Radiosendung der BBC, das die Philosophin Mary Midgley verfasst hatte. Es wurde abgelehnt - wegen eines trivialen und irrelevanten Eindringens privater Angelegenheiten in den intellektuellen Diskurs, wie es hieß. Midgleys Argument allerdings zielte in eine andere Richtung. Sie fragte, ob der für die westliche philosophische Tradition so charakteristische Skeptizismus, Individualismus und Solipsismus vielleicht in der Lebenssituation der Denker wurzelt, die ihn - fernab des wirklichen Lebens - ersonnen haben. In eine ganz ähnliche Richtung zielt Midgleys Weggefährtin und Freundin Elizabeth Anscombe, wenn sie schreibt, "dass jeder Versuch, uns selbst zu verstehen, seinen Ausgang von der Tatsache nehmen muss, dass wir lebendige Wesen sind". Mit Mary Midgley und Elizabeth Anscombe sind bereits zwei Namen genannt - zusammen mit Philippa Foot und Iris Murdoch bilden sie das "Quartet" des Buchtitels: vier kämpferische Frauen, alle 1919 beziehungsweise 1920 geboren, die in Oxford gemeinsam Ansätze zu einer neuen Philosophie entwickelten, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt. Die Autorinnen Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman rekonstruierten die Geschichte der vier Philosophinnen auf der Grundlage von Erzählungen, Biografien, Tagebüchern und zusammengetragenem Archivmaterial. Entstanden ist so eine ansprechende Mischung aus College-Roman, der Einblicke in das (männlich dominierte) intellektuelle Leben in England am Beginn des Zweiten Weltkriegs bietet, und einer Einführung in philosophische Grundfragen am Beispiel des damaligen Streits in der Philosophie um deren grundsätzliche Ausrichtung. Es war die Zeit, als der logische Positivismus der Philosophie die Metaphysik austreiben wollte und ein Nachdenken über Sinn, Sein und Existenz als "Unsinn" abtat. Nur beobachtbare Tatsachen sollten gelten. Vorgetragen wurde dieser Angriff von vorwiegend jungen, männlichen Philosophen in einer Mischung aus aggressivem Nichtverstehen und dem Streben, Diskussionen zu gewinnen. Demgegenüber suchten die vier Frauen die Philosophie aus dem menschlichen Leben, aus der Existenz heraus neu zu begründen - und den Fragestellungen, die sich daraus ergeben. Sie begriffen den Menschen als "metaphysisches Tier", das nicht aufhört, nach seinem Wesen und seiner Bestimmung zu fragen. Ihre Geschichte eröffnet somit "eine Gegenerzählung zu der normalerweise erzählten Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert", so die beiden Autorinnen, selbst Philosophinnen an britischen Universitäten. Es ist die Geschichte einer philosophischen Auseinandersetzung - "eine, die die Philosophie wieder zurück ins Leben bringt".
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