Bücher, die Spuren hinterlassen
Welche Bücher des Jahres 2017 uns besonders lesenswert scheinen
Hier sind sie, unsere Bücher des Jahres: Bücher, die in diesem Jahr Spuren hinterlassen haben. Die es herauszuheben lohnt. Weil sie Themen ansprechen, die morgen wichtig werden. Weil sie sich um neue Perspektiven abseits des Gewohnten bemühen. Weil sie nach dem Neuen suchen.
François Jullien:
Es gibt keine kulturelle Identität.
Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, aus dem Französischen von Erwin Landrichter.
edition suhrkamp 2718, Berlin 2017, 80 Seiten, 10 Euro (D), ISBN 978-3-518-12718-6
Die Forderung nach einer kulturellen Identität hat heute überall Konjunktur. Populistische und nationalistische Strömungen beschwören sie als Schutzwall gegen Uniformierung und Globalisierung. Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien hält dem entgegen: Es gibt keine kulturelle Identität. Das Wesen der Kultur, so Jullien, ist die Veränderung. Wie eine Sprache tot ist, die sich nicht mehr verändert, so gilt Gleiches auch für die Kultur. Das Problem, sagt Jullien, liegt in der Verwendung der falschen Konzepte. Identität betont die Differenz - dem hält der Philosoph das Konzept des Abstands entgegen: "Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mit Hilfe des Konzepts des Abstands nähern, wir sollten sie nicht im Sinne von Identität, sondern im Sinn einer Ressource … verstehen." Differenz fragt: Was trennt uns? Abstand fragt: Wie weit liegen wir auseinander? Der Abstand erzeugt eine Spannung, eröffnet ein Zwischen, "in dem ein neues Gemeinsames entsteht": ein Zwischen des Zwiegesprächs, des Dialogs. Ein Zwischen, "in dem sich das Denken an die Arbeit macht". Das ist einfach wunderbar gedacht! Der Abstand, das Dazwischen, das Eröffnen eines Dialogs, das sind Konzepte, die sich weit über das Thema der kulturellen Identität hinaus fruchtbar machen lassen. Für Verständigung gleich wo.
Idee: Konzept des Abstands
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Bernhard von Mutius:
Disruptive Thinking.
Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist.
GABAL Verlag, Offenbach 2017, 232 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-86936-790-3
Für die einen ist es Gespenst, für die anderen Verheißung: ein Wort, das sich erstaunlich rasch ausgebreitet hat, seit es in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in die Welt kam: Disruption. Heute hat es längst den Bannkreis der akademischen Fachdiskussion verlassen. Es steht für einen radikalen Wandel in der Wirtschaftswelt. Einen Wandel, den die Etablierten fürchten, die jungen Herausforderer hingegen emphatisch begrüßen, fordern, vorantreiben. Was Disruption aber genau ist, bleibt im Unklaren. Wo andere, wie der Begriffserfinder Clayton Christensen, auf ein enges ökonomisches Modell bauen, setzt Zukunftsdenker Bernhard von Mutius auf eine Weitung. Für ihn ist Disruption nicht bloß ein Fachterminus, sondern ein Denkmodus: Disruptive Thinking. "‚Disruptive Thinking‘ heißt zunächst: Umbrüche, Brüche, nichtlineare Entwicklungen denken zu können." Es ist die "Kunst und Disziplin", mit Störungen, Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen. Doch Disruptive Thinking feiert nicht die Disruption, es ist "Reflexion von Disruption". Es ist ein Denken nicht bloß "out of the box", sondern ohne Box. Ein Denken ohne Geländer. Das Buch bietet eine dreiteilige Expedition in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Disruptive Thinking, drei Gänge querfeldein, von denen jeder in einen praktischen Imperativ mündet: "Sei überraschend einfach! Brich Routinen! Stärke die Menschen!" Denken auf der Höhe der Zeit. (wk)
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Edward D. Hess, Katherine Ludwig:
Humility Is the New Smart.
Rethinking Human Excellence in the Smart Machine Age.
Berrett-Koehler, Oakland 2017, 224 Seiten, 25.99 Euro, ISBN 978-1-626568754
Mehr als die Hälfte der bestehenden Arbeitsplätze seien durch Maschinen bedroht. Das ist in etwa Konsens in der Folgenabschätzung von Digitalisierung und Automatisierung. Konsens ist auch das Rezept, mit dem sich der Mensch vor den Auswirkungen der neuen Technisierungswelle schützen könne. Wir müssten nur auf unsere Kernfähigkeiten setzen: Kreativität, Innovation, kritisches Denken sowie Empathie und Zusammenarbeit. Nicht zuletzt hier würden zahlreiche neue Jobs entstehen. Alles doch nicht so wild also? Zwei US-Wissenschaftler verweisen nun auf einen entscheidenden Denkfehler bei diesem Argument. Es ist schon richtig, dass dies die Eigenschaften sind, die uns von Maschinen unterscheiden. Aber wir sind nicht wirklich gut darin. Im Gegenteil: Psychologie und Verhaltensökonomie haben schonungslos offengelegt, wie sehr unsere Wahrnehmung trügt, wie sehr Egoismus und Konkurrenzdenken wirkliche Zusammenarbeit verhindern, wie Ängste und Eitelkeiten uns in unsrem Potenzial beschränken. Die smarten Maschinen hingegen "will have no biases … no egos, no emotional defensiveness, and no fears of making mistakes or looking stupid or not being liked", schreiben Edward D. Hess und Katherine Ludwig. Es gibt nur einen Weg: "We need to improve." Wir müssen besser werden. Im Denken, im Zuhören, in der Gestaltung von Beziehungen, in der Zusammenarbeit mit anderen. Um so unser höchstes Potenzial in Arbeit und Leben zu entfalten. Ein Begriff ist zentral in diesem Ansatz: Humility - Demut, Bescheidenheit: "Humility is a mindset that results in not being so self-centered, ego defensive, self-enhancing, self-promotional, and closed-minded" - alles Eigenschaften, die nach Erkenntnissen der Lern- und Kognitionswissenschaften das Streben nach Exzellenz behindern: "excellence at higher-order thinking and emotionally engaging with others". Raus aus Angststarre und Kleindenken also - dieses Buch weist den Weg: Es geht um einen Shift im Mindset. Das Buch bündelt vorhandene Diskursstränge und bezieht sie auf die Herausforderung des zweiten Maschinenzeitalters. Ein furioser Weckruf.
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Iris Bohnet:
What works.
Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann.
C.H.Beck, München 2017, 381 Seiten, 26.95 Euro, ISBN 978-3-406-71228-9
"Lean in!" hatte Sheryl Sandberg, COO von Facebook und zuvor in der "Führungsmannschaft" (!) von Google (so der Verlag) an den weiblichen Willen zum Erfolg appelliert. Hängt euch rein! Setzt euch durch! Nun hält Iris Bohnet, Professorin für Verhaltensökonomie an der Harvard University, dagegen: "Nicht die Frauen müssen sich ändern, sondern die Spielregeln." Ein Beispiel: Noch 1970 lag der Frauenanteil der wichtigsten Orchester in den Vereinigten Staaten bei gerade einmal fünf Prozent, heute sind es 35. Kein Zufall. Sondern Ergebnis einer Änderung des Verfahrens: Musiker, die sich um Aufnahme in ein Orchester bewerben, spielen "blind", verborgen hinter einem Vorhang vor. Geschlecht und Hautfarbe sind so für die Jury nicht erkenntlich. Verzerrungen der Wahrnehmung durch latente Vorurteile bleiben außen vor. "Indem wir das Design verändern, verändern wir das Ergebnis", schreibt Iris Bohnet. In ihrem Buch stellt sie "gute Verhaltensdesigns" vor: "Designs, die es unseren voreingenommenen Gehirnen erleichtern, Dinge richtig zu machen." Es gelte "lernende Umgebungen" zu schaffen, um so mehr Diversität herzustellen. Das erinnert an die "Nudges" von Richard Thaler und Cass Sunstein, kommt aber ohne den paternalistischen Unterton dieses Ansatzes aus. "Verhaltensdesign ist überall", sagt Iris Bohnet, "es gibt keine Welt ohne Design." Es geht nur darum, das Design so zu gestalten, dass das Ergebnis dem entspricht, was wir für richtig halten. Verhaltensdesign ist ein überzeugender Ansatz zur Gestaltung von Gesellschaft - weit über das Thema Gleichberechtigung hinaus.
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Max Tegmark:
Leben 3.0.
Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, aus dem Amerikanischen übersetzt von Hubert Mania.
Ullstein Buchverlage, Berlin 2017, 528 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-550081453
Bei wie viel Punkt null von was sind wir denn eigentlich? Seit dem Web 2.0 hat uns die der Software entlehnte Versionsnummern-Manie fest im Griff. Aber seien wir ehrlich: Man kann dieses Irgendwaspunktnull nicht mehr hören. Und jetzt Leben 3.0? Dieser Titel allerdings hat es in sich. Lässt Gänsehaut entstehen. Denn Max Tegmark, Professor am MIT und Spezialist für künstliche Intelligenz, plädiert dafür, die Definition von Leben nicht auf die Spezies zu beschränken, denen wir bislang begegnet sind. Sondern Leben sehr grundlegend als einen Prozess zu begreifen, der seine Komplexität bewahren und sich reproduzieren kann. Was dabei reproduziert wird, ist nicht Materie, sondern Information. Und was sich reproduziert, kann auch Technologie sein. Leben 1.0 ist demnach Leben, "in dem sich sowohl Hardware als auch Software herausbilden, anstatt gestaltet zu werden". Einfaches, biologisches Leben also. Leben 2.0 ist dann "Leben, dessen Hardware sich entwickelt hat, dessen Software aber größtenteils entworfen wurde" - Sprache, Schrift, Kultur ganz allgemein. Leben 3.0 ist dann in der Lage, nicht nur seine Software, sondern auch seine Hardware selbst zu gestalten. "Es wird sein eigenes Schicksal meistern und endlich vollständig von seinen evolutionären Fesseln befreit sein", sagt Tegmark. Das ist die technologische Stufe, basierend auf künstlicher, also nichtbiologischer Intelligenz. Leben 2.0 hat die Oberhand auf unserer Erde gewonnen. Doch was ist, wenn nun Leben 3.0 die Oberhand gewinnt? Das visionäre Buch von Max Tegmark denkt weit in die Zukunft voraus und beschreibt zugleich eindringlich die Bemühungen um eine Sicherheitsforschung für künstliche Intelligenz. Tegmarks Haltung ist eindeutig: "Falls es uns gelingt, eine harmonischere menschliche Gesellschaft zu schaffen, die durch Kooperation für gemeinsame Ziele charakterisiert ist, wird das die Aussichten für einen guten Ausgang der KI-Revolution verbessern." Sein Buch ist ein engagierter Aufruf, sich einzumischen und mitzudiskutieren.
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Armin Nassehi:
Die letzte Stunde der Wahrheit.
Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft.
kursbuch.edition, Hamburg 2017, 216 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-946514-58-9
Zwei Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe seines Buches legt Armin Nassehi nun eine komplett überarbeitete Neuausgabe vor, die sich nun auf den zentralen, den eigentlichen Kern des Werkes konzentriert: die Komplexität der modernen Gesellschaft. Die Teile, die sich mit dem Rechts-links-Schema beschäftigten - und zu einer missverständlichen Wahrnehmung des Buches geführt hatten -, wurden gestrichen. Das führt zu mehr Klarheit und tut dem Buch gut. Dessen zentrale These lautet: "dass die moderne Gesellschaft in ihrer ganz eigenen Form der Komplexität davon geprägt ist, dass es keinen Ort gibt, von dem her man sie konkurrenzlos und gültig beschreiben kann. Mehr noch: Sie kennt keinen Ort, der es ermöglicht, auf die Gesellschaft zuzugreifen." Weder gibt es eine allgemeingültige Beschreibung der Gesellschaft, noch gibt es einen Punkt, an dem man den Hebel der Gesellschaftsveränderung ansetzen könnte. Nassehis "Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft" richtet sich gegen gesellschaftliche Diskursströmungen, die nicht akzeptieren wollen, dass es eine gesellschaftliche Zentralperspektive nicht mehr gibt, respektive von einem Umbau der Gesellschaft träumen - explizit genannt: in eine Postwachstumsökonomie. Im Grunde sei "die Gesellschaft voller unterschiedlicher Problemlösungsperspektiven", so der Münchner Soziologieprofessor, der auch klar das zentrale Problem moderner Gesellschaften benennt: Die wesentliche Herausforderung der modernen Gesellschaft ist die Übersetzung von einer Logik in eine andere. Nur so kann die verteilte Intelligenz genutzt werden. (wk)
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Andreas Reckwitz:
Die Gesellschaft der Singularitäten.
Zum Strukturwandel der Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 480 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-518-58706-5
Was ist mit unseren Gesellschaften los? Wie lassen sich die Verwerfungen und Verunsicherungen unserer Zeit erklären? Andreas Reckwitz hat eine Antwort, und er formuliert sie mit dem Anspruch einer Gesellschaftstheorie. Seine Argumentation geht so: Im Grunde wird der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft, den die Soziologen Alain Touraine und Daniel Bell schon Anfang der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts proklamiert hatten, erst jetzt in den Gesellschaften spürbar. Und er vollzieht sich als ein Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen. Wir erleben den Eintritt in die Gesellschaft der Singularitäten. Vom Allgemeinen zum Besonderen, das spiegelt sich in den industriellen Produkten, die keine Massenprodukte mehr sind, sondern höchst individualisierte Erzeugnisse. Und es spiegelt sich im Leben der Menschen, für die das Einzigartige, Unverwechselbare zur Richtschnur und zum Lebensziel geworden ist. In dieses Konzept der Singularisierung fügt sich somit auch die Individualisierung ein, die Ulrich Beck als "Pluralisierung von Lebensstilen" beschrieben hatte. Der Ansatz von Reckwitz ist aber weiter. Er umfasst nicht nur die Ebene der Individuen, sondern die Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Offen allerdings bleibt die Frage, wie sich eine singularisierte Gesellschaft in Zukunft zusammenhalten lässt. Reckwitz hat darauf keine Antwort. Sein Buch endet mit einer Aufzählung von Krisen, die diese Gesellschaft hervorzubringen droht. Und ganz am Ende findet sich ein Hinweis, was unsere tradierte Vorstellung von Gesellschaft heute sei: pure Nostalgie.
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Thomas Ramge, Viktor Mayer-Schönberger:
Das Digital.
Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus.
Econ Verlag, Berlin 2017, 304 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-430202336
Was für ein Titel! Und was für eine These: Digitale Daten sind heute, was Kapital im entstehenden Industriekapitalismus war: eine Veränderung der Spielregeln, die eine neue Form des Wirtschaftens hervorbringt. Das ist die Kernaussage dieses Buches: "Der Markt kann endlich sein volles Potenzial entfalten." Datenreiche Märkte erlauben es uns, bessere Entscheidungen zu treffen. Und sie werden "die Rolle verändern, die Märkte und Geld spielen". Sie werden einen traditionellen, geldbasierten Markt nach dem anderen ablösen und damit den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, grundlegend verändern. "Statt Kapital und Firmen erschaffen wir datenreiche Märkte, die Menschen ermächtigen, besser miteinander zu wirtschaften." Das ist die Vision dieses Buches, das auch gleich Vorschläge liefert, wie sich dieser Übergang regulativ gestalten lässt. Damit nicht einige wenige Monopolisten den neuen, datengenerierten Mehrwert abschöpfen. Zwei Instrumente verdienen Beachtung: zum einen das Modell einer Pflicht zum Datensharing - Unternehmen sollten entsprechend ihrer Marktmacht verpflichtet werden, ihre Daten zu teilen, diese also Öffentlichkeit und anderen Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Gewissermaßen "eine in Daten erhobene Steuer". Zum anderen schlagen die Autoren vor, (statt der viel diskutierten Robotersteuer) einen Steuerrabatt auf menschliche Mitarbeiter einzuführen. Vor allem aber wendet sich dieses Buch gegen die Konzentration der Debatte auf die Maschinen. Es ist die Vision einer zutiefst menschlichen Wirtschaft.
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Andreas Weigend:
Data for the People.
Wie wir die Macht über unsere Daten zurückerobern.
Murmann Verlag, Hamburg 2017, 360 Seiten, 26.90 Euro (D), ISBN 978-3-86774-568-0
Dass Andreas Weigend ein Grundlagenwerk über Daten auf den Markt gebracht hat, erstaunt nicht. Er weiß, wie sehr Daten, die über einen gesammelt werden, das Leben mit ungeahnter Macht plötzlich aus den Angeln heben können. Eines Morgens wurde Weigends Vater von einer Behörde abgeholt und verschwand sechs Jahre im Gefängnis. Ohne zu wissen, warum. Die Behörde war die Stasi, der Morgen lag im Jahr 1949. Doch die Lehre daraus ist heute, da wir jeden Tag mehr Daten produzieren als im gesamten Jahr 2000, aktueller denn je: "Persönliche Informationen zu teilen kann reale, lebensbedrohliche Risiken bergen, weil solche Daten gegen uns verwendet werden können." Dabei ist Weigend, Professor an der Stanford University, kein Digitalverächter. Im Gegenteil: Er ist überzeugt, dass all die Datenströme, die wir freiwillig jeden Tag preisgeben, uns mehr nutzen als schaden können - sofern wir Wege finden, die Interessen der Datennutzer mit unseren eigenen in Einklang zu bringen. Eine Illusion? Mitnichten, sagt Weigend, der als Ex-Forschungsleiter die Datenstrategie von Amazon mitentwickelt hat, und legt ein präzises Konzept vor, das auf zwei Prinzipien beruht: Transparenz und selbstbestimmte Handlungsfähigkeit. Weigend definiert sechs Rechte, die dringend durchgesetzt werden müssten, damit das Teilen von Daten dem Einzelnen zugutekomme: vom Recht auf Datenzugang und der Inspektion von Datenfirmen für das Individuum über das Recht, Daten zu ergänzen, bis hin zum Recht, Daten zu anderen Firmen mitzunehmen. Ein äußerst konkreter Entwurf, der die Beziehungen zwischen Datenerzeugern und Datendienstleistern fundamental neu denkt: statt Regulator Staat, Mitgestalter Individuum. Ein wichtiger Debattenbeitrag zur Gestaltung des Lebens in der digitalen Gesellschaft. (ad)
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Steffen Mau:
Das metrische Wir.
Über die Quantifizierung des Sozialen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 308 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-518-07292-9
Zahlen sind Kult. Die datengestützte Dauerinventur unserer Gesellschaft gehört längst zu unserem Lebenstakt. Bereitwillig geben wir an allen Ecken des Lebens Daten preis, lassen unser Selbst und die Gesellschaft um uns herum erfassen, vermessen, quantifizieren und finden das eigentlich ganz gut so. Denn sind Zahlen nicht wunderbar eindeutig, objektiv, vergleichbar, differenziert, ja gerecht? Achtung, mahnt der Soziologe Steffen Mau: Der Zahlenfetischismus der Gesellschaft hat gravierende Folgen. Folgen, die wir meist nicht mal bemerken. Denn schleichend wird die Quantifizierung des Lebens zum Maßstab für unser Handeln, unsere Entscheidungen, unsere Bewertungen, unsere Wahrnehmung der andern. Egal, ob es um Hochschulrankings oder Börsenratings, Citations-Wettbewerbe in der Wissenschaft, um Gesundheitsscores oder Performancebewertungen am Arbeitsplatz geht. In der Quantifizierung des Sozialen sieht Steffen Mau einen Megatrend mit höchster Sprengkraft. Denn die Bewertungsgesellschaft, die gegenwertig an Fahrt aufnimmt, stärkt Hierarchien, sie droht, langfristig starrer und unfreier zu machen. Und natürlich sind Zahlen alles andere als neutral. Sie beschreiben und erzeugen Status, sind Träger politischer Konzepte und normativer Skripte. Wenn wir nicht wollen, dass sie unser Leben in neue Takte und Zwänge pressen, dass aus dem alten "Kleider machen Leute" ein neues "Zahlen machen Leute" wird, sollten wir uns mit dem Megatrend Quantifizierung dringend auseinandersetzen. Ein notwendiges Buch. (ad)
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Kelly Weinersmith, Zach Weinersmith:
Bald!.
10 revolutionäre Technologien, mit denen alles gut wird oder komplett den Bach runtergeht, aus dem Englischen übersetzt von Thomas Pfeiffer und Sigrid Schmid.
Hanser Verlag, München 2017, 22 Euro (D), ISBN 978-3-446-25676-7
Was wird die Zukunft bringen? Welche Technologien werden sich durchsetzen, welche nicht? Glaubt man den in sozialen Medien kursierenden Videos, dann ist eine Zukunft nicht fern, in der unsere Häuser von gigantischen 3-D-Druckern gedruckt werden, in der Flugtaxis uns in die Städte bringen und autonome Roboter die Hausarbeit erledigen. Doch wie weit ist die Entwicklung wirklich? Was kommt vielleicht schon bald? Bald ist der Titel eines Buches, das genau diesen Fragen nachgeht. Zach und Kelly Weinersmith, er Blogbetreiber und Wissenschaftsjournalist, sie promovierte Biologin und Forscherin, haben zehn neu entstehende Fachbereiche näher ergründet - vom Weltall über neue Kraftwerke, neue Konstruktionsmethoden bis hin zum menschlichen Körper und dem zugehörigen Gehirn. In locker-flapsig-ironischem Stil, aber basierend auf fundierten Recherchen, arbeiten die beiden heraus, was der Stand der Dinge ist (dass es etwa gar nicht so einfach ist, einem Roboter das Maurerhandwerk nahezubringen), wo Bedenken liegen und wie die jeweilige Technologie die Welt verändern würde. Wenn sie denn zum Einsatz käme. Was gar nicht so gewiss ist. Denn die technische Entwicklung ist geprägt von Zufällen und reich an Umwegen und Sackgassen. Dass die technologische Entwicklung eben nicht so geradlinig verläuft, wie es im Rückblick erscheinen mag (und deren Vertreter jeweils glauben machen wollen), ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Buches. Denn umgedreht heißt das: Die technologische Entwicklung ist gestaltbar, sie verläuft nicht zwangsläufig.
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