Sommerlektüre
Unsere Buchvostellungen im Sommer 2024
Unsere Buchempfehlungen im Sommer 2024 stellen eine breite Palette an neuen Titeln vor. Sie fassen die in den Buchumschauen von Juni und Juli vorgestellten Bücher in knappen Kurzrezensionen zusammen. Hier die Autoren und Themen.
Erfolg und anderes neu gewendet: In der Juni-Buchauslese geht es um die verborgenen Potenziale, die in jedem Menschen schlummern; um ein neues, nicht nur individualistisches Verständnis von Mindset; um Kairos als Wegweiser zu einer komplexeren Zeitwahrnehmung; um Verletzlichkeit als Ankerpunkt einer sorgenden Ethik; um den Einfluss, den einfache Menschen auf die Geschichte nehmen können; und schließlich um Klimaversagen: Warum Gesellschaften nicht in der Lage sind, den Klimawandel aufzuhalten - und was man trotzdem tun kann. Unhaltbarkeit, Hacks und wilde Ecken: In der Juli-Buchauslese geht es um Nicht-Nachhaltigkeit und Unhaltbarkeit; um urbane Gärten und die Zukunft der Stadt; um die ökonomische Bedeutung von Natur und Umweltschutz; um die vielfältigen Wege der Transformation; um die Verwechslung von sozialer Innovation und Social Entrepreneurship; um das Hacken von Organisationen und schließlich um wilde Ecken als soziale Mikroinnovation im Garten. Die Links verweisen auf die ausführlicheren Rezensionen in den beiden Sammelbesprechungen..
Adam Grant:
Hidden Potential.
Die Wissenschaft des Erfolgs. Wie man über sich hinauswächst, übersetzt von Marlene Fleißig und Violeta Topalova.
Piper Verlag, München 2024, 352 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-492-07291-5
In seinem Buch Think Again hat sich Adam Grant mit flexiblem Denken beschäftigt. Intelligenz als Fähigkeit zu denken und zu lernen reiche heute nicht mehr aus. Wichtiger wird die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen. Nach der Intelligenz knöpft sich Grant nun den Erfolgsbegriff vor. In seinem neuen Buch geht es um die in uns schlummernden verborgenen Möglichkeiten. "In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial", lautet die Ausgangsthese. Mit seinem Buch will Grant eine Anleitung geben, wie wir dieses Potenzial freisetzen können. Und er definiert auf diesem Weg Erfolg neu, jenseits von statischem Denken in den Kategorien Start-Ziel-Erfolg. Entscheidend ist der Weg, den man zurücklegt, die Entwicklung, die man vollzieht. Nicht auf Zielerreichung liegt der Fokus, sondern auf Wachstum. Und "Wachstum hat weniger damit zu tun, wie hart man arbeitet, als damit, wie gut man lernt", so Grant. Lernen, seine Potenziale entwickeln, besser werden, das ist das zentrale Motiv, das der Autor herausarbeitet. "Besser werden beim Besserwerden", ist seine Maxime. Die Kernaussage variiiert: "Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt." Oder anders gefragt: "Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unserer Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen?"
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Mary C. Murphy:
Wachstumskultur.
Wie die neue Mindset-Theorie Menschen, Teams und Organisationen verändern kann. Mit einem Vorwort von Carol Dweck. Aus dem Englischen von Jan W. Haas.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2024, 376 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-593-51854-1
Die Psychologieprofessorin Mary C. Murphy wendet sich gegen ein individualistisches Verständnis von Mindsets. Sie zeigt, dass auch soziale Gruppen, Organisationen und Kontexte ein Mindset haben können und erweitert das Konzept so vom Individuellen auf das Soziale. Mindsets sind also keine rein individuellen Eigenschaften. Ihren zentralen Gedanken umschreibt sie so: "Denken Sie einmal an einen Fisch, der in einem See herumschwimmt. Zu behaupten, dass Mindsets rein individuelle Eigenschaften sind, hieße, zu behaupten, dass das Verhalten dieses Fisches nur von ihm allein abhängt. Eine solche Sichtweise ignoriert vollständig, was im Wasser geschieht (etwa die Bewegungen der anderen Fische)." Mindset-Kulturen entstehen außerhalb von Individuen in einem aktiven, gemeinschaftlichen Prozess. "Diese Grundüberzeugungen bestimmen, wie die Mitglieder einer Gruppe denken, fühlen und auftreten." Murphy unterscheidet dabei ein statisches und ein dynamisches, auf Wachstum ausgerichtetes Mindset. Sie bezeichnet diese beiden Typen als "Geniekultur" und "Wachstumskultur". Menschen in einer Geniekultur glauben, dass menschliche Fähigkeiten unveränderlich, also statisch sind. Menschen in einer Wachstumskultur hingegen glauben, dass Begabungen und Fähigkeiten entwicklungsfähig sind. Und Murphy zeigt: Mindsets sind nicht so statisch und unveränderlich wie angenommen. Mindset-Kulturen lassen sich verändern. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, in welche Richtung dies geschehen sollte: hin zu einer Wachstumskultur.
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Joke J Hermsen:
Kairos.
Vom Leben im richtigen Augenblick. Für ein neues Zeitempfinden, übersetzt von Bärbel Jänicke.
Verlag HarperCollins, Hamburg 2023 2023, 368 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-365004609
Kairos, Sohn des Zeus, ist eine der zwei Gottheiten, die in der griechischen Mythologie für die Zeit zuständig sind. Chronos und Kairos stehen für zwei unterschiedliche Zeitbegriffe und Zeitwahrnehmungen: Chronos für die linear verstreichende Zeit und Kairos für den richtigen Augenblick, die günstige Gelegenheit. Heute steht die chronologische Zeit im Vordergrund, sie bestimmt unsere Zeitwahrnehmung, Kairos hingegen war lange Zeit vergessen und weitgehend aus der Wahrnehmung verschwunden. Erst im 20. Jahrhundert und verstärkt in der heutigen Zeit erlebte Kairos eine Renaissance. Die niederländische Philosophin Joke Hermsen widmet sich in ihrem Buch der Rezeptionsgeschichte und Bedeutung von Kairos und knüpft dabei zahlreiche Querverbindungen: Das rechte Maß, symbolisiert durch die Waage, die der junge Gott auf manchen Abbildungen trägt, spielt herein, ebenso wie Kontingenz und Unvorhersehbarkeit, der Heureka-Moment des Archimedes und auch Serendipität - das Glück oder die Gabe, unerwartet Gutes zu entdecken. Auch können Krisen durch Kairos zu einem Wendepunkt und Neuanfang werden. Nicht zuletzt besteht eine Verwandtschaft zwischen Kairos und der chinesisch-taoistischen Lehre des Wu wei, der Kunst des Handelns durch Nichthandeln. Es ist inspirierend wie lehrreich, mit Joke Hermsen diese vielfältigen Bezüge und Querverbindungen auszuloten. Ihr Buch zeigt die Aktualität des Nachdenkens über Zeit: Eine neue, differenziertere Zeitwahrnehmung beginnt sich breitzumachen - und kann dabei an die Vielgestaltigkeit von Kairos anknüpfen.
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Giovanni Maio:
Ethik der Verletzlichkeit.
Verletzlichkeit und Angewiesenheit als wesentliche Elemente menschlicher Existenz.
Verlag Herder, Freiburg 2024, 160 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-451-60132-3
Im Menschenbild des autonomen Individuums gilt Schwäche als Makel. Stärke zeigen ist die Maxime. Der Mensch als Urheber seiner selbst. In diesem Leitbild werde "Autonomie mit Unabhängigkeit gleichgesetzt und jedwede Abhängigkeit von der Hilfe anderer als Bedrohung der Selbstbestimmung wahrgenommen", schreibt der Arzt, Medizinethiker und Philosoph Giovanni Maio. Im Gegensatz dazu begreift er die Verletzlichkeit als Grundmerkmal des Menschen, ja des Lebens schlechthin: "Der Mensch ist von Grund auf verletzlich - und nicht nur der Mensch: Mit ihm ist es auch das Tier, alles Lebendige, die gesamte Natur." Die Ethik der Verletzlichkeit ist ein anregender Entwurf und ein gelungener Anstoß, sich mit unserem Selbstbild als Mensch auseinanderzusetzen. Kurzum, eine aktuelle Antwort auf die alte Frage "Was ist der Mensch?" Und zugleich ein Gegenentwurf zum egozentrierten Menschenbild der neoliberalen Ära - bis hin zu den Übermensch-Fantasien des Transhumanismus.
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Loel Zwecker:
Die Macht der Machtlosen.
Eine Geschichte von unten.
Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2024, 416 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-608-50193-3
Geschichte wird immer noch vorwiegend aus der Sicht der Herrschenden erzählt. Der Autor und freie Redakteur Loel Zwecker wendet nun die Perspektive von Grund auf und rückt Menschen ohne Macht und Einfluss in den Blickpunkt, die grundlegende Veränderungen angestoßen haben. In seinem Buch erzählt er, welchen Einfluss einfache Leute auf die Geschichte nehmen können. Seine These: "Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; und es waren auch nicht Revolutionsführer oder ‚große Denker‘ - sondern scheinbar Machtlose, ‚die da unten‘, einfache Leute." Er nennt sie die "engagierten Machtlosen" und entwickelt "eine andere Perspektive auf Entwicklungen, Muster und Akteure der Geschichte". Das ist spannend und lehrreich. Vorsicht aber ist geboten vor einer allzu simplen Übertragung der Lehren aus der Vergangenheit auf die heutige Zeit. Auf jeden Fall aber ein lesenswertes Buch.
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Jens Beckert:
Verkaufte Zukunft.
Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht.
Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2024, 238 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-518-58809-3
Das Klima ist in der Krise. Der Klimaschutz auch. Die Emissionen steigen weiter. "Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten?" Das ist die Leitfrage des Buchs von Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Seine Antwort: "Der Kampf gegen den Klimawandel scheitert an den Macht- und Anreizstrukturen des auf Gewinnerwirtschaftung, Konsum und unbegrenztes Wachstum geeichten Gesellschaftssystems - trotz des Wissens um die Gefahren zukünftiger Klimaveränderung." Dieses Versagen hängt gleichermaßen mit der Struktur der Gesellschaften in der kapitalistischen Moderne wie mit der des Klimaproblems zusammen. Denn beide sind charakterisiert durch komplexe Interdependenzen und Dilemmata auf zahlreichen Ebenen. Für den Klimawandel heißt das: Es handelt sich um ein tückisches Problem, ein wicked problem - ein Problem also, bei dem aufgrund seiner Komplexität ein hohes Maß an Ungewissheit besteht und für das es keine einfache Lösung gibt. Für die Gesellschaften heißt es, dass sie - ebenso komplexitätsbedingt - strukturell nicht in der Lage sind, mit solchen Problemen umzugehen. Beckert kommt daher zu einem pessimistischen Schluss: "Es bedürfte einer Vollbremsung", schreibt er, doch "die Maßnahmen, die erforderlich sind, werden nicht getroffen." Es reicht nicht. Das bedeutet jedoch nicht Resignation. Beckert plädiert vielmehr für einen "nachdenklichen Realismus", der sich am einzig angemessen Umgang mit tückischen Problemen orientiert: nämlich schrittweise nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Ohne eine Stärkung der Zivilgesellschaft werde das nicht gehen. "Wenn überhaupt, ist die Bereitschaft zur Unterstützung von Maßnahmen gegen die Übernutzung natürlicher Ressourcen nur unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen, also ‚von unten‘ und nicht ‚von oben‘." Ein wichtiges Buch in der Klimadebatte.
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Ingolfur Blühdorn:
Unhaltbarkeit.
Auf dem Weg in eine andere Moderne.
edition suhrkamp 2808, Berlin 2024 2024, 320 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-518-12808-4
Der Nachhaltigkeitsforscher Ingolfur Blühdorn denkt über die allgemeine Krisenlage nach und sagt: Die etablierte Ordnung ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern gänzlich unhaltbar. Blühdorn hat bereits mit seinen Überlegungen zum Begriff der "Nicht-Nachhaltigkeit" für Aufmerksamkeit gesorgt. Das einzig Nachhaltige in unserer Gesellschaft, hatte Blühdorn argumentiert, sei die Nicht-Nachhaltigkeit: Es gebe einen breiten Konsens in der Gesellschaft, keinerlei Abstriche bei der eigenen Lebensweise in Kauf nehmen zu wollen, und deshalb sei eine Verschärfung der Krise unausweichlich. In seinem neuen Buch vertritt er nun die These, "dass die etablierte Ordnung nicht nur ökologisch und sozial nicht nachhaltig ist, sondern tatsächlich unhaltbar geworden ist". Unhaltbar seien auch die alten Überzeugungen, die sich auf den Glauben an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft und an die Lösbarkeit ihrer Krisen stützen. Sie aber sind grundlegend für das ökoemanzipatorische Projekt und seine typische Verknüpfung ökologischer und emanzipatorischer Werte. Blühdorns Diagnose lautet, "dass sich das Zeitfenster für eine sozialökologische Transformation inzwischen geschlossen hat, dass die gesellschaftliche Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit sich weiter verstetigt und dass das ökoemanzipatorische Projekt sich zunehmend erschöpft und überlebt haben könnte." Es ist also eine doppelte Unhaltbarkeit, mit der die heutigen Gesellschaften konfrontiert sind: die Unhaltbarkeit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und die Unhaltbarkeit dessen, was sie bisher für die Alternative gehalten haben. Initiativen aus der Zivilgesellschaft, auf die Jens Beckert seine Hoffnung richtet, seien nichts weiter als eine Bewältigungsstrategie - nicht mehr als "die Simulation … von Gestaltungs- und Steuerungsfähigkeit und -willigkeit". Sie helfen aber dabei, so Blühdorn, "das Trauma der doppelten Unhaltbarkeit zu bewältigen".
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Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner (Hg.):
Unterwegs in die Stadt der Zukunft.
Urbane Gärten als Orte der Transformation.
transcript Verlag, Bielefeld 2024, 432 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-8376-7163-6
Ein Beispiel für eine solche Initiative, die von unten, aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden ist, sind urbane Gärten, auch Gemeinschaftsgärten genannt. Es sind Gärten in der Stadt, gemeinschaftlich initiiert, angelegt, gepflegt, bepflanzt und beerntet. "Seit mehr als zwanzig Jahren werden sie von Stadtbewohner*innen ins Leben gerufen, denen etwas in ihrem Leben fehlt", schreiben die Herausgeberinnen der nun vorliegenden umfassenden Bestandsaufnahme zum Thema. Urbane Gärten waren angetreten, "die Stadt grundlegend zu verändern", heute sind sie "in der Stadt angekommen. Es gibt immer mehr von ihnen. Sie sind sichtbar, selbstbewusst und inzwischen enorm vielfältig. Sie sind eine Herausforderung für kommunale Politik und Verwaltung, weil sie Unterstützung einfordern und bei der künftigen Entwicklung der Städte mitreden wollen". Der Band beschreibt "urbane Gärten als Orte der Transformation" und enthält Texte zu vielfältigen Perspektiven urbanen Gärtnerns sowie eine 44 Seiten umfassende Fotostrecke. So vielfältig wie das Bild, das hier entsteht, sind auch Bedeutung und Funktion dieser Gärten: Sie sind Denk- und Lernräume, Orte der Umweltbildung und des kollaborativen Arbeitens, interkulturelle Experimentierräume, Mikroökologien, Orte der Ästhetisierung, gärtnerische Keimzellen und eine Möglichkeit, Garten, Küche und Schreibtisch neu zu verbinden. Sichtbar werde dabei, so sie Autorinnen, "das Potenzial urbaner Gärten, Antwort auch auf die großen Fragen geben zu können".
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Jan-Niclas Gesenhues:
Offensiver Umweltschutz.
Wie wir Natur und Wohlstand retten können.
Murmann Verlag, Hamburg 2024, 200 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-86774-788-2
Die ökologische Krise ist nicht nur eine der Vielfachkrisen unserer Zeit, sie ist auch selbst eine Mehrfachkrise bestehend aus Klimawandel, Artensterben, kollabierenden Ökosystemen und weltweiter Verschmutzung. Doch ist der Umwelt- und Naturschutz selbst in die Krise geraten. Nicht zuletzt der Krieg gegen die Ukraine hat die Gewichte verschoben, die Prioritäten geändert. Sicherheit und materielle Grundbedürfnisse haben an Bedeutung gewonnen, Umweltthemen an Aufmerksamkeit verloren. Der Umweltökonom und Umweltaktivist Jan-Niclas Gesenhues analysiert die umweltpolitische Lage und denkt darüber nach, wie sich der Umweltschutz gesellschaftlich und politisch wieder nach vorn bringen lässt. "Der Umweltschutz braucht als Aufgabe und Bewegung Erneuerung", schreibt er. Er müsse vielfältiger werden, kampagnenfähig und offen für neue und überraschende Bündnisse. Nach Gesenhues’ Analyse ist es ein doppeltes Dilemma, in dem Natur und Naturschutz feststecken: auf der Werteskala als postmaterialistisch verortet, findet ihr ökonomischer Wert keine Berücksichtigung. Endlich die grundlegende ökonomische Bedeutung der Natur anzuerkennen und stärker herauszustellen, ist für den Autor der entscheidende Ansatz. Sprich: Den Nutzwert gesunder Ökosysteme zu betonen. Es gelte, einen direkten Bezug zum Alltag der Menschen herzustellen, "zu den materiellen Bedürfnissen, zu Wirtschaft, Landwirtschaft und Sicherheit". Kurzum, "Naturschutz muss wirtschaftlich interessanter werden" - ohne freilich den Eigenwert und die Schönheit der Natur auszublenden.
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Hans Holzinger:
Wirtschaftswende.
Transformationsansätze und neue ökonomische Konzepte im Vergleich.
oekom Verlag, München 2024, 416 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-98726-102-2
Bruttonationalglück, Donut-Ökonomie, Postwachstumsökonomie, Postkapitalismus, Suffizienz-, Gemeinwohl- oder Wohlbefindensökonomie? Wer blickt eigentlich noch durch bei der Vielzahl alternativer ökonomischer Ansätze und Theorien, die in den letzten Jahren auf der Bildfläche erschienen sind? Und wie lassen sich diese einigermaßen systematisieren, um nicht komplett den Überblick zu verlieren? Dieser Aufgabe angenommen hat sich der Wirtschafts- und Sozialgeograph Hans Holzinger, der 30 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek in Salzburg tätig war. Mit seinem Buch möchte er "Konzepte und Entwürfe aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und in den Anfängen auch der Politik zur Diskussion stellen, die die Transformation zum Ziel haben". Das Buch behandelt die Lösungsansätze zum einen inhaltlich nach den Wende-Themen Ernährungswende, Unternehmenswende, Arbeitswende, Steuerwende, Finanzwende, Sozialwende, Konsumwende, Stadtwende, Mobilitätswende, Energiewende, Stoffwende, die sich zur titelgebenden "Wirtschaftswende" summieren. Systematisch unterscheidet Holzinger erstens Green-Growth-Konzepte (die ein "grünes Wachstum" anstreben), zweitens Degrowth-Ansätze (die Wachstum dämpfen, reduzieren oder die Wirtschaft vom Wachstum entkoppeln wollen) und drittens Postkapitalistische Ansätze (die mit ganz unterschiedlicher ideologischer oder ökonomischer Ausrichtung den Kapitalismus verändern oder überwinden wollen). Das Buch behauptet nun nicht, es gehe allein darum, das eine, richtige Modell auszuwählen und umzusetzen. Es versteht sich eher als Sammlung von Konzepten und Ideen als Grundlage und Anstoß für eine konstruktive Debatte. Eine andere Ökonomie ist möglich, das ist die Botschaft, die dem Paradigma der Gestaltung und Steuerbarkeit folgt.
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Michael Wunsch, Birgit Heilig:
Soziale Innovationen.
Lösungen, wie wir sie heute wirklich brauchen.
oekom Verlag, München 2023, 176 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-98726-047-6
Was soziale Innovation denn eigentlich sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was auch verständlich und nachvollziehbar ist, handelt es sich doch um ein relativ junges Forschungsfeld — und das verwundert mehr als das Vorliegen unterschiedlicher Definitionen. Denn die spiegeln unterschiedliche Perspektiven, die durchaus fruchtbar wirken können. Wenn sie deutlich gemacht werden. Genau hierin liegt das Problem des Buches von Michael Wunsch und Birgit Heilig. Darin präsentieren sie soziale Innovation als Gegengewicht zur technischen Innovation und möchten der immer noch vorherrschenden Technikfixierung etwas entgegensetzen. So weit, so gut. Beide sind Mitgründer und Mitgründerin des Netzwerks Social Entrepreneurship in Deutschland und haben sich in ihrer Arbeit dem Ziel verschrieben, Social Entrepreneurship als unternehmerische Variante von sozialen Innovationen in Deutschland voranzubringen. Dem folgt auch ihre Definition von sozialer Innovation als "Änderung des Verhaltens einer signifikanten Anzahl von Gesellschaftsteilnehmer*innen, um Strukturen und Systeme auf größere gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit neu auszurichten". Soziale Innovationen seien "eine sehr geeignete Antwort auf die Vielzahl an gesellschaftlichen Herausforderungen, denen die Menschheit gegenübersteht". Unter den Tisch fällt dabei jedoch, dass es unterschiedliche Konzepte von sozialer Innovation gibt - insbesondere ein breiter angelegtes, nicht-normatives, soziologisches Verständnis, das soziale Innovation nicht als Mittel zum Zweck begreift und mit Social Entrepreneurship identifiziert. Sondern als soziale Tatsache begreift, die es erst einmal zu verstehen gilt.
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Lars Hochmann, Sebastian Möller (Hg.):
Organisationen hacken.
Einfallstore in eine nachhaltige Arbeitswelt.
oekom Verlag, München 2024, 424 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-98726-085-8
Hacks haben es über ihren Entstehungskontext des Programmierens hinaus als simple, oft verblüffende Tricks zur Lösung von Alltagsproblemen bereits zu einiger Popularität gebracht. Bei der Masse an Hacks für diverseste Alltagsprobleme wird jedoch der Begriff beliebig. Die beiden Sozialwissenschaftler Lars Hochmann und Sebastian Möller beziehen in ihrem Buch Hacks auf Organisationen und liefern zugleich eine saubere allgemeine Definition: "Hacks sind kleine Tricks zur Problemlösung. Manchmal subversiv, immer jedoch kreativ und unkonventionell. Sie sind zielführend, arbeiten mit dem, was da ist, und zeigen idealerweise rasch Ergebnisse. Sie kürzen den Dienstweg ab, um pragmatische Lösungen für wahrgenommene Missstände zu erproben und im besten Fall langfristig zu etablieren. Sie bringen Neues in die Welt und brechen mit dem Alten." Kurz: "Hacks reformulieren das Mögliche." Hacks sind also kleine, unkonventionelle und kreative Problemlösungen, die genau zu dem besonderen Problemtypus passen, der die Krisen unserer Gegenwart auszeichnet: wicked problems, tückische Probleme. Herausforderungen also, "die nicht mehr auf rationale und konventionelle Art und Weise gemeistert werden können", eben weil es für sie "aufgrund ihrer Komplexität keine eindeutigen, endgültigen und risikofreien Lösungen gibt". Weil die notwendigen Transformationen von Wirtschaft und Gesellschaft im Angesicht der Vielfachkrisen der Gegenwart nicht rechtzeitig gelingen werden, setzen die Autoren auf die Veränderung von Organisationen. Das Mittel: Hacks im organisationalen Kontext, bezeichnet als "institutional hacking". Institutionelles Hacking ist eine Strategie des kreativen Regelbruchs, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und transformative Veränderungen zu ermöglichen." Zweifellos eine spannende und innovative Perspektive auf die Veränderung von Organisationen.
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Nina Keller:
Wilde Ecken für jeden Garten.
Natürlich gärtnern und wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen schaffen.
Gräfe und Unzer, München 2024, 192 Seiten, 22.99 Euro (D), ISBN 978-3-8338-8971-4
Der Titel ist Konzept: Wilde Ecken, das ist eine einfache und praktikable Idee für eine naturnahe Gartengestaltung, kleinteilig und ohne großen Aufwand umzusetzen, ohne gleich den ganzen Garten umzugestalten. "Mit wenig Aufwand können Sie ein Stück Natur in den Garten zurückholen", schreibt die Biologin Nina Keller. "In jedem Garten, egal ob klein oder groß, ob Nutz- oder Ziergarten, gibt es Platz für eine wilde Ecke." Eine Mini-Blumenwiese am Rande des Rasens, ein insektenfreundlich bewirtschafteter Gemüsegarten, eine bunte Blühhecke oder die Bepflanzung der Fugen der Gartenwege mit blühenden Kräutern sind Beispiele. Grundidee der wilden Ecke ist es, "die Natur in den Garten einzubeziehen und auf nachhaltige Praktiken zu setzen", und das bedeutet Verzicht auf schädliche Chemikalien, Pflege des Bodens und Förderung der Artenvielfalt durch Futterangebote und Nistmöglichkeiten. Es gehe nicht darum, eine kleine heile Welt zu erschaffen, baut die Autorin möglichen Einwänden vor, sondern darum, "ein starkes Netzwerk aus natürlichen Gärten und wilden Ecken" zu entwickeln: "Jede wilde Ecke verbindet sich mit anderen Biotopen zu einem größeren Lebensraum", erläutert sie. Kurzum: Wilde Ecken sind eine Mikro-Innovation für Zier-, Haus- und Nutzgärten, ein praxisnahes Konzept für angewandten Naturschutz vor der eigenen Haustüre - ein Garten-Hack, wenn man so will.
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