Was, wenn …?
Was, wenn wir Systeme so gestalten würden, dass sie die Teilhabe möglichst vieler ermöglichen? Das politische System zum Beispiel, die Demokratie. Oder Städte, sodass sie für die Menschen da sind statt für Autos. Vier aktuelle Bücher zeigen, wie es gehen könnte - und wo Diskriminierung und Ausgrenzung es verhindert. Eine Buchumschau.
Kunst, Design, Gestaltung. Das ist die verbindende Perspektive in der aktuellen Ausgabe des Buchmagazins pro zukunft. Es geht dabei um Kunst, Kultur und Museen, um Kunstraub und Kulturerbe, aber immer wieder auch um die Gestaltung von Systemen vor allem unter dem Aspekt, ob sie Menschen einschließen oder ausschließen, ob sie Teilhabe fördern oder sie verhindern. Aus den vorgestellten Büchern haben wir vier ausgewählt, genauer sind es vier Rezensionen und zwei Gedanken.
Wie organisieren wir unsere Demokratie am besten? Diese Frage geht Cristina Lafont in ihrem Buch Unverkürzte Demokratie nach. Emilia Roig kommt von der anderen Seite. Sie veranschaulicht Diskriminierung, indem sie die Überlagerung unterschiedlicher Dimensionen von Benachteiligung, Ausschluss und Unterdrückung deutlich macht. Sie folgt dabei dem Ansatz der Intersektionalität, der die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien beschreibt. Der Architekt Pablo Sendra und der Soziologe Richard Sennett zeigen Möglichkeiten auf, Städte so zu gestalten, dass sie eine lebendige, sich entwickelnde Gemeinschaft beherbergen können. Und sie sagen, was dazu erforderlich ist: die Gestaltung von Unordnung. Sandra Hofmeister schließlich widmet sich einem Beispiel, wo dies offenbar gelingt: Ihr Sammelband København zeigt, wie Städte aussehen könnten.
Aufgefallen sind uns ferner zwei Gedanken, die sich bezeichnenderweise ebenfalls in Büchern finden, die Kunst zum Gegenstand haben. Das spricht für den Ansatz, stets über den engeren Themenhorizont hinaus den weiten Blick zu suchen.
Der erste Gedanke ist dem Band What Can Art Do? entnommen, der die Ergebnisse eines transdisziplinären Forschungsprojekts zur künstlerischen Praxis vorstellt. Es geht um den Einwand "Ja, aber", der akzeptiert und zugleich neue Perspektiven öffnet: "Erst das Ja-aber ermöglicht uns die Ahnung und bestenfalls die Anerkennung anderer Perspektiven - und genau dieses Bewusstsein, dass es in jeder Situation nicht unbedingt nur eine richtige Möglichkeit/Erzählung gibt, ist nötig für eine Offenheit für Einwände und Argumente anderer." Doch vielfach gilt das „Ja, aber“ als Innovationskiller, als Feind alles Neuen. Ein Einwand, mit dem sich so ziemlich alles vom Tisch wischen lässt, was in Brainstormings, Meetings, Workshops an neuen Ideen zur Sprache kommt. Was denn nun? Es kommt auf den Kontext an und auf die Betonung. Darauf, ob das „Ja“ wirklich ernstgemeint ist oder die Betonung auf dem „Aber“ liegt. Wer mit „Ja“ die vorgestellte Idee akzeptiert, eröffnet mit „aber“ eine neue Perspektive. Wer hingegen das „Ja“ nur als Einstieg verwendet, das Gewicht indes auf das „Aber“ legt, blockt neue Sichtweisen ab. Eine Frage der Haltung, wenn man so will, oder der Grundeinstellung anderen gegenüber.
Der zweite Gedanke entstammt dem Buch zu der von Franziska Stöhr kuratierten interdisziplinären Ausstellung "Was, wenn …?", die sich mit dem Utopischen in Kunst, Architektur und Design beschäftigt und dabei einen spannenden methodischen Kunstgriff anwendet: "Die Utopie, so die These der Ausstellung, ist nicht das Ziel, sondern eine Methode." Die Möglichkeitsform des "Was, wenn …?" regt dazu an, sich alternative Realitäten vorzustellen.
Doch nun zu den Büchern.
Demokratie ohne Abkürzungen
Wie organisieren wir unsere Demokratie am besten? Diese Frage stellt sich die amerikanische Philosophin Cristina Lafont in ihrem aktuellen Buch Unverkürzte Demokratie. Demokratien sind weltweit unter Druck. Von Autokraten genauso wie von Bürgerinnen und Bürgern, die Zweifel haben, ob ihre formalen Mitgestaltungsmöglichkeiten auch wirklich wirksam sind. "Diese Rechte und Chancen scheinen nicht mehr hinreichend zu gewährleisten, dass Bürger auch wirklich die Möglichkeit haben, die Politik, der sie unterworfen sind, mitzugestalten und als ihre eigene zu betrachten", schreibt Lafont. Damit sich der politische Prozess wieder mehr nach den Interessen, Meinungen und politischen Zielsetzungen der Bürgerïnnen richten kann, sollen institutionelle Reformen die Möglichkeiten zur Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die die Politik wirklich beeinflussen, ausweiten.
Lafont beschäftigt sich mit vier Herangehensweisen, wie Demokratie gesehen werden kann. Aus der jeweiligen Sicht ergibt sich immer ein anderer Weg, die Demokratie zu stärken. Lafont hält mit ihrer Präferenz unter den vier Varianten nicht hinter dem Berg. Aber der Reihe nach.
Radikalpluralistische Ansätze sagen, dass politischer Dissens in demokratischen Gesellschaften allgegenwärtig ist und dass diese Meinungsunterschiede so fundamental seien, dass man nicht von ihrer Überwindbarkeit ausgehen kann. Deswegen plädieren Vertreterïnnen dieser Denkschule dafür, sich darauf zu konzentrieren, wie die eine oder andere Seite sich durchsetzt. Da Konsens nicht erwartet wird, muss der Entscheidungsprozess möglichst fair und transparent gestaltet sein. Wer sich in einem solchen Vorgang nicht durchsetzen kann, hat die Ergebnisse trotzdem zu akzeptieren. Lafont hat an dieser Stelle Bedenken: "Ungerechte Gesetze hinzunehmen oder die Mitgliedschaft in ihrem Gemeinwesen aufzugeben sind für Bürgerinnen und Bürger keine möglichen Wege zu mehr politischer Integration oder gar zur Annäherung an das politische Ideal der Selbstregierung."
Anders gehen Vertreterïnnen epistemischer Demokratiekonzeptionen an das Thema heran: Sie rücken nicht den Prozess in den Mittelpunkt, sondern das Ergebnis. Demokratie erscheint unterstützenswert, weil sie die besseren oder "wahren" Ergebnisse bringt. Probleme lassen sich gemeinsam vernünftig lösen, der demokratische Prozess ist dafür am besten geeignet. Demokratie ist legitim, weil sie eine höhere Qualität der Begründung ihrer Resultate liefert. Was aber, wenn sich die Auffassung durchsetzen sollte, dass Demokratie gar nicht die bestbegründeten Entscheidungen liefere? "Wir können Demokratie noch so minimalistisch definieren, es führt kein Weg daran vorbei, dass in einer Demokratie die Meinung der Bevölkerung, so unbegründet sie auch sein mag, einfach nicht übergangen oder ignoriert werden kann. Das gilt nicht nur, wenn die öffentliche Meinung möglicherweise richtigliegt, sondern ebenso (und noch mehr), wenn sie womöglich falschliegt. Denn diese öffentliche Meinung ist genau die Stimme, die gehört, einbezogen, in Frage gestellt und in geeigneter Weise verändert werden muss, damit bessere Gesetze und Regelungen auch nachhaltig politisch wirksam sind."
Drittens wendet sich Lafont den lottokratischen Ideen zu. Hier geht es zum Beispiel um Bürgerïnnenräte. Dabei wird eine übersichtliche Anzahl von Menschen ausgelost, die repräsentativ für die Bevölkerung sein sollen, um Entscheidungen zu treffen oder vorzubereiten. Die Theorie ist, dass diese Gruppen in ihrer Zusammensetzung die Gesellschaft widerspiegeln, und durch den Austausch untereinander "filtert" man die besten Argumente heraus. Das sind die "Spiegel-" und die "Filterthese". Lafont denkt das Modell durch. Wenn die Lösung in der Kleingruppe durch den intensiven Austausch miteinander erst entsteht (Filterthese), so haben sich die Teilnehmenden in dieser Zeit weiterentwickelt, haben Expertise aufgebaut. Wenn das aber so ist, dann repräsentieren sie aber mehr die Gesamtgesellschaft - was nach der Spiegelthese aber gefordert würde. Dann schrumpfe der Vorschlag auf eine spezielle Version der elitaristischen Auffassung der Demokratie zusammen, nämlich auf eine Form der Überantwortung an Expertïnnen. "Da deliberative Demokratiekonzeptionen aber die Rechtfertigung beider Thesen verlangen, vermag keine dieser beiden Argumentationen dem demokratischen Ideal der Selbstregierung gerecht zu werden."
Lafont hält politischen Dissens für unvermeidbar. Damit beginnt sie die Darstellung der vierten, ihrer, Option. Es geht ihr um die richtige Art und Weise, diverse Formen von Meinungsverschiedenheiten angemessen zu überwinden. Oft könnten in Debatten Fragen so strukturiert werden, dass sich divergierende Ansichten erklären und (langfristig) ausräumen lassen. Wichtig ist, dass sich die Bürgerschaft Mehrheitsentscheidungen nicht vorbehaltlos fügt, sondern die Möglichkeit hat, die Entscheidungen wieder infrage zu stellen, und die Mitbürgerïnnen gefordert sind, auf die Vorlage angemessener Gründe zu reagieren. Nur so könne erreicht werden, dass beschlossene Gesetze und Regelungen von den Bürgerïnnen als ihre eigenen begriffen werden. "Ohne eine Verpflichtung zur gegenseitigen Rechtfertigung sähen sich die Bürger einfach dem Zwang anderer ausgeliefert und würden sich dem politischen System entfremden."
Wie kann man sich aber in Debatten rechtfertigen, außer damit, dass man eine Mehrheit stellt? Hier führt Lafont mit John Rawls den Begriff der "öffentlichen Gründe" ein. Diese beruhen auf Werten und Idealen, die die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie bilden: dem Ideal, Bürgerïnnen als frei und gleich zu behandeln, und dem einer Gesellschaft als faires System der Kooperation. Mit der Schaffung dieser Kategorie führt sie eine Hierarchie der Argumente ein. Öffentliche Gründe haben Vorrang, lautet die Spielregel in der Diskussion.
Das Modell von Cristina Lafont ist herausfordernd und auch anstrengend. Aber dass es Demokratie ohne blinden Gehorsam nicht mit Abkürzungen gibt, hat die Autorin detailreich ausbuchstabiert. Von Stefan Wally
Dimensionen der Diskriminierung
Mit Why We Matter macht die Politologin und Gründerin des Center for Intersectional Justice, Emilia Roig, Unterdrückung in verschiedenen Bereichen sichtbar: zu Hause, in Schule und Universität, in den Medien, im Gerichtssaal, bei der Arbeit, im Krankenhaus, auf der Straße, im Körper der Frauen. Der eigene vielschichtige familiäre Hintergrund, ihre Lebenserfahrungen und ihre Arbeit befähigten Roig, die Mechanismen des neokolonialen, kapitalistischen, patriarchalen Systems zu dekonstruieren und ein anderes Narrativ zu artikulieren, das ihre eigene hybride Identität zu reflektieren und neue Systeme zu schaffen vermag. Das Besondere an diesem Buch ist Roigs tiefgehendes Verständnis der Intersektionalität. Sie hat diese Theorie bei deren Begründerin Kimberlé Crenshaw kennengelernt und daraufhin fast all ihre Studien darauf ausgerichtet. Schließlich konnte sie nun mit einem Begriff benennen, was es heißt, an mehreren Schnittpunkten von Diskriminierungssystemen verortet zu sein. Betroffene konnten nun sichtbar werden und aus dem rechtlichen und diskursiven Vakuum heraustreten. So zeigt das Buch Missstände in ihrer Historizität und in ihrem komplexen Wirken auf; theoretische Ansätze werden entlang von empathisch und klar dargestellten Alltagsbeobachtungen greifbar.
Der Titel lehnt sich an die Bewegung Black Lives Matter an, möchte aber viel weiter ausgreifen. Zum einen geht es nicht darum, die in der Hierarchie Höherstehenden von der eigenen Wichtigkeit zu überzeugen, denn Heilung kommt nicht von außen, sondern von innen: "‚Why we matter‘ ist eine Selbstbehauptung". Zudem meint das darin enthaltende "Wir" nicht allein Schwarze, sondern alle, die sich unterhalb der "Linie der Menschlichkeit" (nach Frantz Fanon) befinden: Diese Linie teilt die Menschen global in eine Hierarchie zwischen Über- und Unterlegenen. So wird die systemische Dimension von Rassismus und anderen Unterdrückungsmechanismen verständlicher. Unterschiedlichste Merkmale können entlang dieser Linie konstruiert und bestimmten Gruppen der Unterlegenheit zugeteilt werden. Nicht die existierenden Unterschiede seien also das Problem, sondern die mit ihnen verbundene Wertung.
Aber können diese über Jahrhunderte hinweg festgefahrenen Hierarchien aufgebrochen werden? Laut Roig hat der notwendige kollektive Bewusstseinswandel bereits begonnen. Frühere Befreiungsbewegungen waren zwar wichtige Meilensteine im Kampf für Gerechtigkeit, änderten aber nicht die zugrunde liegenden Hierarchien: Weiße Vorherrschaft, männliche Dominanz und Übermacht des Kapitals blieben in veränderter Form bestehen. Neue Bewegungen wie Fridays for Future, #MeToo und Black Lives Matter scheinen aber die Logik der Unterdrückung selbst zunehmend zu enthüllen und auf die gesamte gesellschaftliche Struktur abzuzielen. Die Erkenntnis und Kultivierung einer Verbundenheit aller Lebewesen vermag es, Grenzen aufzulösen. Die abschließenden Kapitel befassen sich mit dieser Reise zum Ende der Unterdrückung mit unbestimmtem Ausgang, die wir als Metamorphose verstehen können, bei der Chaos und Tod unvermeidlicher Teil des Prozesses sind. Letztlich wird "die Befreiung derjenigen, die nicht frei sind, (...) die Befreiung von uns allen sein". Von Clara M. Buchhorn
Infrastrukturen für Unordnung
Richard Sennett und Pablo Sendra zeigen in diesem Buch Möglichkeiten auf, wie sich Städte so gestalten lassen, dass sie eine lebendige, sich entwickelnde Gemeinschaft beherbergen können. Welche Basisformen braucht es dazu, was ist das Entscheidende, damit ein Ort seine Offenheit bewahrt und zur Entwicklung fähig ist? Schon in einem früheren Werk (The Uses of Disorder, 1970) beobachtete Sennett, dass Städte wie New York und London, getrieben von Kommerzialisierung, zu leblosen Orten wurden, in denen kaum Aktivitäten der Bürgerïnnen möglich waren und die starren und unnachgiebigen urbanen Formen nur marginal weiterentwickelt werden konnten. Er warnte vor einer Konzentration von Wohlstand, die die Vitalität einer Stadt auslöscht, Grenzen schafft und die Notwendigkeit, Dinge mit anderen zu teilen, hinfällig werden lässt. Damals konnte Sennett aufzeigen, wie sich New York durch nationale modernistische Entwicklungen einer Ordnung unterwarf, die das Stadtleben auslöschte. Obwohl sich der Maßstab heute verändert hat und die auferlegte Ordnung von einer globalisierten Immobilienindustrie geprägt wird, blieb es der Drang des Kapitalismus, die Stadt in ein kaufbares Produkt zu verwandeln und nicht in deren lebendige Entwicklung zu investieren.
Eine vitale und offene Stadt entsteht aber auch nicht auf natürliche Weise - das Planen von Unordnung ist notwendig, um improvisierte Aktivitäten und soziale Interaktionen zu ermöglichen. Als der spanische Architekt Pablo Sendra The Uses of Disorder las, beschloss er, zu untersuchen, welche urbanen Designs diese Arten von Unordnung ermöglichen, um eine ergebnisoffene Stadt zu konfigurieren.
Die vorliegende Zusammenarbeit zwischen dem Soziologen Sennett und dem Architekten Sendra greift die Ideen aus The Uses of Disorder auf und führt sie in aktuellen Überlegungen und praktischen Experimenten fort. Im ersten Teil reflektiert Sennett die Prinzipien einer offenen Stadt - die notwendige Durchlässigkeit, die Unvollständigkeit, die nichtlineare Entwicklung, welche Demokratie erfahrbar und möglich machen. Ähnlich zu Darwins Evolutionsgedanken definiert er ein offenes System als eines, in dem Wachstum Konflikte und Dissonanzen zulässt. Denn eine statische Umwelt hat keinen dauerhaften Bestand, Biodiversität dagegen befähigt zu überlebensnotwendiger Veränderung.
Die heutigen Städte sind sehr groß und zugleich voller Menschen unterschiedlichster Herkünfte, Hintergründe und Lebensentwürfe. Wie kann Demokratie gelebt werden, wenn persönliche Begegnung aufgrund solcher Größe kaum mehr möglich ist? Sennett plädiert für einen demokratischen Raum, der ein Forum für das Unbekannte schafft, wo Menschen interagieren und sich sozial und physisch verbunden fühlen können, auch ohne einander zu kennen.
Im zweiten Teil zeigt Sendra, wie Design in der Praxis offener und kollektiver werden kann, und schildert Erfahrungen mit verschiedenen Projekten. Seine "Infrastrukturen für Unordnung" befassen sich nicht allein mit der Gestaltung technischer, sondern auch mit sozialer und kultureller Infrastruktur, die stets miteinander in Beziehung stehen. Er erprobt das Einbringen neuer Komponenten in geschlossene Systeme, um sie zu öffnen. Das können Zugänge im öffentlichen Raum sein, etwa Trinkwasserzugang für Gemeinschaftsküchen oder die Verfügbarkeit von Strom für verschiedene Initiativen. Für erweiterte soziale Interaktion können auch kollektiv gemanagte Initiativen entwickelt werden, wie gemeinschaftliche Solarpaneelen oder eine Vorrichtung zum Sammeln und Nutzen von Regenwasser. So entstehen mehr Transparenz und kollektives Bewusstsein über Verfügbarkeit, Funktionsweise, Bedarf und Begrenztheit örtlicher Ressourcen. Die Gesamttransformation der Infrastruktur verfolgt die Idee eines deregulierten Raumes, in dem Bewohnerïnnen erst durch die Erfahrung von Verschiedenheit, durch die Begegnung unerwarteter Situationen, durch die Notwendigkeit, mit anderen zusammenarbeiten und verhandeln zu müssen, eine "adult identity" bilden können. Es gilt: "We’re talking about building infrastructure in public spaces that could look very ordered; but it’s what they provoke that matters: disorder."
Im abschließenden Gespräch werden die einander inspirierenden Positionen von Sendra und Sennett nochmals lebendig; es thematisiert den aktuellen Kontext, die soziale und politische Bedeutung von Architektur sowie die Probleme von Überwachung und Trennung in den Städten. Sennetts Ansatz ist ein vehementer Gegenentwurf zu der Angst vor Fremdem und zu Überwachungsmethoden. Menschen sollen sich versammeln können, egal wie schwer kontrollierbar dies sein mag. Nur wenn mehr Interaktion stattfinden kann, können Konflikte ausgestanden, Sichtweisen verändert und kann die Angst vor dem Unbekannten überwunden werden. Im Städteplanen kommt daher dem Experimentieren eine wichtige Rolle zu, da es zwischen bewusstem Design und einer Offenheit für Unordnung zu balancieren erlaubt. Von Clara M. Buchhorn
Stadt für die Menschen
Die Stadtregierung von Kopenhagen hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Als erste Hauptstadt weltweit soll Kopenhagen bis 2025 CO2-neutral werden. Bekannt ist die Hafenstadt nicht zuletzt durch ihre Fahrradfreundlichkeit. 63 Prozent aller Stadtbewohnerïnnen nutzen das Rad für den Weg zum Arbeitsplatz, zur Schule oder zum Ausbildungsort. Vier von fünf Haushalten besitzen Fahrräder. Auf jedes Auto kommen in Kopenhagen 5,6 Räder - Tendenz weiter steigend. Die großzügigen Radwege in der Stadt sowie die mehrspurigen Radstraßen zum Pendeln aus dem Umland machen Kopenhagen in der Tat zur Fahrradhauptstadt.
Dass Kopenhagen auch im Bereich der Architektur dem Motto "Stadt für die Menschen" verpflichtet ist, zeigt der von Sandra Hofmeister herausgegebene Band København, der von urbaner Architektur und öffentlichen Räumen handelt. Vorgestellt werden darin häufig multifunktionale Gebäude für gemeinschaftliche Zwecke: Bildungs- und Kulturhäuser, Schulen, Jugend- und Stadtteilzentren, innovative Wohnanlagen sowie öffentliche Plätze, die von Autos befreit und den Stadtbewohnerïnnen zurückgegeben wurden. Die porträtierten Objekte beeindrucken durch architektonische Ästhetik - Formen und Farben werden gezielt eingesetzt - ebenso wie durch ihre Funktionalität und einer dem Ziel der Klimaneutralität entsprechenden nachhaltigen Bau- und Nutzungsweise. Auffallend ist der große Wert, den die Stadt auf die Qualität öffentlicher Räume, etwa durch neue Platzgestaltungen und Treppenbauten - "Stufen als Treffpunkt" - sowie auf Freizeitanlagen legt, wie die neu geschaffenen Freibäder und Badestrände in Hafenarealen illustrieren: seit den 1980er-Jahren ist das Meer wieder zum Baden geeignet.
Als ehemaliger Industriestandort mit großen Hafenanlagen stand Kopenhagen vor der Herausforderung, die Transformation zum Dienstleistungszentrum baulich zu bewältigen. Die Stadtplanung nahm dies als Chance an, die frei werdenden Areale in hochwertiger Lage neuen Nutzungen zuzuführen. Neubauten ergänzen dabei alte Bausubstanz. Interessant ist der Finanzierungsmodus. Die Planungsgesellschaft der Stadt schreibt Projekte und Grundstücke aus, die an Architektur- und Planungsbüros mit Auflagen vergeben werden - ökologische Kriterien spielen hier ebenso eine Rolle wie die Beteiligung der Anwohnenden an Entwicklung und Umsetzung der Bauvorhaben. Mit dem Verkauf von Grundstücken werden die nötigen Infrastrukturen, wie neue U-Bahn-Trassen, sowie die Gestaltung der öffentlichen Plätze finanziert. Neues Land wird durch Aufschüttungen aus dem Aushub von Tiefbauten gewonnen.
Der Architekturband bietet einen bunten Reigen an Bau- und Infrastrukturprojekten, untergliedert in die Abschnitte "Öffentliche Räume", "Sport und Freizeit", "Kultur und Bildung" sowie "Wohnen" und ergänzt mit thematischen Essays und Interviews mit Architektinnen und Architekten. Stellvertretend sei Dan Stubbergaard vom Architekturbüro COBE zitiert, der im Gespräch mit Sandra Hofmeister treffend von der "Stadt als Wohnraum" spricht.
Vorrang haben in Kopenhagen der öffentliche Verkehr mit einem hervorragenden, modernen U-Bahn-System sowie der Radverkehr: Die auf Stelzen gebauten Radwege und -brücken sind zum neuen Wahrzeichen der Fahrradstadt geworden. Ein 2019 fertiggestellter U-Bahn-Ring mit 17 modernen Haltestellen sowie der neue Bahnhof Nørreport sind ebenso eindrucksvoll. Im Entwicklungsgebiet Nordhavn mit dichter Mischnutzung wurden die Parkflächen für das Wohn- und Gewerbegebiet in einem achtstöckigen Parkhaus am Hafen geschaffen, das zugleich zahlreiche Fahrradabstellplätze, einen Supermarkt und eine Recyclingstation sowie - auf dem Dach - einen Skater- und Spielpark mit Ausblick aufs Meer umfasst. Aus einem "innerstädtischen Unort und Parkplatz" wurde der "Israels Plad", der öffentliche Aufenthaltsinseln mit einem von angrenzenden Schulen wie der Bevölkerung genutzten Sportplatz verbindet. Die Autos sind nicht verschwunden, sondern fahren in die darunter liegende Tiefgarage. Dass wohnungsnahe Freizeitangebote von der Stadtplanung besonders bedacht werden, zeigt auch das "Aktivitetshus" als "Treffpunkt für alle Generationen", das Jugendzentrum, Café, Gymnastik-, Computer- und Lernräume bereithält. Das Dach des Gebäudes wird auch hier genutzt: für einen Basketballplatz.
Als gelungenes Beispiel der Integration von neuen Wohnbauten in historisches Ambiente gilt der Krøyers Plads im Viertel Christianshavn mit den dominierenden Ziegeldächern der historischen Lagerhallen. Dass Neubauten auch andere Möglichkeiten des Zusammenwohnens ermöglichen, zeigt das Projekt "Lange Eng Cohousing", in dem Wohneinheiten mit Gemeinschaftseinrichtungen wie einer Gemeinschaftsküche, einer Bibliothek und einem Kino verbunden sind. Die Architektin Dorte Mandrup wünscht sich (auch für Kopenhagen) "definitiv viel mehr Gemeinschaftsaktivitäten und gemeinsame Lebensräume" sowie mehr "Verdichtung im kleinen Maßstab". Zahlreiche Kultur- und Bildungszentren werden im Band vorgestellt, darunter die neue Stadtbibliothek sowie das Open-Air-Ensemble Musiktorvet oder die Copenhagen International School im Stadtteil Nordhavn, eine der größten Schulen in der dänischen Hauptstadt. Ihre architektonische Besonderheit: Die Außenhülle besteht aus 12.000 Fotovoltaikpaneelen, die mehr als die Hälfte des Jahresstrombedarfs der Schule decken. Ein äußerst inspirierender, mit zahlreichen Farbbildern versehener Band, der zeigt, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte - wenn eine vorausschauende und nicht allein an kommerziellen Verwertungsinteressen ausgerichtete Stadtplanung am Werk ist. Bleibt die Frage, wie sich Kopenhagen gegen den bevorstehenden Meeresspiegelanstieg wappnen wird. Dafür gibt es wohl auch bereits Pläne. Von Hans Holzinger
Zitate
"Erst das Ja-aber ermöglicht uns die Ahnung und bestenfalls die Anerkennung anderer Perspektiven - und genau dieses Bewusstsein, dass es in jeder Situation nicht unbedingt nur eine richtige Möglichkeit/Erzählung gibt, ist nötig für eine Offenheit für Einwände und Argumente anderer." Aus dem Buch What Can Art Do?
"Die Utopie … ist nicht das Ziel, sondern eine Methode." Aus dem Ausstellungsband Was wenn …?
"We’re talking about building infrastructure in public spaces that could look very ordered; but it’s what they provoke that matters: disorder." Pablo Sendra, Richard Sennett: Designing Disorder
"Im Städteplanen kommt daher dem Experimentieren eine wichtige Rolle zu, da es zwischen bewusstem Design und einer Offenheit für Unordnung zu balancieren erlaubt." Clara M. Buchhorn in der Rezension zu Designing Disorder von Pablo Sendra, Richard Sennett
changeX 21.09.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Quellenangaben
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© Coverabbildungen: Verlage Suhrkamp, Aufbau, Verso, Detail
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Fundstellen der Zitate: Unverkürzte Demokratie: 13, 102, 159, 196, 344; Why We Matter: 356, 369; Designing Disorder: 72; København : 48, 55, 279
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Die zwei Zitate im Vorspann entstammen den folgenden beiden Büchern: Nina Bandi u.a.: Wat can art do?, Diaphanes Verlag, Zürich 2020 sowie Neues Museum - Staatliches Museum für Kunst und Design Nürnberg: Was wenn …?, Verlag für moderne Kunst, Wien 2020
Zu den Büchern
Cristina Lafont: Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 447 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-518-58764-5
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Emilia Roig: Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung. Aufbau Verlag, Berlin 2021, 397 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-351-03847-2
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Pablo Sendra, Richard Sennett: Designing Disorder. Experiments and Disruptions in the City. Verso Books, London 2021, 160 Seiten, £14.99, ISBN 978-1-788737807
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Sandra Hofmeister (Hg.): København. Urbane Architektur und öffentliche Räume. Detail Verlag, München 2021, 298 Seiten, 52.90 Euro (D), ISBN 978-3-955535315
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Autor
Clara BuchhornClara Buchhorn ist freischaffende Grafikdesignerin und Kulturjournalistin. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für proZukunft, das Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg.
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Hans HolzingerHans Holzinger war Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg. Heute im Ruhestand schreibt er weiter für pro Zukunft, das Buchmagazin der JBZ.
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Stefan WallyStefan Wally ist Geschäftsführer der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg und schreibt als Rezensent für das pro zukunft-Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek.
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