Auf groteske Weise verengt
Arbeit als paradox zu bestimmen, bedeutet nicht, jede Paradoxie der Arbeit fraglos stehenzulassen. Zumal, wenn es sich um ihre wohl folgenreichste handelt: die groteske Einengung auf Erwerbsarbeit. Auf Arbeit, die auf dem Markt angeboten und entlohnt wird. Hinzu kam eine weitere Verengung: Arbeit als herstellende Tätigkeit. Zwischen Mensch und Objekt. Produktivismus. So wird alles andere Tätigsein in die Nicht-Arbeit abgedrängt. Haus- und Sorgearbeit vor allem. Mit der Industrialisierung in Erz gegossen, wirkt dieses verengte Verständnis von Arbeit bis heute nach.
Unsichtbare Arbeit. Dieser Begriff bezeichnet Arbeit, die nicht gesehen wird. Weil sie im herrschenden Verständnis von Arbeit ausgeblendet bleibt. Das betrifft die vor allem von Frauen geleistete Haus- und Sorgearbeit. "Care-Arbeit" ist das Stichwort in der aktuellen Debatte. Die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit im Zuge der Industrialisierung ist wohl die grundlegendste und folgenreichste Paradoxie der Arbeit. Denn dadurch wurden Tätigkeiten, die zuvor ganz selbstverständlich als Arbeit gegolten hatten, nicht mehr als solche anerkannt. Sie fielen raus. Und rutschten ab in eine Dunkelzone im Schatten des dominanten Arbeitsbegriffs.
Unklar bleibt indessen, wie genau, wann und geleitet von welchen Ideen es zu dieser folgenreichen Verengung des Verständnisses von Arbeit kam. Dem soll im folgenden Beitrag - vor allem anhand der grundlegenden Arbeit des Sozialphilosophen Axel Honneth - nachgegangen werden. Doch bevor wir ins Thema einsteigen, ist es sinnvoll, in ganz knapper Form die Geschichte der Arbeit zu rekapitulieren. Dies war Thema des Essays "Endlos oszillierend", die Essenz ist in den folgenden zwei Absätzen zusammengefasst. Zwei Dinge sind demnach wirklich bemerkenswert an der Geschichte der Arbeit.
Zum einen, dass sich ein allgemeiner, abstrakter Begriff von Arbeit herausgebildet hat, der ganz unterschiedliche Arten von Arbeit umfasst. Oder genauer, dass sich überhaupt ein solch allgemeiner Begriff herausbilden konnte. Denn die Tätigkeiten, die darunter eingeordnet werden, unterscheiden sich meist grundlegend. So ist es nicht verwunderlich, dass ein solch abstraktes Verständnis von Arbeit sich erst spät und längst nicht überall herausgebildet hat. So war noch im antiken Griechenland ein allgemeiner Arbeitsbegriff unbekannt. Die Menschen damals hätten es wohl als widersinnig empfunden, so unterschiedliche Beschäftigungen wie die von Bürgern, Handwerkern, Bauern und Sklaven in einen Topf zu werfen, von Menschen also, die ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen angehörten. Auch indigene Kulturen kannten zwar Benennungen für bestimmte, konkrete Arbeiten, eine "verallgemeinerte Bezeichnung", die unterschiedliche Tätigkeiten "unter einem abstrakten Begriff von Arbeit zusammenfasste, existierte jedoch nirgends", schreibt die Historikerin Andrea Komlosy, Professorin in Wien.
Zum anderen veränderte sich der Gehalt des Begriffs im Lauf der Geschichte. Arbeit konnte sich in einem langen Prozess vom Stigma der Geringschätzung befreien und zu einer positiven Idee emanzipieren. Also das, was an konkretem Tun unter dem allgemeinen Begriff eingeordnet wurde. Im Zuge dieser emphatischen Aufwertung von Arbeit bildete sich zunächst ein breites, umfassendes Verständnis von Arbeit heraus, das wertschöpfende und schöpferische Tätigkeiten gleichermaßen mit einschloss. Arbeit war Tun. Dazu gehörten selbstredend auch die vielfältigen Arbeiten in Haus und Hof. Mit dem Beginn der Industrialisierung und der Durchsetzung des Kapitalismus verengte sich dieses breite, umfassende Verständnis von Arbeit jedoch wieder. Arbeit wurde zunehmend (und bald ganz) mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt. Mit dem Tausch "Arbeit gegen Entgelt" auf dem Markt. Als Arbeit zählte nur noch, was als Erwerbsarbeit marktförmig angeboten und entlohnt wurde. Zugespitzt: Arbeit = Erwerbsarbeit. Dieser verengte ökonomische Begriff entwickelte sich zum herrschenden Modell mit gesellschaftsprägender Kraft: Das Konzept der Erwerbsarbeit wurde das Arbeitsmodell der Industriegesellschaft. Damit konnte sich beinahe weltweit ein dominantes Muster durchsetzen, das andere Formen von Arbeit in den Hintergrund drängte.
Der Pferdefuß an dieser engen ökonomischen Definition: Der neue, auf Erwerbsarbeit beschränkte Begriff schloss eine ganze Reihe von Tätigkeiten aus, die bislang ganz selbstverständlich als Arbeit gegolten hatten. Das betraf vor allem die von Frauen geleistete Arbeit in Haus, Küche, Stall, auf dem Feld, die Sorge für Familie und Kindererziehung, die Pflege von Angehörigen bei Krankheit und im Alter und nicht zuletzt auch die Organisation des Haushalts. All das erfasste der enge Arbeitsbegriff nun nicht mehr. "Eine enge Definition von Arbeit als bezahlte Erwerbstätigkeit drängt unbezahlte Haus- und Subsistenztätigkeit in die Nicht-Arbeit ab", so Andrea Komlosy in ihrem Buch Arbeit (2014).
Der herrschende Arbeitsbegriff lässt nicht genug Raum für all die Arbeit, die getan wird. Gegen diesen verengten Begriff von Arbeit wendet sich seit ihrem Entstehen die emanzipatorische und feministische Bewegung, deren Kritik sich zunächst auf unbezahlte Hausarbeit, später dann auf die mangelnde Anerkennung von Care- oder Sorgearbeit fokussierte. Der Kampf um Frauenrechte ist immer auch ein Kampf für die Anerkennung von Frauen geleisteter Arbeit - und zugleich ein Definitionskampf um den Begriff von Arbeit. Dies unterstreicht, wie sehr "Arbeit" tatsächlich ein Konstrukt ist. Und es mahnt zur Vorsicht beim Umgang mit abstrakten, allgemeinen Begriffen - vor einer deduktiven Denkrichtung also, die vom Allgemeinen zum Besonderen führt. Das als Vorwarnung.
Die folgenreiche Verengung des Arbeitsbegriffs
Nur - wie kam es zu dieser Verengung des Arbeitsbegriffs? Wann genau? Und welche Ideen trieben diese Entwicklung voran? Klar ist, dass diese Verengung ungemein wirkmächtig war - und bis heute kaum in Gänze verstanden ist. Denn was gesellschaftlich gesehen und anerkannt wird, bleibt natürlich nicht folgenlos. Wenn das, was Frauen hauptsächlich (oder neben einer Erwerbsarbeit) tun, nicht als Arbeit oder jedenfalls nicht als vollwertige Arbeit anerkannt ist und nicht bezahlt wird, dann hat das Konsequenzen, auch auf individueller Ebene. Die Bandbreite reicht von stigmatisierenden Sprüchen - "das bisschen Hausarbeit" etwa - bis hin zu Einbußen beim Arbeitseinkommen und Rentenansprüchen infolge minderer Bezahlung. Ganz abgesehen davon, dass die von Frauen geleistete unbezahlte Arbeit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zum Trotz nicht in die Berechnung gesamtwirtschaftlicher Wertschöpfung einfließt, ins Bruttoinlandsprodukt zum Beispiel. So schreibt die emeritierte Soziologieprofessorin Maria Rerrich exemplarisch: "Erst die nicht bezahlte Care-Arbeit in den privaten Haushalten beziehungsweise die unterbezahlte Care-Arbeit in den typischen Frauenberufen wie Erzieherin oder Altenpflegerin halten die Gesellschaften am Laufen. Mehr noch: Sie stellen die Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft dar." Tragen aber wie gesagt nicht zum BIP bei.
Umso mehr stellt sich die Frage, wie und wann es zu dieser folgenreichen Verengung des Arbeitsbegriffs kam. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Antwort hängt vom gewählten Zugang ab, von der Perspektive. Die aktuelle Literatur zum Thema Care sowie die ältere feministische Literatur suchen die Erklärung in der traditionellen Unterordnung der Frau unter den Mann. Im Patriarchat, dessen Wurzeln sich historisch weit zurückverfolgen lassen - bis in die Anfänge unserer abendländischen Kultur. Schon Aristoteles traf eine fundamentale Unterscheidung der Geschlechter, resümiert Eva Maria Volland, frühere Münchner Stadträtin und Dozentin für Frauengeschichte, in einem Interview: "Dem Mann ordnete er den Verstand und den öffentlichen Bereich zu, der Frau das Gefühl und das rein Private. Im Häuslichen durfte sie wirken und dienen, aber auch dort herrschte der besitzende Mann." In dieser antiken Vorstellung wurzelt das tradierte Bild der Frau, die als sorgendes, dienendes, häusliches Wesen dem Mann untergeordnet ist.
Das Patriarchat ist die gängige, die naheliegende Erklärung für die Diskriminierung von Frauen geleisteter Arbeit. Offen bleibt dabei freilich, wie genau dieses Rollenmodell, das bei Aristoteles bereits angelegt war, Eingang in die ökonomische Theorie fand und so prägende Wirkung für die Modernisierung des Arbeitsbegriffs und damit für die Ausgestaltung der Arbeitsgesellschaft entwickeln konnte. Dies vollzog sich im Zuge der Industrialisierung, die beinahe alle Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft erfasste. Mit der neuen Produktionsweise brach sich ein Verständnis Bahn, nach dem Arbeit zuallererst als herstellende Tätigkeit begriffen wurde. Eine Dominanz güterproduzierender Tätigkeiten machte sich breit. Dies legt nahe, dass bei der Verengung des Arbeitsbegriffs unterschiedliche Wirkkräfte zusammengespielt haben. Gefragt ist somit eine Erweiterung der Perspektive über das Patriarchat hinaus.
Eine kurze Ideengeschichte der Arbeit
Eine solche Perspektiverweiterung bietet der Sozialphilosoph Axel Honneth, der in einem Aufsatz die Geschichte der historischen - und folgenreichen - Verengung des Arbeitsbegriffs rekonstruiert hat. Diesen 2021 in einem Sammelband erschienenen Buchbeitrag hat er bald darauf als Exkurs in sein Buch Der arbeitende Souverän (2023) aufgenommen. Als Exkurs, weil es darin nicht um das Buchthema Wirtschaft und Demokratie geht. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine Rekonstruktion der Neubestimmung des Arbeitsbegriffs in der entstehenden Industriegesellschaft - und das ist extrem lehrreich. Nicht nur für den Zweck, den Honneth verfolgt, nämlich einen tragfähigen Begriff von Arbeit zu gewinnen, um auf dieser Grundlage das Verhältnis von Wirtschaft und Demokratie neu zu bestimmen. Lehrreich ist diese Rekonstruktion auch für die Bestimmung der Bedeutung von Arbeit in unserer Gesellschaft wie für die Frage, warum Frauen sich seit jeher an etwas abarbeiten, das in der Tradition der ökonomischen Lehre nicht als Arbeit gilt: Haus- und Sorgearbeit.
Honneth wählt einen ideengeschichtlichen Zugang, sucht also im Denken führender Philosophen und politischer Theoretiker vergangener Jahrhunderte nach Spuren der beschriebenen Neukonfigurierung des Arbeitsbegriffs. Und er kontrastiert diese Ideen mit der Arbeitswirklichkeit, wie sie sich im Strukturwandel der Gesellschaft spiegelt. Die Untersuchung konzentriert sich dabei nicht allein auf die von Frauen geleistete Haus- und Sorgearbeit, sondern nimmt in einer breiteren Perspektive Dienstleistungen insgesamt in den Blick. Und damit die Masse von Dienstboten, Knechten und anderen in Abhängigkeit lebenden Beschäftigten, die bürgerliche Haushalte, Guts- und Bauernhöfe, Werkstätten und Gastwirtschaften am Laufen hielten - von den Höfen der Adeligen mit ihrem breitgefächerten Personal ganz zu schweigen.
Dies korrigiert nicht nur die einseitige Perspektive der Geschichtswissenschaft, die diese dienende Klasse weitgehend ausgeklammert und vernachlässigt hat, sondern lässt auch das Bild einer rapiden Industrialisierung in einem anderen Licht erscheinen. Von einer bereits entwickelten Industrie, wie es die Protagonisten der Industrialisierung darzustellen versuchten, konnte oft keine Rede sein. Denn lange Zeit noch war die Mehrzahl der Beschäftigten als Bedienstete tätig, im Dienstleistungssektor also im heutigen Sprachgebrauch. Honneth entwirft das Bild eines sich selbst als industriell imaginierenden Kapitalismus - einer Wirtschaft also, die industriell sein wollte, faktisch aber (von den konkreten Produktionsbedingungen her gesehen) noch weit davon entfernt war. Es lohnt sich, diese Rekonstruktion genauer anzusehen. Hier der ideengeschichtliche Abriss Honneths referiert, zusammengefasst und interpretiert.
Ein erstaunlich enger Begriff
"Überraschenderweise findet ‘Arbeit’ zunächst nur in einer erstaunlich engen Fassung Eingang in die moderne Gesellschaftstheorie", schreibt Honneth. Den Anstoß zu dieser Verengung des Arbeitsbegriffs gab der englische Arzt und Philosoph John Locke (1632-1704), der als Vordenker der Demokratie und als Begründer des Liberalismus gilt. Seinen Ausgangspunkt bildet der Versuch, die Rechtmäßigkeit von Eigentum zu begründen. In seinem wohl einflussreichsten Werk Two Treatises of Government (deutsch: Zwei Abhandlungen über die Regierung), das als ein zentrales Dokument des politischen Denkens des 17. Jahrhunderts gilt, leitet er den Anspruch auf Eigentum aus der geleisteten Arbeit ab. Denn diese, so sein Argument, füge durch Formung einem Gegenstand etwas hinzu und schaffe so einen zusätzlichen Wert. Diese Definition war folgenreich, denn sie beinhaltet eine gravierende Einschränkung. Honneth: "Nahezu unmerklich fließt in diese Grundlegung der Arbeitswerttheorie, die beinah zweihundert Jahre später auch Marx noch als Vorbild dienen sollte, eine Vorstellung von ‘Arbeit’ ein, die daran ausschließlich den Aspekt der Verfertigung oder Umgestaltung eines Objekts in den Blick nimmt". Hingegen werden "alle Verrichtungen, die einem solchen Muster nicht folgen, die also nicht in der formierenden Herstellung eines Produkts münden, … aus der Definition ausgeschieden, so dass jedes Dienen, Sorgen und Liefern nicht als Arbeit im eigentlichen Sinn betrachtet werden kann."
Hinzu kommt, dass Lockes Vorstellung von Arbeit in keiner Weise die Arbeitswirklichkeit der damaligen Zeit widerspiegelt. Die "Ungeheuerlichkeit von Lockes Arbeitsbegriff", so Honneth, falle sofort ins Auge, wenn man sich die Beschäftigungsverhältnisse seiner Zeit vor Augen führe. Im England des 17. Jahrhunderts waren die meisten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und im Handwerk tätig. Gleichzeitig standen unzählige Frauen und Männer im Dienste anderer: als Köchin, Bote oder Kutscher, als Amme, Hausmädchen oder Gärtner, Knecht oder Dienstmagd. Sie alle fallen bei Locke unter den Tisch, ihre Tätigkeiten gehen nicht ein in seinen Arbeitsbegriff. "Wie selbstverständlich lässt er all diese dienenden Verrichtungen nicht als ‚Arbeit‘ gelten, obwohl sie für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Lebens von nicht geringerer Bedeutung sind wie die produzierenden Tätigkeiten." Lockes Arbeitsbegriff ist reine Deduktion, er bestimmt begrifflich-philosophisch, was als Arbeit gelten soll, tut dies aber weitgehend unabhängig davon, was die meisten Menschen in der damaligen Zeit arbeiten. Dennoch prägt Lockes verengte Definition immer noch den Arbeitsbegriff in der heutigen Zeit. Denn sie wurde übernommen, adaptiert, weitergegeben.
Lockes Vorlage schloss sich auch Adam Smith (1723-1790) an. Trotz anfänglicher Bedenken. Zunächst nämlich hantierte Smith mit zwei unterschiedlichen Bestimmungen von Arbeit. Einerseits verstand er darunter alle Tätigkeiten, die der Bevölkerung einen erwünschten Nutzen verschaffen. Zum anderen folgte er Locke und verstand unter Arbeit nur das, was einen "produktiven" Beitrag zur Wohlstandsmehrung leistet. Smith entschied sich für diese zweite Variante. Und das, obwohl er sehr wohl sah, welche bedeutende Rolle Dienstleistungen in privaten Haushalten und im öffentlichen Leben tatsächlich einnehmen.
Dies spiegelt sich nicht nur im privaten Lebens des schottischen Philosophen, der nie heiratete, immer bei seiner Mutter lebte und sich von dieser versorgen ließ. Die wachsende Bedeutung von Dienstleistungen ist auch Ausdruck der soziodemografischen Veränderungen jener Zeit. Denn mit dem wachsenden Reichtum der adeligen und bürgerlichen Klassen wuchs "das Heer des Dienstpersonals in den Küchen, Gärten, Ankleidezimmern und Ställen rasant" und machte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast die Hälfte aller Beschäftigten in ganz Europa aus. Smith sieht zwar diese nicht mit dem Produzieren beschäftigten Massen, so Honneth, "wertet aber ihre Leistung massiv ab". Aus seiner Sicht sind diese dienenden Tätigkeiten von sekundärer Bedeutung für den gesellschaftlichen Wohlstand. Eben weil sie nicht mit der Fertigung eines Produkts befasst sind, sondern nur mit der Erbringung mehr oder weniger nützlicher Dienste. Hier scheint wieder die unterschiedliche Bewertung von produzierenden und dienenden Tätigkeiten durch.
Im 19. Jahrhundert gewannen gerade diese dienenden Tätigkeiten weiter an Bedeutung. Häusliche Dienstleistungen bildeten in England um 1900 die zahlenmäßig größte Kategorie im Beschäftigungssystem. Zu einer Korrektur des einseitigen Arbeitsbegriffs kam es jedoch nicht. "Wer angesichts des enormen Anstiegs der Dienstleistungen im 19. Jahrhundert (…) nun erwartet, dass der vorherrschende Begriff der Arbeit an diese Realität angepasst werden würde, wird schnell eines Besseren belehrt."
Formierendes Tun, Produktivismus und Reproduktionsarbeit
Das Gegenteil passiert. Der expandierenden Anzahl der Dienstleistungsbeschäftigten zum Trotz erklärt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) "formierendes Tun" geradezu zum Wesensmerkmal des Menschen, da dessen arbeitendes Bewusstsein hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins seiner selbst gelange. Formierendes Tun wird überhöht, andere Arbeit herabgewürdigt. Und obwohl Hegel selbst Dienstboten beschäftigte, sind ihm die Dienstleistungen in privaten Haushalten noch nicht einmal eine Erwähnung wert. Wirkliche Arbeit "ist für Hegel erst und nur das herstellende Tun des Handwerkes oder des industriell tätigen Produzenten", schreibt Honneth.
Obwohl die Ausweitung von Handel, Verkehr und Finanzen neue Formen des Wirtschaftens und der betrieblichen Organisation hervorbrachte und die damit Beschäftigten nicht mit der Fertigung von materiellen Produkten befasst waren, fand das in der Lehre von Karl Marx (1818-1883) keine Berücksichtigung. Marx übernimmt von Hegel die Idee der Verdinglichung und schneidet den Arbeitsbegriff "erneut ausschließlich auf die Fabrikation von Gegenständen zu". Und auch Marx schließt Dienstleistungen als bloße externe Faktoren komplett aus, "obwohl diese doch für die Verfertigung von Gebrauchsgegenständen eine unerlässliche Voraussetzung bilden", wie Honneth feststellt. Marx, der die Philosophie (Hegels) vom Kopf auf die Füße stellen wollte, hatte dabei wohl vor allem das abstrakte Denken in dialektischer Form im Sinn, nahm es aber mit den Dingen, der Empirie, aber nicht so genau. Schaute nicht hin oder nicht genau genug.
Marx interessierte sich für das Eigentum an Produktionsmitteln und die Entstehung von Mehrwert bei der Produktion von Waren. Die Tätigkeit des Unternehmerischen hingegen bekam er nicht in den Blick, ebenso wenig die ganz konkrete Arbeit in den kapitalistischen Betrieben. Was als Arbeit getan wurde, sah er als entfremdet und durch und durch vom Kapitalismus geprägt, den es als Voraussetzung jeglicher Verbesserung der sozialen Lage zu beseitigen galt. Die von Frauen geleistete Arbeit in Haushalt, Küche, Hof und Familie fiel dabei komplett raus - obwohl Marx mit dem Begriff der "Reproduktionsarbeit" eine Kategorie eingeführt hat, die genau diese sorgenden Tätigkeiten erfasst. Nur, sie wird nicht gefüllt, bleibt empirisch leer. Außen vor bleiben nicht zuletzt auch all jene Tätigkeiten, die die eigentliche Produktion vorbereiten und die Rahmenbedingungen sicherstellen, damit sie läuft: Dienstleistungen also, Bürokratie sowie die Organisation, Planung und Verwaltung von Produktionsprozessen. Der Arbeitsbegriff konzentriert sich auf das formierende Tun, auf das Herstellen an sich. "Kurzum: Marx klammert aus, was als notwendige Infrastruktur für die Produktion eigentlich dieser selbst zugeschlagen werden müsste."
Honneth behauptet freilich nicht, Marx habe diese Tätigkeiten nicht gesehen. Seine These ist, dass für Marx im tätigen Herstellen von Produkten die Essenz, der Wesenskern von Arbeit bestand. Honneth schlägt hier eine Brücke zu dem amerikanischen Philosophen Daniel Brudney von der University of Chicago, der diese fatale und folgenreiche Verengung des Arbeitsbegriffs auf herstellende Tätigkeiten als "Produktivismus" bezeichnet hat. Dieser Begriff beschreibt treffend den Geist der Frühphase der Formierung der Industriegesellschaft. Produktivismus meint mehr als die industrielle Produktion und die bahnbrechenden technischen Innovationen der Industrialisierung, sondern bezieht die soziale Dimension mit ein: die Begeisterung und das revolutionäre Pathos, von dem die industrielle Revolution begleitet wurde.
Der Mythos von der Dominanz güterproduzierender Tätigkeiten
Was hier durch die Überhöhung der industriellen Produktion bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Arbeitsformen und Arbeitsinhalte an gesellschaftlich Imaginärem erzeugt wurde, besitze geradezu einen paradoxen Charakter, schreibt Honneth. Denn die Industrie steckte noch in den Kinderschuhen. Industrielle Arbeit stellte einen verschwindend kleinen Anteil im Beschäftigungsbereich, rückte aber so sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, dass sich das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaften am "Mythos von der Dominanz der güterproduzierenden Tätigkeiten" ausrichtete.
Honneth spricht in Anlehnung an die Philosophin Miranda Fricker vom "gesellschaftlich Imaginären". Gemeint sind damit Bedeutungen, die gewissermaßen als Bilder sozialer Gegebenheiten innerhalb von Gesellschaften zirkulieren und unterhalb der Schwelle expliziter, sprachlich artikulierter Aussagen verbleiben. Also gewissermaßen ein nicht explizites, vorsprachliches und nicht hinterfragtes Wissen darum, wie soziale Gegebenheiten "sind". Etwa was Arbeit ist und was nicht. Oder was eine Gesellschaft ausmacht zum Beispiel. Solche Vorstellungen werden im sozialen Alltag nicht begrifflich explizit verwendet, sondern sind als Bilder, als "kollektive soziale Imagination", so Miranda Fricker, präsent. Um eine solche kollektive soziale Imagination handelt es sich wohl bei dem Mythos von der Industriegesellschaft.
Honneths Fazit: "Man beginnt sich als Industriegesellschaft zu begreifen, und zwar selbst dort, wo davon noch keine Rede sein kann; man glaubt an die treibende, ja revolutionäre Kraft des Proletariats, obwohl die Arbeiterbewegung zunächst vor allem von standesbewussten Handwerkern vorangetrieben wird; und während die unteren Schichten vergessen, dass man die paar Annehmlichkeiten des sozialen Lebens im Wesentlichen der Landwirtschaft zu verdanken hat, vergessen die oberen Schichten, dass ihr Luxus und ihre Muße maßgeblich an den häuslichen Dienstleistungen und den verschiedenen Verwaltungstätigkeiten hängen. Dass so gut wie kein Denker von Statur in dieser Zeit bereit ist, sich der besonderen Verfassung und Qualität der dienstleistenden Tätigkeiten anzunehmen, ist ein Nebeneffekt dieser seltsamen Verkehrungen durch den herrschenden Arbeitsbegriff."
Die "große - und rühmliche - Ausnahme" ist für Honneth John Stuart Mill (1806-1873). Denn der britische Philosoph und Politiker orientiert sich an der Arbeit, die tatsächlich getan wird. An der gesellschaftlichen Wirklichkeit also. Und er verwendet große Sorgfalt darauf, zwischen unterschiedlichen Formen von Arbeit zu unterscheiden. Mill differenziert nicht nur zwischen Arbeit, die direkt oder indirekt aufgewendet werden müsse, um einen für den menschlichen Gebrauch bestimmten Artikel hervorzubringen. Er schlägt auch vor, den Begriff der produktiven Arbeit - vollkommen neutral - für diejenigen Tätigkeiten zu benutzen, die verrichtet werden, um bleibende Nützlichkeiten zu erzeugen. Das ist der Blick auf die Dinge selbst, das also, was dem deduktiven Denken von Locke bis Marx abgeht. Aber auch hier fällt auf - gerade wegen der begrifflichen Sorgfalt Mills - dass die unbezahlten Tätigkeiten von Frauen im Haushalt mit keinem Wort erwähnt werden, "wie überhaupt Frauen in seiner bestechend genauen Argumentation an keiner Stelle auftauchen". Mill spricht vielmehr geschlechtsneutral vom "häuslichen Dienstpersonal". Gleichwohl formuliert er einen Arbeitsbegriff, der sich heute als wertvoll und nützlich erweisen könnte, weil er den Zweck einer produktiven Arbeit an ihrem Nutzen festmacht und nicht am materiellen Ergebnis. Produktive Arbeit erzeugt für Mill "bleibende Nützlichkeiten" - ganz unabhängig davon, ob diese leblosen Gegenständen oder aber Menschen oder anderen Lebewesen zugehören.
Das blieb jedoch folgenlos. Eine historische Fußnote, die auch in Honneths Exkurs nur als Fußnote auftaucht. Es blieb dabei, Mills Einsichten zum Trotz: Die von Frauen geleistete Sorgearbeit in Haushalt, Küche, Hof und Familie fiel raus. Und blieb unbezahlt.
Dienstleistungen treten ans Licht der Öffentlichkeit
Produktivismus lenkt also die Wahrnehmung höchst selektiv auf produzierende Tätigkeiten, die marktförmige Produkte erzeugen. Alle andere Arbeit, egal ob sie im Dienste dieser Produkterzeugung steht oder das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt sicherstellt, wie alle kümmernden und sorgenden Tätigkeiten, fällt heraus. Bleibt ausgeblendet, ebenso wie die Menschen, die diese Arbeit verrichten: Es sind vor allem Frauen, die traditionell für die sorgenden und kümmernden Tätigkeiten zuständig sind. Tätigkeiten übrigens, die in der Rede vom "ganzen Haus" - der in vorindustrieller Zeit üblichen Bezeichnung für die häusliche Wirtschaftsgemeinschaft - selbstredend eingeschlossen waren, dann aber mit der Identifikation von Arbeit mit ihrem produktiven Output unter den Tisch fielen.
Dienstleistungen blieben außerhalb des Aufmerksamkeitshorizonts von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Sie fielen "der ausschließlichen Konzentration auf die Industriearbeit zum Opfer, die gegen alle empirische Evidenz ... als Normalfall genommen wurde", fasst Honneth zusammen. Und es dauerte noch Jahrzehnte, bis dieses schiefe Bild zumindest ansatzweise geradegerückt wurde. Drei Entwicklungen waren es Honneth zufolge, die "die Dienstleistungen aus dem langen Schatten des herrschenden Arbeitsbegriffs heraustreten und ins öffentliche Bewusstsein gelangen" ließen.
Zum einen wurde - nicht zuletzt durch die Arbeiten Max Webers (1864-1920) - deutlich, dass die wirtschaftliche Entwicklung der damaligen Zeit nicht nur durch eine wachsende Industrialisierung, sondern auch durch eine zunehmende Bürokratisierung geprägt war. Damit wurde offenbar, welches Maß an Arbeit erforderlich ist, um Wirtschaft und Gesellschaft am Laufen zu halten: an Verwaltung, an Bürokratie, an Organisation. So gerieten zwar die verwaltungsbezogenen Dienstleistungen ins Licht der Öffentlichkeit. Sie wurden in der Folge dann auch in das System der Erwerbsarbeit integriert. Im Dunklen blieb jedoch der andere Teil der mit Pflege, Unterstützung, Erziehung und Versorgung anderer Menschen befassten Dienstleistungen. Arbeit wurde "weiterhin begrifflich als eine sich allein zwischen einem Subjekt und einem Objekt (…) abspielende Tätigkeit gefasst".
Den zweiten großen Bruch markieren der Erste Weltkrieg und seine sozioökonomischen Folgen. Zum einen rückte der aufopfernde Einsatz von Krankenschwestern und Sanitätspersonal bei der Versorgung und Pflege verwundeter Soldaten die Unverzichtbarkeit der pflegenden und kurativen Berufe in den Blick. Nach dem Krieg erweiterte sich die Perspektive dann auf die häuslichen Dienstleistungen, die bis dahin von der erwähnten "Armee" an Dienstboten erbracht wurden. Die kriegsbedingten Wohlstandsverluste entzogen dem nun die ökonomische Grundlage; das Dienstleistungspersonal schrumpfte auf durchschnittlich eine Arbeitskraft je Haushalt. Dieser Einbruch machte schlagartig die Menge und Vielfalt der häuslichen Aufgaben deutlich. In den Blick geriet "ein Typus des Arbeitens …, der bis dahin überhaupt nicht wahrgenommen wurde, und schon gar nicht als gesellschaftlich notwendige Tätigkeit." Diese Aufgaben, Hausarbeit vor allem, mussten nun von den weiblichen Mitgliedern der bürgerlichen Schichten übernommen werden - "aus freien Stücken", wie es hieß.
Den dritten Anstoß gab die Entstehung der Frauenrechtsbewegung. Schon in den 1920er-Jahren waren erste Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten, die Hausarbeit ökonomisch und gesellschaftlich aufzuwerten. Aber es dauerte weitere fünfzig Jahre, bis die feministische Kampagne für die Bezahlung der Hausarbeit in den 1970er-Jahren deren Zuweisung an die Frauen grundsätzlich skandalisierte. Nun geriet eine zweite nicht weiter hinterfragte Prämisse ins Wanken, nämlich die Kopplung des Arbeitsbegriffs an die Nachfrage auf dem Markt: Denn als gesellschaftlich erforderliche Arbeit galt nach dem herrschenden wirtschaftstheoretischen Paradigma nur, wofür es eine Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt gab. Haus-, Sorge- und Pflegearbeit fiel durch dieses Raster, denn sie wurde ja unbezahlt und freiwillig erledigt. Diese vermeintliche Freiwilligkeit dient bis heute zur Rechtfertigung dafür, dass diese Tätigkeiten unbezahlt bleiben.
Ausgeblendet: die menschliche Dimension
Dieser verengte ökonomische Begriff von Arbeit ist als Verengung oder Ausblendung nur unzureichend beschrieben. Genau besehen, handelt sich um eine Abwertung und Geringschätzung nicht mit der Herstellung von materiellen Dingen befassten Tätigkeiten. So spricht Honneth von einer "stillen Verachtung", hier zitiert als Fazit seiner Analyse: "Die stille Verachtung für die Arten von Tätigkeiten, die nicht mit der Fabrikation von Sachwerten, sondern mit dem Besorgen, Pflegen, Verwalten und Transportieren von bereits Existierendem befasst sind, hat mit Locke und Smith begonnen, ist von Hegel und Marx vertieft worden und beeinflusst noch nachhaltig das Denken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts."
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geriet damit nicht in den Blick, was die besondere Qualität der Arbeit an und mit Menschen ausmacht: die "kommunikative Perspektivübernahme", so Honneth: dass nämlich, "das Hineinversetzen in die Person, die auf Unterstützung einer anderen angewiesen ist, ... jeder instrumentellen Erwägung, der Suche nach den angemessenen Mitteln, notwendigerweise vorausgeht". Arbeit erscheint als technisch-instrumentelle Verrichtung. Ausgeblendet bleibt die menschliche Dimension.
Und das setzte sich fort. So folgte auch Hannah Arendt (1906-1975) in ihrem Arbeitsbegriff dem herrschenden Paradigma und ließ alle Dienstleistungen außen vor. Die "Prämisse, wonach alle wirkliche Arbeit sich zwischen den Menschen und einem Gegenstand vollzieht", blieb dominant.
Fällt aber diese Kopplung zwischen Mensch und Gegenstand weg, öffnet sich der Arbeitsbegriff für zahllose Tätigkeiten, die bislang unbezahlt oder ehrenamtlich erledigt wurden und werden. Diesem Weg folgt Axel Honneth in der Konzeption seines Arbeitsbegriffs. Demzufolge setzt sich gesellschaftlich notwendige Arbeit aus drei Tätigkeitsprofilen zusammen: "der Bearbeitung natürlicher oder von Menschen geschaffener Gegenstände zum Zwecke der Herstellung nützlicher Güter; dem sorgenden Umgang mit Personen zum Zwecke des Pflegens, Beratens oder Unterrichtens; und dem professionellen Hantieren mit Symbolen zum Zwecke des Berechnens, Analysierens und Verarbeitens von Daten, die der Verwaltung von sozialen und wirtschaftlichen Vorgängen von Nutzen sind." Als gesellschaftlich erforderliche Arbeit gelten alle Tätigkeiten, die in einem dieser Bezugssysteme als wertvoll für die Gesellschaft angesehen werden.
Honneths Arbeitsbegriff ist damit deutlich breiter angelegt, offener und inklusiver: "Als ‚Arbeit‘ im Sinne von sozial erforderlichen Tätigkeiten müssen nun alle regelmäßig ausgeübten Verrichtungen gelten, die in einer Gesellschaft dazu beitragen, die gegebene Lebensform in ihren allgemein gewünschten Bestandteilen zu erhalten." Offen ist diese Konzeption in zweierlei Hinsicht: offen sowohl für die Einschätzung einer Arbeit als wertvoll, also auch für den erwünschten Zweck, ihrem Beitrag zum Zusammenleben und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft. Wie diese Anpassungsleistung aussehen kann, lohnt in Honneths Exkurs nachzulesen.
Eine Vertiefungsschleife
Hier gabelt sich der Erzählstrang. Axel Honneth nimmt seine ideengeschichtliche Reflexion zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen für eine zeitgemäße Neufassung des Arbeitsbegriffs. Auf der anderen Seite wirft die hier kurz wiedergegebene Ideengeschichte der Arbeit grundlegende und weitergehende Fragen auf. Zum Beispiel nach der Herkunft und Wirkungsmacht gesellschaftlicher Vorstellungen und Begriffe. Wie kam es dazu, dass sich ein so offensichtlich einseitiger Begriff etablieren und durchsetzen konnte? In welcher Vorstellungswelt bewegten sich die namhaften Philosophen und politischen Denker der damaligen Zeit? Und was ist eigentlich dran an der großen Erzählung von der Industriegesellschaft?
Es ist natürlich eine starke These, die Honneth vorlegt, wenn er von einer systematischen Einseitigkeit und Selektivität des Arbeitsbegriffs spricht - und von einer Gesellschaft, die sich in einer Phase tiefgreifender Transformation selbst als industriell imaginierte, obwohl die realen Produktionsbedingungen noch weit von einem als "industriell" zu bezeichnenden Status entfernt waren. Deshalb sei hier noch eine kurze Vertiefungsschleife eingezogen. Es lohnt ein Blick in Jürgen Osterhammels Universalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Sein fulminantes Werk Die Verwandlung der Welt hält zu diesen Themen einige aufschlussreiche Einsichten bereit.
Zunächst zur Arbeit: Auch Osterhammel greift die dominante Verengung auf den produktiven Kern von Arbeit auf - um dies sogleich ironisch zu wenden: "Durch Arbeit wird etwas hergestellt - nichts häufiger als Mahlzeiten, so dass Kochen die am weitesten verbreitete und insgesamt zeitaufwändigste Verausgabung von Arbeitskraft in der gesamten Geschichte gewesen sein dürfte." Eine sorgende Tätigkeit also, und ein Beispiel dafür, dass nicht alle Arbeit über den Markt vermittelt wird.
Zweitens zur Industriegesellschaft: Auch Osterhammels Ausführungen legen nahe, die große Erzählung von der Industriegesellschaft zu hinterfragen. Denn dabei handelt es sich offenbar eher um einen Mythos als um eine Tatsachenbeschreibung. So relativieren die Zahlen zum Anteil der Industriearbeit an der ingesamt geleisteten Arbeit die Bedeutung der Industrie doch erheblich. So war um 1900 nur in ganz wenigen Ländern der Erde Industriearbeit wichtiger geworden als Arbeit in der Landwirtschaft. Und selbst in den USA und Japan, den industriell leistungsfähigsten Ländern, "überflügelte Industriearbeit niemals die Beschäftigung in Landwirtschaft und Dienstleistungssektor", schreibt Osterhammel. Und resümiert: "Die klassische Industriegesellschaft war mithin ein flüchtiger Moment in der Weltgeschichte." Die Idee der sozialen Imagination bietet einen Ansatz, die prägende Kraft solcher Vorstellungen begreifbar zu machen.
Drittens bleibt eine große Frage: Warum haben beinahe alle Denker ihrer Zeit die von Frauen geleistete Arbeit so wenig bis gar nicht gesehen, sie ignoriert und herabgewürdigt? Eine Antwort liegt wohl in der lang anhaltenden Wirkungsmacht traditioneller Machtstrukturen und Rollenbilder. Hier: "das aristotelische Haus" als kleinste politische Einheit des Staates. Und als Keimzelle des Patriarchats, das an dieser Stelle wieder ins Spiel kommt. Der moderne Staatsbürger war "am Lockeschen Horizont noch nicht aufgetaucht", schreiben Michaela Rehm und Bernd Ludwig im Vorwort zu der von ihnen herausgegebenen kommentierten Fassung von Lockes Hauptwerk. Im aristotelischen Haus standen Frau, Kinder, Bedienstete und Sklaven unter der häuslichen Herrschaft des Mannes und hatten keinen Anspruch auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Dieser Rechtsanspruch lag beim Mann. Er war Besitzer weiblicher Arbeit. Diese Form häuslicher (patriarchalischer) Herrschaft wirkte über Locke hinaus noch bis Kant und Hegel. "Noch Mitte des 19. Jahrhunderts, als Marx über den Sozialismus schrieb, galt sowohl die in Privathaushalten als auch die auf dem Markt geleistete Arbeit von Frauen rechtlich als das Eigentum ihrer Väter beziehungsweise Ehemänner", schreibt Riane Eisler. In ihrem Buch Die verkannten Grundlagen der Ökonomie argumentiert sie, dass unsere Vorstellung davon, was wertvoll ist und was nicht, stark von unbewussten Annahmen abhängt, die wir aus früheren Zeiten übernommen haben. Sie prägen die Wahrnehmung und definieren, was gesehen wird und was nicht.
Gesehen wurde nicht: die von Frauen geleistete Arbeit, weil sie der herrschenden Vorstellung nach dem Mann gehörte (ebenso wie die Frau). Und wie zu einem späteren Zeitpunkt hinzukam, weil sie nicht dem heroischen Bild produktiver (männlicher) Arbeit entsprach, das mit der Emanzipation des Bürgertums entstanden war. Erst als die Frauenrechtsbewegung diese eherne Fessel sprengte, wurde die von Frauen geleistete Arbeit tatsächlich den Frauen zurechenbar. Sie bleibt jedoch unsichtbar, solange sie nicht die volle, auch ökonomische Anerkennung erfährt: als gesellschaftlich notwendige Arbeit.
Viertens eine weitere Spur: Sie findet sich ebenfalls in Axel Honneths Exkurs, wiederum in einer Fußnote. Dort diskutiert der Autor die Frage, ob Locke auch das Sammeln und Jagen der indigenen Völker Nordamerikas als Tätigkeiten begreift, die den natürlichen Objekten keinen Wert hinzufügen und die daher ein Recht auf Eigentum nicht begründen können. Lockes Aussagen hierzu seien eher widersprüchlich, schreibt Honneth, sie könnten aber durchaus als Rechtfertigung der Landnahme durch die weißen Siedler interpretiert werden. Ein wohlüberlegt gesetzter Hinweis, der im Kontext aktueller Forschungen zu Kolonialismus und Sklaverei eine besondere Brisanz erhält. Dass Locke die Kolonialpolitik Englands zu rechtfertigen suchte und selbst in den Sklavenhandel involviert war, ist bekannt, ein Zusammenhang mit Lockes Philosophie wurde aber meist relativiert oder heruntergespielt. Im Zuge postkolonialer Studien hat sich das Blatt nun offenbar gewendet. Klar wird: Kolonialismus, Rassismus, Sklaverei und eine ausgeprägt patriarchalische Einstellung bilden den ideologischen Rahmen, das Gehäuse, in dem sich das Denken der damaligen Zeit bewegt. Auch das Denken über Wirtschaft und Arbeit.
Und so stellt sich die Frage, ob Locke seinen Arbeitsbegriff nicht (auch) deswegen so eng gefasst hat, um einen Eigentumsanspruch indigener Völker auf das von ihnen bewohnte Land auszuschließen. Und so den Kolonialismus zu rechtfertigen. Die Debatte über den Einfluss rassistischer und diskriminierender Denkweisen auf die politische Philosophie ist in den letzten Jahren in Gang gekommen. Und geht weiter. Erforderlich ist dabei - und das zeigt die hier resümierte Ideengeschichte des Arbeitsbegriffs - eine differenzierte Analyse, die lang tradierte, von Epoche zu Epoche und von Generation zu Generation weitergegebene begriffliche und konzeptionelle Verengungen, Vorurteile und Fehlwahrnehmungen zu identifizieren sucht. Mentale Modelle also, die die Wahrnehmung formen.
Gleichwohl können auch große Begriffe hilfreich sein. Können Orientierung geben. Wie es scheint, ist der Zusammenhang von Patriarchat, Kolonialismus, Rassismus, Sklaverei und Militär bei der Entstehung des modernen Wirtschaftssystems und des modernen Managements eine weitgehend noch ungeschriebene Erzählung.
Literatur
Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie, Wege zu einer Caring Economy, Büchner-Verlag, Marburg 2020
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, Verlag C.H.Beck, München 2023
Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit, Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2023, darin: Exkurs I: Zum Begriff der gesellschaftlichen Arbeit, S. 111-148
Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive - 13. bis 21. Jahrhundert, Promedia Verlag, Wien 2014
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Verlag C.H.Beck, München 2009
Michaela Rehm und Bernd Ludwig: Vorwort in dem von ihnen herausgegebenen Band John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, Akademie Verlag, Berlin 2012
Maria Rerrich: Gesucht: eine Wirtschaft, die das Lebensnotwendige ins Zentrum stellt, Buchbesprechung von Ina Praetorius und Uta Meier-Gräwe (2023): Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, 21. April 2023, https://sheconomy.media/gesucht-eine-wirtschaft-die-das-lebensnotwendige-ins-zentrum-stellt§ Eva Maria Volland: Politik wurde den Frauen ausgetrieben, Interview in: Süddeutsche Zeitung 9. Juli 2025, Seite R5
Zitate
"Arbeit wurde zunehmend (und bald ganz) mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt." changeX: Auf groteske Weise verengt
"Dieser verengte ökonomische Begriff entwickelte sich zum herrschenden Modell mit gesellschaftsprägender Kraft: Das Konzept der Erwerbsarbeit wurde das Arbeitsmodell der Industriegesellschaft." changeX: Auf groteske Weise verengt
"Der herrschende Arbeitsbegriff lässt nicht genug Raum für all die Arbeit, die getan wird." changeX: Auf groteske Weise verengt
"Eine enge Definition von Arbeit als bezahlte Erwerbstätigkeit drängt unbezahlte Haus- und Subsistenztätigkeit in die Nicht-Arbeit ab." Andrea Komlosy: Arbeit
"Erst die nicht bezahlte Care-Arbeit in den privaten Haushalten beziehungsweise die unterbezahlte Care-Arbeit in den typischen Frauenberufen wie Erzieherin oder Altenpflegerin halten die Gesellschaften am Laufen. Mehr noch: Sie stellen die Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft dar." Maria Rerrich: Gesucht: eine Wirtschaft, die das Lebensnotwendige ins Zentrum stellt
"Wer angesichts des enormen Anstiegs der Dienstleistungen im 19. Jahrhundert (…) nun erwartet, dass der vorherrschende Begriff der Arbeit an diese Realität angepasst werden würde, wird schnell eines Besseren belehrt." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän
"Produktivismus lenkt die Wahrnehmung höchst selektiv auf produzierende Tätigkeiten, die marktförmige Produkte erzeugen. Alle andere Arbeit, egal ob sie im Dienste dieser Produkterzeugung steht oder das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt sicherstellt, wie alle kümmernden und sorgenden Tätigkeiten, fällt heraus." changeX: Auf groteske Weise verengt
"Als ‚Arbeit‘ im Sinne von sozial erforderlichen Tätigkeiten müssen nun alle regelmäßig ausgeübten Verrichtungen gelten, die in einer Gesellschaft dazu beitragen, die gegebene Lebensform in ihren allgemein gewünschten Bestandteilen zu erhalten." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän
"Durch Arbeit wird etwas hergestellt - nichts häufiger als Mahlzeiten, so dass Kochen die am weitesten verbreitete und insgesamt zeitaufwändigste Verausgabung von Arbeitskraft in der gesamten Geschichte gewesen sein dürfte." Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt
"Die klassische Industriegesellschaft war mithin ein flüchtiger Moment in der Weltgeschichte." Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt
"Der herrschende Arbeitsbegriff lässt nicht genug Raum für all die Arbeit, die getan wird." changeX: Auf groteske Weise verengt
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Quellenangaben
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© Coverabbildung: Suhrkamp Verlag
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© Illustration: changeX
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Fundstellen der Zitate (Reihenfolge nach dem Vorkommen im Text): Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive: 23; Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit: 113-123, 126, 128, 131, 135, 136, 138; Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens: 69; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.: 958, 961; Michaela Rehm, Bernd Ludwig: John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung: Vorwort; Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy: 11
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Maria Rerrich: #/Gesucht: eine Wirtschaft, die das Lebensnotwendige ins Zentrum stellt, Buchbesprechung von Ina Praetorius und Uta Meier-Gräwe (2023): Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert/#, 21. April 2023,Link zum Artikel
Zum Buch
Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2023, 400 Seiten, 30 Euro (D), ISBN 978-3-518-58797-3
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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