Alles könnte anders sein
Langfristige Entwicklungen erscheinen oft als zwangsläufig. So, als hätten sie notwendigerweise dort enden müssen, wo wir heute stehen. Bis neue Perspektiven und Erkenntnisse zeigen, dass das ein Trugschluss war (oder eine interessierte Darstellung). Fünf aktuelle Bücher machen dies an ganz unterschiedlichen Themen deutlich, von der Menschheitgeschichte bis zur Hausfrau. Fünf Rezensionen aus der neuen Ausgabe von pro zukunft rekombiniert. Eine Buchumschau.
"Es könnte alles anders sein" ist eine Rezension in der neuen Ausgabe von pro zukunft, dem das Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, überschrieben. Genau besehen greift diese Aussage aber weiter und umschreibt eine Erkenntnis, die sich auch aus anderen im Heft besprochenen Titeln herauslesen lässt. In dieser Buchkolumne gibt es deshalb fünf ausgewählte Rezensionen neu kombiniert - fünf Einblicke in die Kontinenz von Entwicklungen: Lisa Herzog rekonstruiert, warum Organisationen lange Zeit unter einer sehr eingeschränkten funktionalen Perspektive betrachtet wurden, und erweitert den Rahmen um die moralische Dimension, die bislang ausgeblendet worden ist. Obwohl sie ohne Zweifel dazugehört. Der Sozialanthropologe James Suzman versucht das Wesen der Arbeit und unserer Beziehung zu ihr historisch zu ergründen und bietet spannende Einblicke in unsere Entwicklung als Spezies - die auch hätte anders verlaufen können. Das ist auch das große Thema von David Graeber und David Wengrow, die die gängige Erzählung menschlicher Entwicklung gründlich dekonstruieren. Annette Kehnel wiederum eröffnet mit einer Historie der Nachhaltigkeit neue Sichtweisen. Unter anderem die titelgebende, dass wir auch anders gekonnt hätten. Anders hätte schließlich auch die Entwicklung des Rollenbilds der Frau verlaufen können. Das vorindustrielle weibliche Rollenbild jedenfalls ist in heutigen Begriffen deutlich emanzipierter als die spätere Hausfrauenrolle. Die Entwicklung ging "von der Herrin im Haus zur Dienerin am Mann". Evke Rulffes rekonstruiert in ihrem so betitelten Buch die Erfindung der Hausfrau.
Die moralische Dimension der Organisation
Unsere Gesellschaft ist eine hochgradig organisierte Gesellschaft, und es ist eine Gesellschaft von Organisationen. Doch sind die Unzufriedenheit mit und das Unwohlsein in Organisationen groß. Organisationen sehen sich - insbesondere die hierarchisch verfassten alten Typs - mit wachsender Kritik konfrontiert. Mehr Agilität, also Fähigkeit zu schnellerem, flexiblerem Handeln, flachere Hierarchien, mehr interne Mitbestimmung, mehr Selbstorganisation oder gar demokratische Entscheidungsverfahren sind viel diskutierte Forderungen. Es ist also eine recht heterogene Gemengelage, die sich hinter dem Wunsch nach anderen, besseren Organisationen verbirgt.
Immer dann, wenn die Praxis unüberschaubar wird, ist Theorie gefragt. Denn Theorie setzt den Rahmen, in dem Dinge verhandelt werden. Lisa Herzog, Professorin für Politische Philosophie an der Universität Groningen, zieht den Rahmen nun weiter und setzt ihn anders. Sie legt den Fokus nicht darauf, wie Organisationen effizienter, schneller, flacher werden. Sondern sie wählt einen "explizit normativen Zugang: Ich konzentriere mich auf die moralische Dimension, die Organisationen gemeinsam haben."
Das ist eine klare Erweiterung der Perspektive. Organisation und Moral ist ein wenig erkundetes Feld. Trotz offenkundiger Fehler und Rechtsverstöße ist die moralische Dimension von Organisationen ein in der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Diskussion vernachlässigtes Thema, wie Herzog konstatiert. Moralische Verantwortung ist nicht die Perspektive, unter der Organisationen thematisiert werden. Und das ist ein Teil des Problems, der grundsätzliche. "Lange Zeit wurden Organisationen auf eine Art betrachtet, die blind für die moralischen Dimensionen des Organisationslebens war", schreibt die Autorin. Die Wirtschaftswissenschaften haben Menschen als rationale Nutzenmaximierer betrachtet und Organisationen unter rein funktionalen Aspekten behandelt. "Dieser moralfreie, funktionale Ansatz der Wirtschaftswissenschaften, der sich allein auf Effizienz konzentriert, ist bis in die Kapillaren des Organisationslebens eingesickert und hat dort moralische Fragen verdrängt." Die moralische Dimension wurde nicht nur nicht erörtert - sie wurde faktisch unsichtbar. Die funktionale Perspektive war die einzige, unter der Organisationen thematisiert wurden. Außen vor blieb der Mensch. Doch: "Organisationen werden schließlich von Menschen bevölkert, und wo diese miteinander interagieren, ist die moralische Dimension stets präsent."
Den Schwerpunkt auf die Moral zu setzen, geht nun keineswegs an den aktuellen Debatten um organisationalen Wandel vorbei, sondern stößt vielmehr zu ihrem Kern vor. Denn dabei geht es entscheidend darum, dem Menschen mehr Gewicht zu geben und sein Wissen, seine Kompetenz und seine Entscheidungsfähigkeit für die Organisation zu erschließen. Damit kann die Moral nicht länger ausgegrenzt werden. Lisa Herzog fordert daher, "dass Organisationen aus einer moralischen Perspektive neu gedacht werden müssen". Die entscheidende Frage für sie ist, "ob wir uns Organisationen auch anders vorstellen und sie auch anders gestalten können: Menschlicher und eher in Einklang mit den moralischen Normen, die wir in anderen Sphären unseres Lebens für selbstverständlich halten." Das meint: Das System zurückerobern. Von Winfried Kretschmer
Leben ist arbeiten
Der Sozialanthropologe James Suzman nimmt einen langen Anlauf, bis er Tempo in seinem neuesten Buch Sie nannten es Arbeit gewinnt. Die Struktur des Buches spiegelt damit in gewisser Weise den Inhalt, der, laut der deutschen Übersetzung, nicht weniger ist als "eine andere Geschichte der Menschheit" (englisch: Work. A History of How We Spend Our Time). Suzman geht, soweit es belastbare Befunde ihm erlauben, zurück in der Menschheitsgeschichte, um das Wesen der Arbeit und unserer Beziehung zu ihr zu ergründen. Letztendlich wagt er einen Versuch, zu verstehen, warum wir trotz fortschreitender Automatisierung und Technologisierung immer mehr statt weniger arbeiten - entgegen der Prognose mancher Ökonomen (John M. Keynes) und wilden Träumen von Poeten (Oscar Wilde).
Das Buch ist in vier Teile untergegliedert, in denen Suzman nach einer konzeptionellen Einführung eine Reise durch die Menschheitsgeschichte unternimmt und sie nach Hinweisen auf Umfang, Art und Organisation von Arbeit sowie deren kulturelle Bedeutung erforscht. Dabei greift er auch immer wieder auf seine anthropologischen Arbeiten mit dem Volk der Ju/'Hoansi, die heute in einem Schutzgebiet in Namibia leben, zurück. Im vierten Teil ("Geschöpfe der Großstadt") nimmt Suzman in Rhythmus und Dichte dann die Geschwindigkeit der Gegenwart auf, nachdem er zuvor explorativer und kontemplativer die Vergangenheit unserer Spezies beleuchtet. Nach eigener Aussage möchte Suzman keine Vision oder Lösungsansätze für die Zukunft entwickeln, sondern uns einen anderen Blick auf das Arbeiten sowie das Knappheitsnarrativ erlauben.
Eine interessante Beobachtung legt Suzman in den Eingangskapiteln des Buches dar: Leben ist arbeiten. Wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass Suzman eine globale Definition von Arbeit anwendet: Arbeit ist für ihn "jede zweckgerichtete Verausgabung von Energie für die Bewältigung einer Aufgabe oder die Erreichung eines Ziels". Heute steht dem Menschen mehr Energie zur Verfügung als jemals zuvor. Als Spezies erzeugen wir verlässlich und "routinemäßig überschüssig Energie", die wir gemäß dem Entropiesatz als Individuum und auch als Gesellschaft in Form von Arbeit einsetzen, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Sowohl im Tierreich als auch bei unseren Ahnen zeigt Suzman auf, dass zyklische oder saisonale Energieüberschüsse mit kulturellen, kreativen Betätigungen einhergingen.
Insbesondere die Wechselwirkung zwischen der Beziehung von Energie und kultureller Entwicklung interessiert Suzman. Er identifiziert vier Überschneidungspunkte: (1) Beherrschung des Feuers, (2) Übergang zu Ackerbau-Gesellschaften, (3) Entstehung von Städten und (4) Nutzung fossiler Brennstoffe. Diese Meilensteine wirkten sich eben nicht nur auf die Versorgung aus, sondern auch auf die Organisation von Gemeinschaften beziehungsweise Gesellschaften. Auch das Verständnis von Gleichheit und Status ist hiervon betroffen.
Im mittleren Teil des Buches skizziert Suzman, wie der Übergang vom Jagen und Sammeln zum Ackerbau auch die Haltung gegenüber der Natur veränderte. Während Jäger und Sammler mit der Natur lebten, sich nur nahmen, was sie am jeweiligen Tag brauchten, stellte die Natur für die Bauern ein mühselig zu bearbeitendes Objekt dar, das ihnen für ihre harte Arbeit heute - etwa das Bestellen eines Feldes - in ein paar Monaten eine ertragreiche Ernte schuldig sei. Eine spannende Transformation in der Beziehung zur Erde, dessen Auswirkungen wir heute in extremer Form sehen.
Mit seiner anderen Geschichte der Menschheit macht Suzman deutlich, dass unsere heutige Einstellung zur wirtschaftlich relevanten Arbeit nicht die natürliche Antwort auf eine Knappheit ist, wie es uns manche Ökonomen weismachen möchten, sondern ein kulturell befeuerter Wachstums- und Konsumzwang. An anderer Stelle - zum Beispiel in Jenny Odells wunderbarem Buch Nichts tun - wird deutlich, dass verschiedene Institutionen wie Kirche und Politik große Sorge vor Massen mit zu viel Freizeit haben, die sie "unkontrolliert" für unproduktive oder sogar schädliche Aktivitäten nutzen würden. Im Kontrast dazu legt Suzmans Analyse nahe, dass die überschüssige Energie für vielerlei kreative, musische, gemeinschaftliche Aktivitäten eingesetzt werden könnte.
Wie beschrieben möchte Suzman selbst keine politische Lösung - das bedingungslose Grundeinkommen etwa - formulieren. Manche mag das ratlos zurücklassen. Was tun mit diesen Gedanken? In erster Linie sehe ich in der Reise durch die Menschheitsgeschichte selbst einen Gewinn. Suzmans Exploration bietet spannende Einblicke in unsere Entwicklung als Spezies. In zweiter Linie stößt Suzman eine Diskussion an, Arbeit breiter zu verstehen, und nicht nur im Sinne unmittelbar wirtschaftlich relevanter Tätigkeiten - dies rückt viele gesellschaftlich relevante Tätigkeiten in ein anderes Licht. Von Martin P. Fladerer
Es könnte alles anders sein
Die gängige Erzählung menschlicher Entwicklung lautet folgendermaßen: Bis zur neolithischen Revolution vor etwa zehntausend Jahren lebten die Menschen als Jäger und Sammler in relativ egalitären Kleingruppen. Im Zuge der Sesshaftwerdung und Einführung der Landwirtschaft wurden Überschüsse erwirtschaftet, die Eliten und Hierarchien hervorbrachten. Größere Zusammenschlüsse von Menschen machten das Zusammenleben komplexer, was Hierarchien und Verwaltungsapparate erforderte. Die Entwicklung der "Zivilisation" brachte zwar Literatur, Wissenschaft und Philosophie hervor, allerdings auch patriarchale Strukturen, Kriege und Bürokratie.
Dieses Narrativ sozialer Evolution wollen der 2020 verstorbene Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in ihrem neuen Buch aufbrechen. Über zehn Jahre haben die beiden abseits ihrer akademischen Verpflichtungen damit zugebracht, eine "neue Geschichte der Menschheit" zu verfassen. Das Ergebnis ist ein fast 670 Seiten starkes Buch, das die archäologischen und anthropologischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte in einem eindrücklichen Werk zusammenbringt.
Laut Graeber und Wengrow liegen die Ursprünge gängiger Theorien gesellschaftlicher Entwicklung in der Reaktion europäischer Denker auf indigene Kritik. Indigene Amerikaner hätten sich durchaus kritisch über die Institutionen ihrer Eindringlinge geäußert, insbesondere die mangelnde Freiheit und die damit einhergehende Ungleichheit. Die Idee, menschliche Gesellschaften nach Entwicklungsstufen zu ordnen, die über jeweils charakteristische Technologien und Organisationsformen verfügen, geht maßgeblich auf Denker der Aufklärung zurück. Dabei werden Jäger, Hirten oder primitive Bauern als "Überbleibsel früherer Stadien unserer gesellschaftlichen Entwicklung" dargestellt. Der Nationalökonom Jacques Turgot beispielsweise betrachtete deren angebliche Freiheit und Gleichheit als Zeichen von Unterlegenheit, die nur möglich sei, da alle gleichermaßen arm wären.
Gegen dieses Stufenmodell spricht für die Autoren, dass Menschen immer schon mit verschiedenen Formen des Wirtschaftens und der sozialen Organisation experimentiert, mehrere dieser Formen gleichzeitig praktiziert oder nach Jahrhunderten wieder aufgegeben und später wieder aufgegriffen hätten. Menschen würden sich nämlich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie bewusste politische Entscheidungen treffen können. Bereits früh wären Menschen sehr mobil gewesen und hätten große Distanzen zurückgelegt. Dadurch lernten sie auch andere Kulturmerkmale kennen. Kulturareale wären entstanden, indem Menschen bewusst bestimmte Praktiken wie Ackerbau oder Sklavenhaltung übernahmen oder ablehnten. Bei dieser kulturellen Abgrenzung hätte es sich um einen politischen Prozess gehandelt, "weil er bewusste Auseinandersetzungen über die richtige Art zu leben beinhaltet". Damit grenzen sich die Autoren von jenen Ansätzen ab, die die Entstehung unterschiedlicher Kulturkreise auf Umweltfaktoren, vorherrschende Technologien oder kulturelle Aspekte zurückführen.
Dass Gesellschaften nicht unbedingt einem bestimmten Entwicklungsstadium zuzuordnen sind, zeigen auch jüngere Beispiele aus der Geschichte. Aufzeichnungen des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreiben den saisonalen Wechsel zwischen verschiedenen Organisationsformen am Beispiel der Inuit: Während sie im Sommer in Kleingruppen unter strenger Führung des Familienoberhaupts auf die Jagd gingen, ließen sich die Inuit während der langen Wintermonate an einem Ort nieder, an dem keine Hierarchien herrschten. Die Autoren beschreiben eine Reihe weiterer Gesellschaften, in denen das Ausüben autoritärer Macht ausdrücklich saisonal und befristet ist.
Noch vor den ältesten bekannten Städten Mesopotamiens gab es auf dem Gebiet der heutigen Ukraine sogenannte "Megastätten". Die größte davon, Taljanky im vierten Jahrtausend vor Christus, erstreckte sich über eine Fläche von dreihundert Hektar. Trotz dieser beachtlichen Größe gebe es keine Hinweise auf eine Zentralregierung oder Verwaltung. Obwohl die logistischen Herausforderungen einer solch großen Siedlung gewaltig gewesen sein dürften und Überschüsse produziert wurden, fänden sich "über acht Jahrhunderte hinweg … kaum Hinweise auf Kriege oder den Aufstieg sozialer Eliten". Auch in der berühmten jungsteinzeitlichen Großsiedlung Çatalhöyük in der heutigen Türkei lebten Tausende Menschen auf relativ engem Raum - anscheinend ohne zentrale Autorität oder Elitenviertel. Für Graeber und Wengrow zeigen diese Beispiele, dass "eine hochgradig egalitäre Organisation im städtischen Maßstab möglich war". Trotz ihrer Größe gelten solche Siedlungen aufgrund der Abwesenheit zentraler Kontrolle oder Verwaltung als "primitive" Gesellschaften und werden daher nicht mit dem Begriff "Stadt" gewürdigt. Gleichzeitig hätte es auch unter nicht sesshaften Jägern und Sammlern Statusgesellschaften mit strengen Rangordnungen oder Sklavenhaltung gegeben.
Anhand einer geradezu überwältigen Fülle an Beispielen aus allen Ecken der Erde illustrieren die beiden Autoren, wie unterschiedlich menschliches Zusammenleben in der Vergangenheit ausgesehen hat. Angesichts dieser Vielfalt an Optionen in der Menschheitsgeschichte sehen Graeber und Wengrow den gegenwärtigen Zustand der Welt auch nicht als unvermeidliches Ergebnis der Entwicklungen früherer Jahrtausende. Damit stellen sie sich gegen eine Gesellschaftstheorie, die die Entwicklung der Menschheitsgeschichte so darstellt, als hätte sie notwendigerweise dort enden müssen, wo wir heute stehen. Dadurch erscheint nicht nur die Geschichte, sondern auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos. Von Stefanie Gerold
Wir konnten auch anders
Annette Kehnel, Professorin für Mittelalterliche Geschichte, schildert Ansätze eines Wirtschaftens unter Beachtung ökologischer Kreisläufe. Das Mittelalter erscheint dabei nicht als finstere Epoche, in der die Mehrheit der Menschen unter miserablen hygienischen und wirtschaftlichen Bedingungen gelebt hätte, wie dies etwa Steven Pinker beschreibt, sondern als Epoche blühender kooperativer Wirtschaftsformen. Kehnel porträtiert Waldgenossenschaften, gemeinschaftlich genutzte Almweiden oder Fischgründe; sie schildert die Ordnungen der Handwerkerzünfte sowie des weitverbreiteten Reparaturgewerbes. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Berufe ist - so wird im Buch deutlich - keine Erfindung des arbeitsteiligen Wirtschaftens der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Über 1500 Berufe soll es allein im mittelalterlichen Frankfurt gegeben haben. Second-Hand-Läden sind ebenso keine neue Erfindung. Denn Re-Use und Recycling waren im Mittelalter gang und gäbe. Die neu entstehenden Klöster oder den Frauen vorbehaltene Beginen-Gemeinschaften schildert Kehnel als innovative Formen von "Ermöglichungsgemeinschaften" mit dem Ziel, weitgehend autark zu wirtschaften. Mit dem im Spätmittelalter aufkommenden Bankenwesen der florierenden Handelsstädte sind auch neue Finanzierungsformen für Kleinbetriebe entstanden - den späteren Genossenschaftsbanken oder heutigen Mikrokreditbewegungen ähnlich.
Kehnel eröffnet neue Sichtweisen: "Vor der Erfindung des Kapitalismus arbeiteten die meisten Menschen nicht besonders lange", schreibt sie. "Rhythmus und Geschwindigkeit des Lebens waren andere. Die Menschen verfügten sicherlich über weniger Geld, aber sie hatten mehr Zeit." Die Historikerin leugnet die diversen Probleme des Mittelalters nicht, macht aber deutlich, dass wir aus der vorkapitalistischen Wirtschaftsgeschichte durchaus für die Bewältigung der aktuellen ökologischen und sozialen Probleme lernen könnten. Wir müssten uns einem "Realitätscheck" stellen, meint sie. Der "Erfindung der Wegwerfgesellschaft" sowie des Homo oeconomicus, dem "verzweifelten Helden der Moderne", müsse ein gemeinschaftlich orientiertes Wirtschaften in Kreisläufen folgen. Dies erfordere auch einen mentalen Wandel. Denn: "Wie eine Wolke schwebt das unausgesprochene Gesetz der linearen (Höher-)Entwicklung in unseren Köpfen." Wir sind gut beraten, uns davon zu lösen. Von Hans Holzinger
Von der Herrin im Haus zur Dienerin am Mann
Die Unsichtbarkeit von Frauen und der von ihnen geleisteten Arbeit ist zu einem zentralen Topos geworden. Es geht dabei um reale Diskriminierung und um Wahrnehmungsmuster, die diese verschleiern. "Weibliche Unsichtbarkeit" beschreibt eine systemische Dimension der Diskriminierung, die tiefer liegt als die greifbaren und offensichtlichen Formen von Benachteiligung. Es geht um das, was ausgeblendet bleibt, weil durch die männliche Dominanz in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik die Paradigmen anders gesetzt wurden - gleich einem Scheinwerfer, der manches ausleuchtet, anderes aber im Dunkeln lässt.
Drei Bücher vor allem haben sich um diese Vertiefung verdient gemacht. So weist die Journalistin und Aktivistin Caroline Criado-Perez nach, dass die in der Gesellschaft erhobenen Daten Frauen systematisch nicht abbilden - eine "geschlechterbezogene Lücke", die Frauen systematisch benachteiligt. Die Sozial- und Systemwissenschaftlerin Riane Eisler wiederum zeigt, dass Fürsorge und Care-Arbeit, also die spezifische, vorwiegend von Frauen geleistete Art von Arbeit, in der etablierten Wirtschaftstheorie und -praxis ausgeblendet bleibt. Und die Frühhistorikerin Marylène Patou-Mathis schließlich zerstört den hartnäckigen Mythos, dass sich das Leben der Frauen in früher Zeit aufs eigene Heim konzentrierte, während die Männer für Schutz, Jagd und Krieg zuständig waren. Sie zeigt detailliert, dass die Geschichtswissenschaft über eineinhalb Jahrhunderte lang von einer Ideologie geprägt war, die Frauen systematisch abwertete.
Weibliche Unsichtbarkeit ist die systemische Form der Diskriminierung von Frauen. Und sie hat dieselben Wurzeln wie die Ablehnung alles Fremden und Andersartigen in Form des Rassismus.
Viel an Recherche wird noch nötig sein, das Wirken dieser Diskriminierung qua Konstruktion von Wahrnehmungsmustern nachzuzeichnen und zu zeigen, wie diese sich in realer Benachteiligung gewissermaßen verdinglichen. Etwa wie das Rollenbild der Hausfrau, das den Wirkungskreis der Frau auf das eigene Heim beschränkt und zugleich ihre dort geleistete Arbeit entwertet und unter den Wahrnehmungshorizont drängt, sich gesellschaftlich durchsetzen und so große Macht entfalten konnte. Das ist das Thema von Evke Rulffes und ihrem Buch Die Erfindung der Hausfrau. Darin zeigt sie, wie dieses wirkmächtige Rollenbild entstand und aus ideologischen Motiven durchgesetzt wurde.
Die Autorin schöpft dabei vor allem aus einer frühen Form der Ratgeberliteratur, die im 17. und 18. Jahrhundert recht verbreitet war: Alltagsratgeber für die Bewirtschaftung von großen Landhaushalten, konkret Die Hausmutter in allen ihren Geschäften, erschienen 1778 bis 1781. Diese Hausmutter ist allerdings nicht identisch mit der Hausfrau. Sie ist die Betriebsleiterin, die über eine mehr oder weniger große Zahl von Bediensteten verfügt, Einblick in die Finanzen hat, um ihren Mann gegebenenfalls vertreten zu können, die das Personal anleitet und ihr Haus gesellschaftlich repräsentiert. Dieses Rollenmodell aber erodiert. In einer historischen Umbruchsituation, als sich die moderne bürgerliche Gesellschaft zu formieren beginnt, entsteht die Hausfrau als neues Rollenmodell. Die Frau wird "von der Herrin im Haus zur Dienerin am Mann". Entscheidend dabei: die Idealisierung der Mutterrolle. "Der Wandel von der Figur der Hausmutter als tatkräftiger, zum Vermögen des Hauses produktiv beitragender Hälfte des Arbeitspaares zur Figur der bürgerlichen Hausfrau, deren Aufgaben als durchweg reproduktiv angesehen werden, verläuft über die Schnittstelle der Figur der Mutter."
Mit dem Aufkommen des Bürgertums wurde männliche Arbeit "zunehmend mit dem sich professionalisierenden Beruf, weibliche Arbeit mit ihrem Geschlecht verknüpft." Bürgerliche Ehefrauen übernahmen zunehmend auch Haushaltstätigkeiten, die zuvor als bezahlte Dienstleistungen ausgeführt worden waren, nun unentgeltlich. Hinzu trat ein ideologisches Motiv: die Theorie vom aktiven Mann und der passiven Frau, die in der Rolle der Dienerin und Mutter aufgeht. Propagiert wurde dieses "neue idealisierte Mutterbild" vom preußischen Staat aus bevölkerungspolitischen Motiven.
Rulffes’ Quellenstudie bündelt wie ein Brennglas Diskurse der Zeit. Sie liefert aber wegen des kurzen Erscheinungszeitraumes der Hausmutter-Ratgeber allenfalls schlaglichtartige - und zuweilen recht detailverliebt verfasste - Einblicke in die historische Entwicklung. Der Anspruch, den Wandel von der Hausmutter zur Hausfrau zu erklären, stützt sich dann mehr auf Sekundärquellen. Dennoch ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag, die Unsichtbarkeitslücke zu schließen. Und es bietet Einblicke in Ernährung, Wohnen und Hygiene in einer zurückliegenden Zeit, in der gleichwohl die Weichen für die Diskriminierung der Frauen heute gestellt wurden. Von Winfried Kretschmer
Zitate
"Lange Zeit wurden Organisationen auf eine Art betrachtet, die blind für die moralischen Dimensionen des Organisationslebens war." Lisa Herzog: Das System zurückerobern
"Organisationen werden von Menschen bevölkert, und wo diese miteinander interagieren, ist die moralische Dimension stets präsent." Lisa Herzog: Das System zurückerobern
"Die zentrale Frage lautet, ob wir uns Organisationen auch anders vorstellen und sie auch anders gestalten können: Menschlicher und eher in Einklang mit den moralischen Normen, die wir in anderen Sphären unseres Lebens für selbstverständlich halten." Lisa Herzog: Das System zurückerobern
"Arbeit ist jede zweckgerichtete Verausgabung von Energie für die Bewältigung einer Aufgabe oder die Erreichung eines Ziels." James Suzman: Sie nannten es Arbeit
"Warum messen wir Heutigen der Arbeit eine so viel größere Bedeutung bei, als unsere jagenden und sammelnden Vorfahren es taten?" James Suzman: Sie nannten es Arbeit
"Dieses Buch ist ein Versuch, mit der Erzählung einer anderen, hoffnungsvolleren und interessanten Geschichte zu beginnen." David Graeber, David Wengrow: Anfänge
"Vor der Erfindung des Kapitalismus arbeiteten die meisten Menschen nicht besonders lange. Rhythmus und Geschwindigkeit des Lebens waren andere. Die Menschen verfügten sicherlich über weniger Geld, aber sie hatten mehr Zeit." Annette Kehnel: Wir konnten auch anders
"Wie eine Wolke schwebt das unausgesprochene Gesetz der linearen (Höher-)Entwicklung in unseren Köpfen." Annette Kehnel: Wir konnten auch anders
"Die Geschichte der Nachhaltigkeit ist im Grunde genommen eine Geschichte der Resilienz." Annette Kehnel: Wir konnten auch anders
"Der Wandel von der Figur der Hausmutter als tatkräftiger, zum Vermögen des Hauses produktiv beitragender Hälfte des Arbeitspaares zur Figur der bürgerlichen Hausfrau, deren Aufgaben als durchweg reproduktiv angesehen werden, verläuft über die Schnittstelle der Figur der Mutter." Evke Rulffes: Die Erfindung der Hausfrau
changeX 01.06.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Die pro zukunft-Buchkolumne 02 | 2022 zur Sammelrezension
Die pro zukunft-Buchkolumne 01/2022 zur Sammelrezension
Vier Rezensionen und zwei Gedanken - die pro zukunft-Buchkolumne zur Sammelrezension
Die pro zukunft-Buchkolumne 03|2021 zur Sammelrezension
Zu den Büchern
Lisa Herzog: Das System zurückerobern. Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft. wbg Academic, Darmstadt 2021, 424 Seiten, 74 Euro (D), ISBN 978-3-534-27361-4
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
James Suzman: Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit. C.H.Beck Verlag, München 2021, 398 Seiten, 26.95 Euro (D), ISBN 978-3-406-76548-3
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-608-98508-5
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. Karl Blessing Verlag, München 2022, 488 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-89667-679-5
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Evke Rulffes: Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung. HarperCollins, Hamburg 2022, 256 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-749902408
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Martin FladererMartin Fladerer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, Trainer und Coach am Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Lehrstuhl für Forschungs- und Wissenschaftsmanagement an der Technischen Universität München. Er schreibt als freier Mitarbeiter für pro zukunft.
Autorin
Stefanie GeroldStefanie Gerold arbeitet als Postdoc am Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie der BTU Cottbus - Senftenberg. Sie studierte Volkswirtschaftslehre und Socio-Ecological Economics and Policy an der Wirtschaftsuniversität Wien. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Plattformarbeit, nachhaltiger Arbeit und sozial-ökologischer Transformation, Zeitwohlstand und Zeitnutzung sowie Arbeitskritik. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für pro zukunft.
Autor
Hans HolzingerHans Holzinger war Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg. Heute im Ruhestand schreibt er weiter für pro Zukunft, das Buchmagazin der JBZ.
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.