Gegenwart und Zukunft
Frische Ideen zur Stärkung der Demokratie. Die Moral, die Tiere und wir. Das Potenzial einer konstruktiven Zukunft. Selbst und Täuschung im Internetzeitalter. Auswege aus der Aufmerksamkeitsökonomie. Das sind die Themen der neuen Buchumschau.
Die Bücher: Elisabeth Niejahr und Grzegorz Nocko geben einen Band voller Ideen heraus, wie sich demokratische Prozesse befeuern lassen. Menschen haben moralische Pflichten gegenüber Tieren, sagt Christine M. Korsgaard. Lizzie O’Shea wirft einen Blick in die Vergangenheit, um das digitale Morgen zu gestalten. Jia Tolentino denkt essayistisch über die Selbsttäuschungen des Internetzeitalters nach. Und Jenny Odell motiviert zum Nichtstun als Gegenentwurf zur vorherrschenden Aufmerksamkeitsökonomie.
Demokratie befeuern
In diesem Buch geht es in erster Linie um die Frage, "was für die Demokratie, für ihre Stabilität und Lebendigkeit getan werden kann", so Elisabeth Niejahr, bekannt als langjährige Zeit-Redakteurin und seit 2020 Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, in der Einleitung zu dem mit ihrem Kollegen Grzegorz Nocko herausgegebenen Band Demokratieverstärker. Die beiden haben Vertreterïnnen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Publizistik und Politik eingeladen, Vorschläge zur Stärkung der Demokratie einzubringen. Konkret wurde gefragt, womit sich die Demokratie innerhalb von zwölf Monaten verbessern ließe. Es sollte also um Reformen, nicht um einen Totalumbau des politischen Systems gehen.
Die Beiträge sind insgesamt sechs Kapiteln zu von den Herausgebenden als wichtig erachteten Prinzipien einer Systemerneuerung zugeordnet. Erstens: das Denken in längeren Zeiträumen trotz der vorgegebenen Wahlperioden; zweitens: die Implementierung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses, der eine faire und effiziente Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht; drittens: Demokratie nicht nur als Angelegenheit gewählter Politikerïnnen begreifen, sondern die Beiträge aus Unternehmen, Zivilgesellschaft und Behörden fördern und herausstreichen; viertens: gut geplante Bürgerbeteiligung mit einem stabilen institutionellen Organisationsrahmen und entsprechendem Management umsetzen; fünftens: Etablierung von lebenslangem Demokratie-Lernen sowie einer positiven Fehlerkultur, was nicht nur politische Bildung in der Schule brauche, sondern auch entsprechende Fortbildungen für Abgeordnete; sechstens: die Ermöglichung und Förderung des Austauschs unterschiedlicher Milieus und Denkweisen in einem respektvollen Umgang miteinander.
Welche Ideen werden vorgestellt? Generationengerechtigkeit sollte durch die verstärkte Einbindung von Eltern in der Kommunalpolitik gefördert werden, schlägt etwa Christine Finke, Gemeinderätin in Konstanz, vor. Ehrenamtlichen Abgeordneten sollte hierfür die Kinderbetreuung abgegolten werden. Die Berufspolitikerinnen Dorothee Bär und Franziska Brantner fordern einen elternfreundlichen Politikbetrieb, etwa durch mehr Onlinesitzungen. Maja Göpel und Petra Pinzler erinnern an einen Rat für Generationengerechtigkeit, wie ihn der Sachverständigenrat für Umweltfragen vorgestellt hat. Der Publizist Maximilian Steinbeis möchte das Bundesverfassungsgericht durch eine Verfassungsänderung vor dem Zugriff der Regierungsparteien sowie vor Populisten schützen. Die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie das Teilen von Mandaten sollen die stetige Vergrößerung des Bundestags unterbinden, digitale Bundestagssitzungen und Homeoffice für Abgeordnete Kosten sparen, so Anke Hassel, Professorin für Public Policy. Der Geschäftsführer der UFA Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft plädiert für verpflichtende diverse Teams in Sendern und Produktionsfirmen. Der Extremismusexperte Ahmad Mansour wiederum fordert ein besseres Recruiting von Polizeibeamtinnen und -beamten plus mehr Fortbildungen für diese.
Ein besseres Politikmanagement sollte durch regelmäßige Stresstests für Behörden erreicht werden, meint Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Hertie-Stiftung. Der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach plädiert für die stärkere Nutzung von wissenschaftlichem Sachverstand im Politikbetrieb, wie dies Lobbyorganisationen bereits täten. Neue Formate wie Hackathons und andere Elemente von Open Social Innovation sollen in Krisensituationen schnelle Lösungen ermöglichen, schlagen die Sozialunternehmer Markus Sauerhammer und Holke Brammer vor. Ein Social-Innovation-Fonds solle die Aktivitäten finanzieren. Ähnlich der Vorschlag von Julia Borggräfe, Leiterin der Abteilung Digitalisierung und Arbeitswelt im Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Sie plädiert für den Einsatz agiler Arbeitsmethoden wie Design Thinking oder User Journeys, um beispielsweise Arbeitsrechtsgesetze anwendungsfreundlicher und bedarfsgerechter zu gestalten. Felix Creutzig von der TU Berlin schlägt Klimaräte vor, in denen gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern faire und gemeinsam akzeptierte Lösungen erarbeitet werden. Gloria Boateng von SchlauFox, einem Verein für Bildungsgerechtigkeit, macht sich für die Einführung von Service Learning, also dem Lernen anhand von Praxisprojekten, an allen Schulen stark. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel schließlich verlangt für sich und seine Kollegïnnen lebenslanges Lernen durch die Möglichkeit von ein- bis dreimonatigen Auszeiten vom Mandat. Zudem möchte er eine moderne Personalauswahl und Personalentwicklungsprozesse in den politischen Parteien. Bewusste Macht- und Kontrollabgabe, das Organisieren von Communitys, eine Fehlerkultur sowie das Teilen von Informationen und Wissen analog der Digitalbranche empfiehlt der Politikberater Martin Fuchs. Mit mehr und besseren öffentlichen Räumen, etwa Bibliotheken und Treffs, soll der Diskurs über politische Themen ermöglicht und durch entsprechende Formate gefördert werden, meint dazu passend Peter Siller vom Referat Strategie und Planung im Bundespräsidialamt. In dieselbe Kerbe schlägt im abschließenden Beitrag Wolfgang Kaschuba von der Stiftung Zukunft Berlin, wenn er den Austausch über die eigenen Milieus hinaus in neuen Beteiligungsformaten wie runden Tischen, kommunalen Foren oder Kulturräten empfiehlt.
Wie man sieht, in Summe sehr praxisnahe Vorschläge zur Verbesserung der demokratischen Kultur. Anzumerken ist, dass Forderungen zur Ausweitung direktdemokratischer Elemente (wie diese in Deutschlands Kommunen seit geraumer Zeit erfolgreich umgesetzt werden) sowie zur Schaffung von mehr Transparenz und politischer Aufklärung (etwa über Lobbyregister oder neue journalistische Netzwerke) in der Ideenliste fehlen. In politikwissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Debatten spielen diese mittlerweile eine wichtige Rolle. Von Hans Holzinger
Bewusstes Dasein als Gut an sich
Die US-amerikanische Philosophin Christine M. Korsgaard macht mit diesem Buch eine fundamentale Problematik sichtbar. Wir fragen uns gegenwärtig, wie wir den Tieren, die von uns für verschiedenste Zwecke genutzt werden, ein humanes Leben und Sterben ermöglichen können. Doch haben wir überhaupt das Recht, Tiere für unsere Zecke zu nutzen? Sind Tiere weniger wichtig als Menschen und haben sie keinen moralischen Status? Korsgaard argumentiert nicht, wie viele andere Tierrechtsverfechterïnnen, dass uns Menschen letztlich nichts von anderen Tieren unterscheide. Sie betont im Gegenteil den Unterschied und verortet ihn in unserer Rationalität, welche uns befähigt, die Gründe unseres Handelns zu hinterfragen. Die verbreitete Einstellung, Tiere seien weniger wichtig als Menschen, sei nicht nur falsch, sondern irrig. Was als wichtig gilt, ist immer bezogen auf etwas, das heißt, etwas kann nur für jemanden wichtig sein. So ist aber nicht für jedes Lebewesen etwas anderes wichtig und somit alles relativ - es kann trotzdem etwas absolut bedeutsam sein, wenn es das für alle ist: "Es ist unbedingt gut, gut für uns alle, dass jedes fühlende Geschöpf die Dinge bekommt, die gut für es sind, und die Dinge vermeidet, die schlecht für es sind." Auch lässt sich nicht messen, ob ein Leben für einen Menschen wichtiger ist als für ein anderes Tier, da wir keinen Standpunkt einnehmen können, um beides zu vergleichen. "Für Menschen wie Tiere ist das bewusste Dasein als solches ein Gut." Im zweiten Teil verfolgt die Autorin Kants Gedankengang nach, demzufolge Menschen als "Zwecke an sich selbst", Tiere aber als bloße Mittel gelten. Nur vernünftige Wesen könnten einen moralischen Status haben. Obwohl Kant nicht an menschliche Pflichten gegenüber Tieren glaubte, lässt sich doch mit kantschen Begriffen der moralische Status von Tieren begründen. Denn sein Diktum, über die Grenzen der Wissenschaft hinaus sei keine Erkenntnis möglich, bezeugt unseren begrenzten Platz in der Natur. Moralische Gesetze sind allein unsere Gesetze, nicht allgemeingültig. So sind Menschen aus kantscher Perspektive nicht wichtiger als andere Geschöpfe, sondern durch Empathie und Verstand ausgezeichnet, welche sie zu der Einsicht führen, dass jedes Tier als ein Zweck an sich selbst betrachtet werden muss.
Auch die Theorien bekannter Moralphilosophen wie Jeff McMahan, Tom Regan und Peter Singer diskutiert Korsgaard anschaulich, und widerlegt vielfach die utilitaristische Auffassung, nach der sich humane Tiernutzung legitimieren ließe, da Tiere keinen Zweck an sich hätten, sondern lediglich austauschbare Behälter für das Gute oder Schlechte seien. Nicht zuletzt beraubt die Tötung die Tiere unrechtmäßig ihres höchsten Gutes, des Lebens.
Im letzten Teil werden Konsequenzen dieser Einsichten und Widersprüchlichkeiten aufgezeigt: Müssen wir, um Tiere zu schützen, alle zu Haustieren oder alle zu Wildtieren machen? Die Überlegungen zu Haustierhaltung, Fleischverzehr und zu Tieren in Militär und Laboren machen eines deutlich: Es gibt keine einfachen Lösungen für die vielschichtigen Probleme unserer Interaktion mit Tieren, und wir können uns nicht einreden, Tiere wären weniger wichtig. Wir sollten, so die Autorin, die moralische Messlatte höher legen und uns dringender nach Alternativen beispielsweise für Tierversuche umsehen. Letztlich hält das Dasein der Tiere auch einen unschätzbaren Wert für uns bereit, es vermag uns Einsichten über uns selbst zu offenbaren und unsere Sinne für bewusstes Dasein zu wecken. Von Clara Buchhorn
Über das Potenzial einer konstruktiven Zukunft
Lizzie O’Shea ist Bürgerrechtsanwältin in Australien. Aus dieser Tätigkeit schöpft sie Erfahrungen, wie sich die Digitalisierung auf unser Leben auswirkt und welche Konflikte entstehen. Sie hat darüber hinaus umfangreiches Wissen über die Geschichte der Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte. Und sie interessiert sich dafür, wie eine gute, digitale Zukunft aussehen könnte. Diese drei Wissensbereiche führt sie in ihrem Buch Future Histories zusammen. "This is not a book about technology per se, nor is it about history or theory. Rather, it is an attempt to read these things together in fresh and revealing ways."
O’Shea nimmt zur Kenntnis, über welches Potenzial die digitalen Technologien bereits verfügen. Die Möglichkeit, die vielen Daten über uns, die im Netz anfallen, zu nutzen, um uns zu kategorisieren, zu beschreiben und sogar unser Verhalten vorauszusagen, beschreibt die Autorin eindrücklich. Nun ist es O’Sheas Ansatz, stets auch das positive Potenzial der Digitalisierung zu sehen. Könnte diese Datenflut nicht auch dazu dienen, uns einander näherzubringen, einander besser zu verstehen? Oder könnten Rückmeldungen zum eigenen Verhalten nicht auch nützlich sein? Das Problem sei nicht die Verfügbarkeit, sondern die Anwendung der Technologien. Denn heute werden sie nicht genutzt, um Verbindungen zwischen Privaten herzustellen, geschweige denn öffentlichen Raum zu schaffen, wo man frei kommunizieren könne, sondern ganz im Gegenteil: Einige wenige Unternehmen eignen sich die Daten an und nutzen diese hinter Mauern, Firewalls. Dort bestimmen sie allein die Regeln und legen fest, wie die Daten genutzt werden. So gestaltet greift die Digitalisierung immer tiefer in unser Leben ein. Mit der Einbindung der vielen alltäglichen Geräte des Haushalts, des Arbeitsplatzes und im öffentlichen Raum wird die Datenmenge über jeden Einzelnen immer weiter anschwellen.
Die Autorin bezweifelt auch, dass die Digitalisierung in der aktuellen Form uns mehr Sicherheit schenken wird. Denn die digitalen Anwendungen haben oft die Praktiken der Polizeiarbeit eingebaut. Gerade anhand des Racial Profiling wurde vielfach nachgewiesen, dass die Kriminalitätsrate ganz entscheidend von der Überwachungsintensität abhängt. So wurden in der Polizeiarbeit Vorurteile bestätigt und Probleme verschärft anstatt gelöst. "These biased data sets and algorithms, when used in a law enforcement context, have significant consequences. They generate a feedback loop shaped by racism and institutionalize certain understandings of risk." O’Shea fordert, dass die Algorithmen der Polizeiarbeit offengelegt werden. Auch die Ideologie des Transhumanismus, die Vorstellung, dass wir dabei seien, etwas Besseres als den Menschen zu schaffen, wird von der Autorin massiv infrage gestellt, indem sie in diesem Zusammenhang auf die technologischen Utopien der Vergangenheit verweist. Zweierlei stößt O’Shea bitter auf: Erstens lassen die Techno-Utopien stets offen, wie es denn gelungen sei, zu der jeweils imaginierten, technisch besseren Welt zu kommen, scheinbar wäre es der Technologie immanent, auch ihre Anwendung zum Guten zu garantieren; das aber sei ein verhängnisvoller Irrtum. Zweitens spiele Demokratie in den technologischen Utopien eine untergeordnete Rolle, als wäre es möglich, gesellschaftliche Entscheidungen "rational" zu berechnen.
Die Digitalisierung habe eine konstruktive Zukunft, wo sie einlade, zusammenzuarbeiten. O’Shea erinnert an das Jahr 1953, als IBM den ersten elektrischen Computer baute. Bis 1970 dominierte darauf die Mainframe-Software. Diese entstand in Kooperation zwischen verschiedenen Firmen und Privaten. O’Shea zitiert Professor Eben Moglen: "Mainframe software was cooperatively developed by the dominant hardware manufacturer and its technically sophisticated users, employing the manufacturer’s distribution resources to propagate the resulting improvements through the user community." Kooperation sei von Beginn an ein wichtiger Aspekt der digitalen Entwicklung und habe immer wieder sein Potenzial bewiesen: "Innovation is not epitomized by some tortured genius working alone or a billionaire who once came up with a clever idea. Some of our most radical new technological developments were a result of teamwork, drawing on multiple people’s varied skill sets." Man müsse die Open-Source-Bewegung stärken, denn nicht zuletzt sei Software eines der Produkte, das man verschenken kann, ohne deswegen selbst weniger davon zu haben. "If we are to explore the possibilities of digital technology, we need greater engagement between historians and futurists, technologists and theorists, activists and creatives. Synthesizing thinking across these fields gives us the best chance of a future that is fair." Von Stefan Wally
Sich Klarheit über alle Unklarheit verschaffen
Neun Essays versammelt Jia Tolentino in diesem Band, alle haben sie eine unterschiedliche thematische Ausrichtung, und genau das ist es wohl, warum die Lektüre hauptsächlich positiv rezipiert wird: Nicht alle Beiträge müssen zu einem sprechen, sicherlich tut es aber wenigstens einer und forciert damit - die Idee daraus auf die eigene Lebenswirklichkeit adaptierend - eine gewinnbringende Reflexion des Selbst, soweit dies in Anbetracht der immer da seienden Wissens- und Verständnisgrenzen möglich ist.
2019 ist die englische Originalausgabe von Trick Mirror erschienen, nun liegt auch die deutsche Übersetzung vor. Viel gepriesen, wurde Tolentino auch immer wieder eingeladen, um über ihr Schreiben zu sprechen. In diesen Interviews bestätigen sich ihre Intention und die Lesewirkung als übereinstimmend: Jeder Essay gibt einer Idee oder vielmehr einer Frage Raum, über die sich Tolentino Klarheit zu verschaffen sucht, denn: "Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft vertrauenswürdig, intuitiv und klar." Lösungsvorschläge präsentiert sie nicht, davon hält sich die Autorin bewusst fern. Wir können vielmehr ihrem Gedankenprozess folgen, nachvollziehen, wie sie sich einer Thematik mittels diverser Zugänge nähert, diese regelrecht einkreist, um die komplexen Bestandteile einer immer schneller werdenden, auf Monetarisierung jedes Teilbereichs ausgerichteten Welt sowie die meist mitspielende Rolle des Individuums darin ein Stück weit besser zu verstehen. Tolentino verdeutlicht gesellschaftliche Dynamiken voller Widersprüche anhand ihrer Biografie, die 1988 beginnt.
Roter Faden ist das "inszenierte Ich", wie es im Untertitel heißt, Mechanismen der Selbsttäuschung im digitalen Zeitalter. Es geht beispielsweise um das Aufwachsen in einem religiösen Setting, um Geschlechterrollen, einen permanenten Optimierungswahn. Ihr Bestreben, Sinnmuster in einem spätkapitalistischen Chaos zu entdecken - in dem alles ausgeschlachtet wird, "nicht mehr nur Güter und Arbeitskraft, sondern auch Persönlichkeit, Beziehungen und Aufmerksamkeit" -, sieht sich durch zahlreiche Stimmen alt- und neubekannter Denkerïnnen unterfüttert: E. M. Forster taucht etwa in der Bibliografie des Essays "Das Ich im Internet" auf, ebenso Erving Goffman und Jenny Odell. Die Seiten, in denen die Autorin stets nach dem Menschlichen in einem unmenschlichen System sucht, wirken wie ruhige Beobachtungsorte, bevor Tolentinos Leserinnen und Leser, das beendete Buch in Händen, in der Dualität von Wollen und Müssen, Selbst und Täuschung zurücktreten in eine verwirrende Welt, um an ihr zu partizipieren. Auch wenn es in den Essays keine Antworten zu finden gibt, so provoziert Tolentino mit scharfsinnigen, moralisierenden Überlegungen eine Verschiebung der Weltsicht - ihrer eigenen wie die ihrer Leserïnnen. Konsequent selbstkritisch bleibt sie dabei bis zum Schluss: "Ich kann das leise, unangenehme Summen der Selbsttäuschung hören, wann immer ich über all dies nachdenke - ein Ton, der nur noch lauter wird, je mehr ich versuche, ihn durchs Schreiben loszuwerden. Ich spüre, wie der tiefsitzende und wiederkehrende Verdacht an mir nagt, dass alles, was ich über mich selbst denken könnte, irgendwie zwangsläufig falsch sein muss." Von Katharina Kiening
Ausfahrt von der Aufmerksamkeitsautobahn
Nichts tun klingt zunächst ziemlich entspannend, wie wir aber im Verlauf der Lesereise durch Jenny Odells Gedanken herausfinden, hat es nicht selten auch etwas mit Disziplin, Mut und Widerstand zu tun. Es geht bei Weitem nicht um einen Zustand von Faulheit, sondern um einen Gegenentwurf zur Aufmerksamkeitsökonomie. Diese kann man sich dabei wie Autobahnen vorstellen, auf denen wir alle einzeln fahren, ohne einander großartig zu beeinflussen oder zu berühren. Hier ist immer klar, was wichtig ist und welche Dinge Aufmerksamkeit verdienen. Filterblasen, Algorithmen und allgemein anerkannte Lebensziele in Beruf und Freizeit schützen uns vor Überraschungen. Sie sorgen allerdings auch dafür, dass ein Wandel eher ausgeschlossen ist und wir uns in "sozialen Monokulturen" verstetigen. Die unbefreite Aufmerksamkeit der Ökonomie hat ein enges Sichtfeld - Vorurteile oder Voreinstellung könnte man es nennen -, vieles zieht in der Peripherie vorbei und wird kaum verarbeitet oder sofort bestimmten Kategorien zugeordnet. Entstanden ist dieser Zustand laut Odell aufgrund der menschlichen Dominanz in dieser Welt, welche uns zunächst von der Natur und schließlich auch von uns selbst entfernt hat: "Wir haben uns selbst ein Bein gestellt, indem wir dachten, wir könnten von diesem Leben unabhängig existieren, aber das ist physisch unmöglich und überdies in manch anderer Hinsicht armselig."
Nichts tun hat nach Odell demnach mit der Rückgewinnung der Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zu tun, mit dem Ausstieg aus dem Dogma, dass "etwas tun" nur im Sinne der Produktivität möglich ist. Damit sich Räume und auch Zeit zu schaffen, um den Blick und die Gedanken schweifen lassen zu können. Räume, in denen ökonomische Prinzipien nur einige von vielen sind und das "höher, schneller, weiter" der kapitalistischen Realität dem "was und wer ist um mich" weicht. Der Abstand zum vermeintlich "Normalen" kann dessen Absurdität vor Augen führen. Bereits Diogenes sagte, dass vermeintlich geistig gesunde Menschen die eigentlich Irren waren, da sie eine Welt voller Habgier, Korruption und Dummheit aufrechterhielten. Doch das kapitalistische System ist unglaublich potent, wenn es darum geht, sich die Kritik am System quasi einzuverleiben und sich dadurch neu zu erfinden. Die Erfindung des Digital Detox im Silicon Valley ist ein aktuelles Beispiel dafür: Entstanden aus dem Bedürfnis, dem ewigen Verwertbarkeitskreislauf etwas entgegenzusetzen, ist es inzwischen wieder in genau diesem Kreislauf angekommen: als kommodifizierte Leistung, Wellness oder Firmenevent. Sich selbst in freier Aufmerksamkeit zu üben ist demnach eine kontinuierliche Aufgabe, denn die Gefahr, dass der Widerstand immer wieder im System aufgeht, ist omnipräsent.
Odell zeigt uns mit zahlreichen Ausflügen in Philosophie, Kunst und Wissenschaft, mit welchen Methoden Menschen schon immer versucht haben, sich in der Welt der Produktivität zurechtzufinden. Die Beispiele werden von verschiedenen Seiten beleuchtet und zeigen so Stärken und Schwächen der Ansätze. Daraus entwickelt die Autorin einen modernen, sich der Welt nicht entziehenden Entwurf, das heute und mit heutigen Mitteln zu erreichen. Immer präsent bleibt dabei, dass es sich vor allem um einen professionell ergänzten Erfahrungsbericht handelt. Wir begleiten Odell auf Spaziergängen und Ausflügen in Stadt und Natur, in denen sie den Wert dessen deutlich macht, was sie im Hier und Jetzt leben nennt. Sie tut mit diesem Buch genau das, wovon sie uns auch erzählt: Sie leitet unsere Aufmerksamkeit nur wenig, überall bleibt genug Raum, um abzuschweifen, den zahlreichen Beispielen oder eigenen Gedanken nachzugehen, sie wahrzunehmen und für sich zu reflektieren. Will man beim Lesen vorankommen, ist das vielleicht störend. Aber wer nur das bei diesem Buch versucht, hat dessen Botschaft auch noch nicht verstanden.
Wenn Metriken und Algorithmen unser Tun, Denken und schließlich auch unsere Ziele bestimmen, indem sie unsere Aufmerksamkeit formen, so hat das weitreichende Folgen für die Willensbildung. Wie sich das weltlich und politisch auswirkt, kann beispielsweise an Radikalisierungen, an Naturzerstörung, Diskriminierung oder der drastisch steigenden psychischen Überlastung abgelesen werden. Kein Wunder, so ist doch Erschöpfung zu einem Statussymbol für Fleiß geworden. Die gute Nachricht ist, dass das auch von der anderen Seite her funktioniert: "Wenn dein Aufmerksamkeitsmuster sich verändert, dann erschaffst du deine Realität anders. Du beginnst, dich in einer anderen Art von Welt zu bewegen und zu handeln." Öffnen wir uns also wieder und trauen uns, die Aufmerksamkeitsautobahnen des Kapitalismus zu verlassen, so kann das eine sehr ermächtigende Wirkung haben und den Lauf der Dinge durchaus verändern. "Es bedarf einer Pause, (…) um nichts zu tun, um einfach zuzuhören, sich auf tiefster Ebene daran zu erinnern, was, wann und wo wir sind." Ein im besten Sinne inspirierendes Buch, das sich ganz authentisch keinem Genre zuordnen will. Von Dhenya Schwarz
Zitate
"Für Menschen wie Tiere ist das bewusste Dasein als solches ein Gut." Christine M. Korsgaard: Tiere wie wir
"If we are to explore the possibilities of digital technology, we need greater engagement between historians and futurists, technologists and theorists, activists and creatives. Synthesizing thinking across these fields gives us the best chance of a future that is fair." Lizzie O’Shea: Future Histories
"We are facing a future in which some of the best technological developments are made in relation to warfare or commerce rather than freedom and empowerment." Lizzie O’Shea: Future Histories
"Ich spüre, wie der tiefsitzende und wiederkehrende Verdacht an mir nagt, dass alles, was ich über mich selbst denken könnte, irgendwie zwangsläufig falsch sein muss." Jia Tolentino: Trick Mirror
"Wenn dein Aufmerksamkeitsmuster sich verändert, dann erschaffst du deine Realität anders. Du beginnst, dich in einer anderen Art von Welt zu bewegen und zu handeln." Jenny Odell: Nichts tun
"Es bedarf einer Pause, (…) um nichts zu tun, um einfach zuzuhören, sich auf tiefster Ebene daran zu erinnern, was, wann und wo wir sind." Jenny Odell: Nichts tun
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Zu den Büchern
Elisabeth Niejahr, Grzegorz Nocko (Hg.): Demokratieverstärker. 12 Monate, 21 Ideen. Eine Politikagenda für hier und jetzt. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, 245 Seiten, 22.95 Euro (D), ISBN 978-3-593513836
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Christine M. Korsgaard: Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Verlag C.H.Beck, München 2021, 346 Seiten, 29.95 Euro (D), ISBN 78-3-406-76545-2
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Lizzie O’Shea: Future Histories. What Ada Lovelace, Tom Paine, and the Paris Commune Can Teach Us About Digital Technology. Verso, London 2019, 336 Seiten, £18.99, ISBN 978-1-788734301
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Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 368 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-10-397056-2
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Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Verlag C.H.Beck, München 2021, 296 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-406-76831-6
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Autor
Clara BuchhornClara Buchhorn ist freischaffende Grafikdesignerin und Kulturjournalistin. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für proZukunft, das Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg.
Autor
Hans HolzingerHans Holzinger war Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg. Heute im Ruhestand schreibt er weiter für pro Zukunft, das Buchmagazin der JBZ.
Autorin
Katharina KieningKatharina Kiening ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Foto: Andre Hinderlich
Autorin
Dhenya SchwarzDhenya Schwarz studierte Politikwissenschaften und Soziologie mit Fokus auf das Wandlungspotenzial digitaler Technologien für Gesellschaft und Individuum. Seit 2018 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technik- und Organisationssoziologie der RWTH Aachen University. Sie engagiert sich als Boardmitglied des Netzwerks für Zukunftsforschung, in der Redaktion der Zeitschrift für Zukunftsforschung sowie als Rezensentin für das pro-zukunft-Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek in Salzburg.
Autor
Stefan WallyStefan Wally ist Geschäftsführer der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg und schreibt als Rezensent für das pro zukunft-Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek.