Folge 8 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
Im Jahr 1955 proklamierte der damalige Bundespräsident Theodor Heuss in einer Rede, dass "die größte Revolution im 20. Jahrhundert die veränderte Rolle der Frau ist". Von radikalen Umbrüchen in Sachen Geschlechterhierarchie war zu diesem Zeitpunkt allerdings wenig zu spüren. Zwar hatten sich die Verfassungsgeber der Nation einige Jahre zuvor nach hitzigen Debatten darauf geeinigt, dass Männer und Frauen laut Grundgesetz gleichberechtigt sind. Doch in der Arbeitswelt galt dieses Recht noch lange nicht. Wer damals als verheiratete Frau einen Job annehmen wollte, konnte dies nicht ohne die Erlaubnis des Ehegatten tun. Der durfte überdies bestimmen, was mit dem Verdienst seiner Frau geschieht, und kündigen konnte er ihr Arbeitsverhältnis jederzeit auch. Als diese Verordnung 1958 aufgehoben wurde, gestand der Gesetzgeber Frauen zwar die eigenmächtige Verfügung über ihre Arbeitskraft zu, aber nur, wenn "dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist". Erst 1977 wurde dieser Passus endgültig gekippt, und heute wirkt das patriarchalische Modell der Nachkriegs-Arbeitsgesellschaft allenfalls noch wie ein schlechter Altherrenwitz. Die Revolution hat stattgefunden, aber nicht als historischer Paukenschlag, sondern als schleichende, nahezu lautlose Entgrenzung der Geschlechterrollen, der Lebensentwürfe und der Arbeitswelt schlechthin.
Arbeit mit Spaß und Sinn.
Dass Frauen inzwischen eine
Schlüsselrolle im Wandel der Erwerbsgesellschaft innehaben, liegt
allerdings vielerorts noch unter der Wahrnehmungsschwelle, wohl
auch deshalb, weil es den eingeübten Denkschablonen schlicht
widerspricht. Zwar registrieren Arbeitsmarktstatistiker seit
Jahren eine steigende weibliche "Erwerbsneigung". Doch allein
dieser kraftlose Begriff spricht Bände - spiegelt er doch immer
noch das Bild der bescheiden dazuverdienenden Hausfrau wider.
Tatsache ist jedoch, dass sich die "erwerbsgeneigte" Frauenriege
zu einer tatkräftigen und eigensinnigen Massenbewegung formiert
hat. Längst ist der weibliche Teil der Erwerbsbevölkerung aus dem
"stillen Reserveheer des Arbeitsmarkts" desertiert und hat seine
Geländegewinne selbst in die Hand genommen. Im vergangenen Jahr
zählte die Statistik hierzulande 16,6 Millionen berufstätige
Frauen gegenüber 20,1 Millionen Erwerbsmännern, was im Klartext
heißt, dass die Wirtschaft ohne die weibliche Arbeitskraft zum
Erliegen kommen würde. Dazu kommt, dass sich die männliche
Erwerbsbeteiligung seit geraumer Zeit gegenläufig zur Dynamik der
weiblichen entwickelt. Waren in Deutschland 1961 noch 93,5
Prozent der Männer berufstätig, aber nur 44,4 Prozent der Frauen,
so arbeiten heute nur noch 72,8 Prozent der männlichen
Bevölkerung - aber 62,2 Prozent der weiblichen. "Gründe für die
steigende Arbeitslosigkeit sind wiederum in fast allen
frühindustrialisierten Ländern ein sinkendes Arbeitsvolumen bei
steigender Erwerbsbeteiligung", hatte schon die
Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen
konstatiert. Und an anderer Stelle präzisiert: "Ohne dass die
Erwerbsbeteiligung von Männern entsprechend zurückgeht, suchen
Frauen zunehmend Beschäftigung."
Dabei hat die kontinuierlich ansteigende
Frauenerwerbsquote nicht nur quantitative, sondern auch
qualitative Auswirkungen auf die Arbeitsgesellschaft. Denn mit
ihrem Eintritt ins Erwerbsleben übernehmen Frauen keineswegs auch
automatisch die herkömmlichen Standards des männlich geprägten
Normalarbeitsverhältnisses. In das enge Korsett der industriellen
Arbeitsorganisation - strikte Trennung von Erwerbs- und
Familienleben, rigides Reglement von Arbeitszeit und Arbeitsort,
standardisierte Abläufe und Aufstiegswege - haben Frauen niemals
gut gepasst. Wenig anziehend war und ist für die meisten von
ihnen auch das immer noch gültige sozialpolitische Leitbild des
dauerhaften Vollzeitarbeitsverhältnisses, das die Zuständigkeit
für Haus- und Familienarbeit quasi stillschweigend in Frauenhände
legt. In diesen liegt aber mittlerweile ein gewichtiger Teil der
Erwerbsarbeit, und so wundert es nicht, dass die
Männerarbeitswelt von gestern ordentlich aufgemischt wird.
Berufstätige Frauen wollen Geld verdienen und sich selbst
verwirklichen - aber nach ihren eigenen, individuellen
Bedingungen und Bedürfnissen. Sie wollen einen Job, der ihnen
genügend Flexibilität für Karriere und Familie bietet. Sie legen
Wert darauf, dass ihre Arbeit Spaß und Sinn macht. Sie wollen im
Erwerbsleben nicht einfach nur funktionieren, sondern sich
persönlich einbringen. Und sie möchten ihre Arbeit um ihr
Privatleben herum organisieren, nicht umgekehrt. Viele jedenfalls
wollen das, was nicht zuletzt die hohe Nachfrage nach sogenannter
atypischer Arbeit, wie Teilzeit- oder Minijobs, freie Mitarbeit,
befristete Projektarbeit oder Mikrounternehmertum beweist. Dieser
Boom der bunten Beschäftigungsverhältnisse ist eben nicht nur
eine widrige Folge wirtschaftlicher Rationalisierungs- und
Flexibilisierungsmaßnahmen. Er ist auch eine gesellschaftlich
gewünschte und geschaffene Alternative zum eindimensionalen,
starren und leblosen Arbeitsbegriff der Vergangenheit.
Feminisierung der Beschäftigung.
Wie eng die fortschreitende Erosion
der industriellen Arbeitsgesellschaft mit dem Aufbruch der
weiblichen Erwerbsbevölkerung verzahnt ist, kondensiert sich in
einem Terminus, der erstmals 1995 in einem UN-Papier zur
Globalisierung auftauchte: die Feminisierung der Beschäftigung.
Damit ist zunächst die schlichte Tatsache gemeint, dass weltweit
immer mehr Frauen am Erwerbsleben teilnehmen. Mittlerweile kommt
dieser Begriff aber auch immer dann ins Spiel, wenn es um die
komplexen und nicht selten problematischen
Transformationsprozesse der modernen Arbeitsgesellschaft geht.
Ambivalent sind dabei die Meinungen darüber, ob die Feminisierung
der Arbeit als Chance oder als Risiko zu sehen ist. Finden Frauen
nur deshalb massenhaft Beschäftigung, weil ihre Ansprüche an
Gehalt, Jobsicherheit und Sozialstandards geringer sind als die
der Männer? Wird gar ihre hohe Bereitschaft, flexibel zu
arbeiten, von renditehungrigen Unternehmen schamlos ausgebeutet -
zulasten der teueren und tariflich geschützten
Vollzeitarbeitsplätze? Oder spiegelt die Feminisierung der
Beschäftigung eine selbstbewusste Suche nach neuen Lebensformen
wider, jenseits der alten Grenzlinien zwischen bezahlter und
unbezahlter Arbeit, formeller und informeller Beschäftigung,
materiellem und immateriellem Gewinn. Ist die weibliche
Erwerbsbevölkerung gar die Speerspitze einer neuen
emanzipatorischen "Arbeiterinnenbewegung", die das Berufsleben
sukzessive von den Fesseln der Abhängigkeiten, der starren Rollen
und der zwanghaften Reglements befreit?
Indessen helfen blauäugige Utopien ebenso wenig wie
gruselige Verelendungsapokalypsen, um zum Wesenskern der weiblich
gewandelten Arbeitswelt vorzudringen. Nützlicher ist dabei eine
andere, pragmatischere Perspektive, die in der zuweilen
dogmatisch geführten Diskussion um die Feminisierung der Arbeit
leicht aus dem Blickwinkel gerät. Es geht um die grenzenlose
Vielfalt der Berufsmöglichkeiten, auf die Frauen heute zugreifen
können. Fakt ist, dass sie sich von keinem Arbeitsgebiet, keiner
Position, keinem Geschäft mehr ausschließen lassen und vormals
reine Männerdomänen längst überrannt haben. Mehr oder weniger,
jedenfalls - aber wohlgemerkt: Vor kaum einem Jahrhundert noch
ließen sich weibliche Erwerbsmöglichkeiten an den Fingern einer
Hand abzählen: Dienstmagd, Krankenschwester,
Textilfabrikarbeiterin, Erzieherin - Sekretärin vielleicht noch,
aber mehr war für die überwiegende Mehrheit der weiblichen
Erwerbsbevölkerung nicht drin. Zwar erweiterten sich mit der Zeit
die beruflichen Tätigkeitsfelder der Frauen, doch solange die
Wirtschafts- und Arbeitswelt im Takt des Industriezeitalters
lief, spielten die meisten von ihnen darin nur die subalterne
Nebenrolle der Zuverdienerin und Zuarbeiterin, deren
Hauptzuständigkeit nicht die Produktion, sondern die Reproduktion
betraf. So wollte es das Lohnarbeitssystem, weil es sonst seine
wichtigste Grundlage - die unbezahlte Haus- und Familienarbeit -
verloren hätte. So wollten es die Männer, weil sie sonst ihren
Status und ihr Ansehen eingebüßt hätten - noch in den 70er-Jahren
galt es als Zeichen des Wohlstands, wenn die Ehefrau nicht
berufstätig war. Und so wollten es nicht zuletzt auch viele
Frauen, weil es ihren eigenen Vorstellungen von Weiblichkeit
entsprach. Oder weil Widerspruch mangels Alternativen zwecklos
war.
Freiheit zur Differenz.
Diese Allianz des Willens ist heute
vielfach gebrochen. Die Wissensökonomie ist auf vielfältige
Talente angewiesen, insbesondere auf jene, die als eher weiblich
gelten, sprich: auf Kommunikations-, Vernetzungs- und
Beziehungskompetenz. Der Arbeitsmarkt wäre angesichts einer
schrumpfenden und alternden Bevölkerung restlos ausgetrocknet,
wenn er hauptsächlich männliche Erwerbsarbeit anbieten und
nachfragen würde. Die Männer wiederum können und wollen sich ihre
Rolle als Alleinernährer immer weniger leisten und erkennen
zunehmend die bedrückende Enge ihrer vollzeitigen, lebenslangen
Angestelltenexistenz. Und die Frauen? Sie haben dem Modell der
patriarchalischen Arbeitswelt schlicht die Glaubwürdigkeit
entzogen und damit mehr Emanzipation und Wandel ermöglicht, als
es jede Quote vermocht hätte. Denn von einer Ordnung, an die man
nicht mehr glaubt, lässt man sich auch nicht mehr gängeln,
ausbeuten oder diffamieren.
Die Revolution hat in den Köpfen und Herzen der Frauen
stattgefunden, in ihrer Einstellung zu sich selbst, zu ihren
Fähigkeiten, Bedürfnissen, Wünschen und Träumen. Heute sind
Frauen so frei, ihren eigenen, individuellen Zugang zur Arbeit zu
finden, statt auf den ausgetrampelten Pfaden der männlichen
Erwerbsmuster herumzustolpern. Mag sein, dass auch das der Grund
ist, warum nur wenige Frauen ins Topmanagement streben, dass sie
in technischen Berufen so wenig präsent sind und oft lieber
Teilzeit als Vollzeit arbeiten. Doch genau diese Freiheit der
Frauen, sich bewusst gegen das Typische, das Symmetrische, das
Stereotype und das Vorgegebene zu entscheiden und stattdessen das
zu tun, was sie wirklich tun wollen, hat die Arbeitswelt und die
Geschlechterrollen einschneidend verändert. Und diese Freiheit
zur Differenz - weniger die Gleichheit als vielmehr die Vielfalt
- ist das eigentlich Emanzipatorische, Revolutionäre unserer
gewandelten Arbeitswelt. Auch wenn es noch eine Zeit lang dauern
wird, bis dieser Wandel endgültig verdaut ist.
Gundula Englisch, Journalistin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
© changeX [14.02.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.
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