Folge 4 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
|
Portfolioworker, Multijobber, Patchwork-Unternehmer?
Morgens texten, mittags Messestände
durchrechnen, abends Perlennetze knüpfen - ein wenig erinnert das
an das Marx'sche Ideal des allseits entfalteten Menschen, der die
Freiheit besitzt, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu
jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach
dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe". Im
Mediensprech von heute heißen solche Menschen Portfolioworker,
Multijobber oder Patchwork-Unternehmer, und nicht immer ist diese
Art von Arbeit deckungsgleich mit dem romantischen Bild des
jungen Marx. Stattdessen kommt das Phänomen der multiplen
Berufspersönlichkeit so facettenreich daher, dass es sich weder
in gängige soziologische Schubladen einsortieren lässt noch in
die Arbeitsmarktstatistik. Zwar hat das Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung festgestellt, dass hierzulande
eine steigende Zahl von Menschen mehr als einer Beschäftigung
nachgeht. Doch eine Bewertung dieser Entwicklung fällt den
Experten schwer, denn es sei unklar, ob Arbeitnehmer bewusst
flexibler arbeiten wollen oder ob sie schlicht der Not gehorchen.
Diffus bleibt auch, wie viele Menschen parallel in mehreren
Berufen arbeiten. Zwei bis sieben Millionen Erwerbsbürger sollen
es inzwischen sein. Dabei ist die Bandbreite dieser Schätzung
ebenso ausladend wie die der Motivlagen für Multijobbing. Sie
reichen vom Niedriglohnempfänger, der auf den Zweit- oder
Drittjob angewiesen ist, um sich finanziell über Wasser zu
halten, bis hin zum gut verdienenden Wissensarbeiter, der den
Parallelberuf wählt, um seiner Berufung folgen zu können. Auch
die öffentliche Debatte um das, was im Amtsdeutsch schwerfällig
"Mehrfachbeschäftigung" heißt, pendelt zwischen den
Erklärungsmustern Not und Selbstverwirklichung.
Für Gisela Ritzenthaler indessen sind die Grenzen zwischen
materieller Notwendigkeit und ideellem Anspruch fließend. "Es ist
wichtig, meine Existenz auf mehrere Beine zu stellen, damit ich
nicht umkippe, wenn eins einknickt. Wenn im Sommerloch wenig
Text- und Projektarbeit anfällt, überbrücke ich die Durststrecke
mit der Schmuckherstellung. Aber genauso wichtig ist es mir,
damit etwas zu tun, für das ich brennen kann."
"Die Freiheit, das zu tun, was ich will."
|
Ähnlich Gisela Ritzenthaler. Auch für sie kommt ein eigener Laden für ihre Perlenkollektion nicht in Frage. Auf andere angewiesen zu sein oder sich Sachzwängen zu unterwerfen ist ihr ein Gräuel. Allerdings hat es eine Zeit lang gedauert, bis sie ihr Solistentum als solches akzeptieren konnte. "Am Anfang glaubte ich auf der Verliererstraße zu sein, wenn die Umsätze nicht stiegen und mein Geschäft nicht expandierte. Aber heute möchte ich dieses Wachstum gar nicht mehr. Wenn ich schon das Risiko der Selbständigkeit trage, dann will ich wenigstens auch die Vorteile genießen, nämlich die Freiheit, das zu tun, was ich will."
Wachstum, persönliches.
Gisela Ritzenthaler und Katrin
Mucke verkörpern ein Unternehmerbild, das Zukunft zu haben
scheint. Im Selbstverständnis der meisten Mikrounternehmer oder
Portfolioworker hat Wachstum weniger eine
betriebswirtschaftliche, sondern vielmehr eine persönliche
Bedeutung. Das bestätigen auch die wenigen Studien, die über
diese neuen Selbständigen bisher gemacht wurden. Wissenschaftler
der TU München etwa haben die Szene der IT-Mikrounternehmer
untersucht und immer wieder die gleichen Antworten bekommen:
Erfolg ist, wenn Arbeit Spaß macht, Abwechslung und
Lerngelegenheit bietet, Freiräume öffnet und die Entwicklung der
eigenen Persönlichkeit voranbringt. Und noch etwas hat die Studie
ans Licht gebracht. Für viele dieser neuen Selbständigen hat
Arbeit Freizeitwert. Das in der Öffentlichkeit gern kolportierte
Bild vom gehetzten, gestressten und sich selbst ausbeutenden
Mehrfachbeschäftigten mag für einen Teil dieser Menschen
zutreffen. Aber mindestens ebenso viele Multijobber haben mit der
Balance zwischen Arbeit und Freizeit nicht das geringste Problem.
"Leben, lieben und arbeiten ist für mich eins - eine untrennbare
Verbindung", sagt Gisela Ritzenthaler. "Das fließt genauso
ineinander wie meine unterschiedlichen Tätigkeiten." Wenn sie
beim Texten nicht weiterkommt, widmet sie sich ihren Perlen, und
wenn sie an ihren Schmuckstücken arbeitet, kommen ihr Ideen für
andere Projekte. Es ist dieser Wechsel zwischen Hand- und
Kopfarbeit, zwischen hartem Business und kreativer
Selbstverwirklichung, zwischen dem Eingehen auf Kundenwünsche und
dem Ausleben der eigenen Talente, den die 49-Jährige als
besonders bereichernd empfindet. Und als etwas, das sie in ihren
früheren Festanstellungen schmerzlich vermisst hat, obwohl sie
anspruchsvolle Jobs mit hoher Personal- und Budgetverantwortung
hatte: "Herkömmliche Unternehmensstrukturen sind immer mit
Routine und Eintönigkeit verbunden, auch in leitenden Funktionen.
Außerdem fließt gerade in Konzernen viel Energie in Grabenkämpfe.
Ich möchte meine Energie aber lieber wertschöpfend einsetzen und
das gelingt mir jenseits der Festanstellung viel besser."
Ähnlich schlechte Erfahrungen mit festbetonierten
Konzernstrukturen hat auch Katrin Mucke gemacht. Nach elf Jahren
im mittleren Management eines Autokonzerns hatte sie genug:
"Sicherheitsversessene Vorgesetzte, keine Freiräume für
Experimente, null Flexibilität und überall Intrigen - das ist
nicht meine Welt." Dass sie jemals wieder einen festen
Arbeitsvertrag unterschreiben wird, glaubt sie nicht. "So ein Job
müsste meine Ideen, Ansprüche und Bedürfnisse in jeder Hinsicht
abdecken und so einen Job gibt es wahrscheinlich nicht."
Your ass will follow.
Wohl wahr, denn Kästchendenken,
Anordnungskultur, Missgunst und Risikoscheu sind in der
Unternehmenswelt immer noch eher die Regel als die Ausnahme.
Welcher Chef hat seine Mitarbeiter jemals nach der ganzen
Vielfalt ihrer Fähigkeiten und Talente gefragt, geschweige denn
ob und wie sie damit einen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten
könnten? Und wie sollen Unternehmen die Einzigartigkeit ihrer
Mitarbeiter erkennen und fördern, wenn ihnen selbst die
individuellen Bedürfnisse ihrer Kunden noch Kopfschmerzen
bereiten? So ist die Bewegung der Patchwork-Selbständigen zum
großen Teil wohl auch eine Abstimmung mit den Füßen: gegen eine
Arbeitswelt der Anpassung, Abhängigkeit und Langeweile. Und für
einen Job, der es erlaubt, so zu arbeiten, wie man leben will.
Selbst wenn es manchmal kaum zum Leben reicht. Sowohl Gisela
Ritzenthaler als auch Katrin Mucke wissen, was es heißt, an die
eisernen Notgroschen zu gehen, den Dispokredit gekürzt zu
bekommen und nur das Notwendigste kaufen zu können. "Manchmal
hadere ich mit dieser existenziellen Unsicherheit, aber auf der
anderen Seite ist sie vielleicht auch ein starker Motor", sagt
die Betriebswirtin. Sicherheit sei ein "nice to have" - aber auch
ein enormer Bremsklotz für die persönliche Entwicklung. Und die
ist ihr einfach zu wichtig, um sie unter Ängsten und
Selbstzweifeln zu begraben. Für Katrin Mucke ist Arbeit eine
Abenteuerreise mit Unwägbarkeiten, Überraschungen und Umwegen.
Ihr nächstes Ziel auf dieser Reise könnte das Weindorf sein, in
dem sie neulich ein paar Tage verbracht hat, um die
Geschäftsbücher einer befreundeten Winzerin zu ordnen. "Dort habe
ich bemerkt, dass ich eigentlich weg will von den üblichen
Verzwickungen des Business und hin zum Ursprünglichen - zu
alternativen Lebensformen, anderem Bewusstsein, neuem Denken."
Wer bin ich? Was gibt mir Energie? Wie will ich arbeiten?
Was ist meine Botschaft? Wie will ich leben? Diese Orientierung
von innen heraus ist für Portfolioarbeiter ein unverzichtbarer
Kompass auf ihrer Querfeldein-Wanderung abseits der ausgetretenen
Karrierepfade. Mehr noch: Diese Selbstreflexion ist Voraussetzung
für ein erfolgreiches Austarieren der materiellen und der
ideellen Ansprüche an die berufliche Existenz. Zu diesem Schluss
kommt auch die Soziologin Sigrid Betzelt in ihrer Analyse der
flexiblen Wissensarbeit. Es seien gerade die subjektiven
Orientierungen und die reflexiven Handlungsstrategien der
Akteure, die das Funktionieren des flexiblen Erwerbsmodells
ermöglichen, sprich eine "mehr oder minder gelungene Balance
zwischen individuellen Freiheitsgraden und marktlichen
Restriktionen".
Für das, was hier in sperrigem Soziologendeutsch
konstatiert wird, hält Gisela Ritzenthaler eine griffigere Formel
parat: "Move your mind and your ass will follow. Ich versuche,
meine Träume zu bewegen und der Rest wird schon werden. Ich mache
weiter als Gelegenheitsarbeiterin und verlagere meine Tätigkeiten
sukzessive in Richtung Leidenschaft." Sagt's, holt ihren
Rollcontainer mit den Perlen heran und macht sich ans
Werk.
Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.
© changeX [14.11.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 14.11.2007. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Jeder Mensch sollte das tun können, was er wirklich will - ein Gespräch mit Frithjof Bergmann. Folge 3 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt. zum Interview
Arbeiten in der digitalen Boheme - eine Reportage von Anja Dilk. Folge 2 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt. zum Report
Die neue Arbeitswelt kennt keine Grenzen - ein Essay von Winfried Kretschmer. Folge 1 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt. zum Essay
Autorin
Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.
weitere Artikel der Autorin
Top Dreams – Betty Zucker lässt Manager träumen. zur Rezension
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Zu dem Buch von Claus Leggewie und Harald Welzer. zur Rezension
Die 12 neuen Gesetze der Führung – Niels Pfläging fordert die Abschaffung des Managements. zur Rezension