Folge 2 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
Heute ist es WLAN. Menschen der Berliner Mitte kehren ein. Hier, wenige Hundert Meter vom Hackeschen Markt entfernt. Beschäftigte der Film- und Model-Agenturen an Torstraße und Weinbergweg. Musiker, Galeristen, Medienleute. Natürlich auch Weltreisende mit Laptop auf der Suche nach Neuigkeiten und einem dampfenden Latte macchiato. Zu Mittag gibt es Linseneintopf und gefüllte Auberginen, Lemon Tarte und Milchfladen mit Serano-Schinken und Aioli. Stadtbekannt der kostenlose Web-Zugang, dreifache Steckdosen an Tischen und Sofas. Das ist Gold wert im vor sich hin experimentierenden Berlin nach der Jahrtausendwende.
Hommage an die Gratisbrötchen.
Ansgar Oberholz hat es selbst
erstaunt. Wie massiv die Vorzeichen der neuen Arbeitswelt seine
Existenz umwirbelten - unglaublich. Als der 34-Jährige gemeinsam
mit seiner alten Freundin und Geschäftspartnerin Koulla Louca vor
knapp zwei Jahren das Sankt Oberholz in Berlin-Mitte eröffnete,
gehörte WLAN zum Konzept. Die Partner hatten den kostenlosen
Internet-Zugang als zeitgemäße Hommage an die alte
Aschingertradition der Gratisbrötchen ersonnen. Dass Web-Zugang
und lokalumspannender Gratisstrom für Laptops und MacBooks zum
Scharnier ihres Erfolgs werden sollten, war ihnen nicht in den
Sinn gekommen.
Der Verkehr rauscht
über den Rosenthaler Platz. Quietschend fährt die Tram über die
Schienen, ein Rettungswagen schlängelt sich durch die Autoreihen.
Wenn Laster vorbeidonnern, zittern im Sankt Oberholz die Gläser
im Regal. Zwölf Uhr mittags. Es duftet nach Möhren-Ingwer-Suppe,
Kaffee, warmem Baguette. Im Erdgeschoss, gegenüber vom Tresen,
sitzen Laptop-Arbeiter wie Perlen auf einer Schnur an
hochbeinigen Tischen dicht an dicht die Wand entlang. Das
milchige Licht von weißen Apples schimmert auf den
hochglanzlackierten Resopaloberflächen. Kleine Hirschgeweihe
wachen über den Arbeitern, eine orangefarbene Blümchenjalousie
hält die Sonne von den Bildschirmen fern. In der Lounge-Höhle am
Tresenende ist Chill-out-Zone. Lachsfarbene Wandbespannung,
goldene Gewölbedecke, Nierentische, Nischen, bunte Kissen im
Mustermix.
Es ist die Kombination von unkompliziertem Web-Zugang und
unaufdringlichem Szeneflair, die ins Sankt Oberholz lockt. Hier
kann man sich mit dem Laptop in alten Sesseln fläzen oder
konzentriert am Holztisch sitzen. Hier gibt es lange Tafeln für
große Runden oder Ein-Mann-Plätze für einen ungestörten Blick in
die digitale Welt. Natürlich, längst gibt es Tausende Cafés mit
drahtlosem Internet-Zugang in Deutschland. Doch nur selten stimmt
die Mischung so wie hier. Sie trifft den Nerv einer Generation,
sie bringt ein Lebensgefühl auf den Punkt. Und ist daher ein
idealer Resonanzraum für jene Protagonisten einer neuen
Arbeitswelt, für die das Sankt Oberholz berühmt wurde: die
digitale Boheme.
"Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" nannten
die beiden Berliner Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo Ende
vergangenen Jahres in ihrem Buch
Wir nennen es Arbeit das Lebenskonzept jener, die den
ganzen Tag mit ihren Laptops im Café sitzen, surfen, Mails
beantworten, telefonieren, plaudern, sich austauschen. Die
Gründer der Zentralen Intelligenz Agentur, einem Zusammenschluss
freischaffender Künstler und Medienleute, haben den Blick nah am
digitalen Wandel. Sie sind Internet-Profis. Ihr Blog
Riesenmaschine erhielt kürzlich einen Grimme-Preis. Mit
der digitalen Boheme fanden Friebe und Lobo ein
feuilletonkompatibles Label für ein Phänomen, das die Autoren
nicht nur in Großstädten wie Hamburg oder Berlin beobachtet
haben. Sondern überall in der Republik. Wenn die Berliner
Stadtzeitung
Zitty spöttisch "Urbane Penner" titelte, trifft das wenig.
Denn Friebe und Lobo machten ein Phänomen sichtbar, das typisch
ist für unsere entgrenzte Arbeitswelt: Menschen, die auf einen
Arbeitsvertrag - freiwillig oder unfreiwillig - verzichten und
den alten Traum vom selbstbestimmten Leben angehen. Entscheidend
ist die Werteverschiebung: Nicht Geldverdienen steht im
Mittelpunkt, sondern Inhalt und Bedingungen des Arbeitens selbst
zu gestalten. Möglichst unabhängig, selbstbestimmt,
netzwerkbasiert. Knackpunkt: Erst das Internet macht's möglich.
Es schafft die Unabhängigkeit von Zeit und Ort, ist nicht nur
Werkzeug und Spielwiese, sondern Einkommens- und
Lebensader.
Digitale Oase in der Großstadt.
Ansgar Oberholz hat
sich selbst früh gegen das Leben in der Festanstellung
entschieden. Nach dem Informatik-Studium betrieb er sieben Jahre
lang seine eigene Werbeagentur, machte PR für Clubs und
mittelständische Medizintechnikunternehmen. Bis ihm "der
Medienbereich auf die Nerven ging". Das war 2003. Oberholz stieg
aus, versuchte sich als freier Berater und fuhr mit seiner alten
Freundin Koulla Louca mit der Bahn zurück in seine Heimat Trier.
Auf der Bahnfahrt nahm eine Idee konkrete Formen an, die Ansgar
Oberholz eigentlich für seine Jahre ab 50 geplant hatte: Wir
machen ein Café auf. Und suchte nicht gerade der Vermieter der
traditionsreichen Aschingerräume, entnervt nach Jahren des
Wechsels von Bars, Clubs und Burger King, zuverlässige Mieter?
Hatte Koulla Louca nicht bereits Erfahrung als Cafébesitzerin am
Prenzlauer Berg und Oberholz Lust auf etwas Neues, Eigenes? "Wir
wollten die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ansprechen:
Leute, die hier in der Gegend leben und arbeiten, auch ein paar
Touristen, die mit dem Laptop unterwegs sind und ihre Mails
checken wollen." Eine digitale Oase in der Großstadt, ein Ort des
Austauschs, Szenepublikum und Business-People. Louca und Oberholz
schlugen ein. "So machen wir's." Das war vor eineinhalb Jahren.
"Ein Latte bitte." David ist ein wenig müde heute. War
eine lange Nacht gestern. Arbeit bis Mitternacht, danach ein,
zwei Bier mit Freunden. Sein weißer Apple ist aufgeklappt, die
Hände huschen über die Tastatur. David zieht den Kragen seiner
Fleecejacke hoch. "Ich kann überall arbeiten. Egal. Ich habe
keine Firma, die mich bezahlt. Nur Kunden in aller Welt." Er
liebt es, unterwegs zu sein. Er genießt es, die Arbeit zu machen,
die ihm gefällt. Auch wenn sie ihn nicht reich macht. Sagt er.
Gerade entwickelt er eine Software für Architekten, sogar dafür
reicht das MacBook. Manchmal programmiert er Spiele. Seit zwei
Monaten schon ist der kantige Brite in Berlin, zuvor hat er in
Wien, Istanbul, den USA geschafft. Bei Freunden gepennt, in
Internet-Cafés gearbeitet. Wie hier im Sankt Oberholz. Von zehn
bis 24 Uhr ist er hier, sagt David, nur ab und zu geht er auf
einen Sprung in die Bibliothek. "Yea, es ist gut in dem Laden,
weil hier alle arbeiten. Man bleibt leicht bei der Sache."
Nicole hat zu Hause kein Internet. Zeit zu sprechen auch
nicht. Nur so viel: Sie kommt, um E-Mails abzufragen, um
Kundenkontakte zu pflegen. Zur digitalen Akquise. Als Masseurin
muss sie gut organisiert sein. Damit die Kundschaft rollt.
Manchmal geht sie ins Gorky am Weinbergspark, da gibt es
inzwischen auch Hot Spots. Meist aber kommt sie ins Oberholz,
hier ist die Atmosphäre professioneller. Ein wenig laut leider,
aber die 32-Jährige versteht, sich zu konzentrieren. Das Handy
klingelt. "Muss wieder", sagt Nicole und klappt das Mobile auf.
Mit den silbernen Kreolen, der lilafarbenen Wickelstrickjacke,
zwei Handys, Kugelschreibern, einem Stoß Papieren neben dem
Rechner sieht sie aus wie ihre eigene Assistentin.
Großraumbüro mit Wohnzimmercharme.
Im Oktober 2006 klingelte bei
Ansgar Oberholz immer häufiger das Telefon. Presse. Oberholz
freute sich. Wunderte sich. Bis er merkte: Da hat ja einer meiner
Stammgäste etwas über uns geschrieben. Ein Buch mit einem eigenen
Kapitel über das Café. Sein Name: Sascha Lobo. Oberholz fährt
durch seine Haare, lächelt jungenhaft. Ja, es ist treffend, was
der da schreibt, findet Oberholz. Vor allem wenn man die
Großstädte im Blick hat. Für ihn ist es das beste Marketing
überhaupt: Dass sich hier im Sankt Oberholz Menschen treffen, um
hier zu arbeiten, und davon anderen erzählen, die auch kommen, um
hier zu arbeiten. Oder um Kunden zu treffen.
"Die meisten sitzen zwei, drei Stunden, manche den halben
Tag hier", erzählt Oberholz. Sie checken bei Frühstücksei und
Milchkaffee ihre Mails, sehen Unterlagen durch, setzen sich zu
Meetings zusammen. "Manchmal ist es schon gespenstisch: Da sitzen
20 Leute im Café, starren auf ihre Laptops, und keiner redet."
Doch im Grunde ist diese Art von öffentlichem Arbeitsplatz eine
Fundgrube der Kommunikation. Ein Blick auf den Schirm des
Nachbarn. "Was machst du denn gerade?" Eine Bitte, während man
sich etwas zu Essen holt: "Kannst du mal kurz aufpassen?" Auch
das ist Teil des Arbeitens à la digitale Boheme: im Arbeitscafé
Leute kennenlernen, Netzwerke bilden, Zufälle nutzen.
Im ersten Stock sind alle Tische belegt. Hier weicht der
Caféflair vom Erdgeschoss dem eines semiprofessionellen
Großraumbüros mit Wohnzimmercharme. Gut zwei Dutzend dunkelbraune
Tische, auf allen stehen Laptops, liegen Handys. Tania ist
Stammgast im Oberholz. Wenn ihr Internet zu Hause durchhängt oder
sie zum Arbeiten unter Menschen möchte, kommt sie hierher. Immer
mit Laptop, meist mit Headphones. Tania wirft ihre langen,
braunen Locken in den Nacken und lacht ein perfektes
Model-Lachen. "Das ist hier wirklich mein zweites Office", die
ideale Repräsentanz im öffentlichen Raum. Gerne bittet sie Kunden
zum Meeting ins Oberholz. Wenn sie hier empfängt, kann sie sich
gut präsentieren. Die professionelle, aber trendige Atmosphäre.
Der lebendige Charme des Kreativen. Die Internationalität. All
das passt zu der Chefin von Playkula, einer Booking-Agentur für
Clubmusiker. Schwerpunkt: elektronische Musik, ideal im
Elektro-Eldorado Berlin. Manchmal stolpert sie im Sankt Oberholz
über neue Talente. Wie kürzlich, als eine MySpace-Anfrage mit
Foto auf ihrem Laptop aufpoppte. Tania hob den Blick - und
erkannte den Absender am Tisch gegenüber. Der Musiker hatte
mitbekommen, dass sie Musikmanagerin ist. Solche Zufälle sind
Teil des Geschäfts. In der realen und der virtuellen Welt. Den
ganzen Tag ist Tania "mit aller Welt online", stöbert durchs Web,
castet Musiker, kontaktet Veranstalter. Am Laptop bucht sie Flüge
für Musikkünstler und DJs, die zu Partys in die Hauptstadt
reisen.
Menschen wie Rick zum Beispiel. Schwarze Basecap,
kurzärmeliges T-Shirt, enganliegend, entspannter Bartschatten.
Der sitzt ihr gegenüber, ebenfalls den Laptop vor sich, und ist
gestern aus Australien eingeflogen. Heute Abend legt Rick auf im
Watergate, einem großen Club an der östlichen Spree. Tania ist
seine Agentin. "I am a global worker", sagt Rick. Vorgestern
Kuala Lumpur, heute Berlin. "Ich arbeite nur in Internet-Cafés."
Es seit denn, er ist in seinem Studio in Sydney und produziert.
Alles andere geht besser in Läden wie dem Oberholz:
Business-Mails verschicken und Musik schreiben, Online-Interviews
geben und sich mit seinen Agenten austauschen, die Website
updaten und seinen Blog pflegen. Das erwarten die Fans von ihm
und Fans hat er einige in der kleinen Community des Electric
Clash, in der "Deepchild" Rick ein Star ist. Zudem: Die Arbeit im
öffentlichen Raum macht ihn sichtbar. Ein Szene-Star zum
Anfassen. Einer, der den Kontakt zu seiner Gemeinde nicht
verliert. Außerdem: "It's more fun."
Wie viel Sicherheit brauche ich?
Natürlich ist
die digitale Lebenswelt der Boheme kein rosaroter Traum einer
besseren Arbeitswelt. Die satten Zeiten sind vorbei.
Dotcom-Blasen, die erst nach einem lukrativen Geldregen platzen
könnten, entstehen erst gar nicht mehr. Die Internet-Worker der
"Web 2.0"-Generation sind alternative Experimentierer, meist gut
ausgebildete, leistungsbereite Kinder eines soliden Bürgertums,
Wanderer durch das kreativ-künstlerische oder technikaffine
Milieu. Menschen mit Lust auf Nische, die sich Experimente
gönnen, weil ihnen ihr biografischer Hintergrund Mut und
Möglichkeiten dazu gab. Menschen, die auf Wohlstand nie so
fundamental haben verzichten müssen, dass sie nicht bereit wären,
zeitweise von der Hand in den Mund zu leben. Und das zu genießen.
Wenn auch manchmal, wenn man älter wird, eine Familie gründet,
einfach schon lange diesen Weg gegangen ist, neue Themen auf den
Tisch kommen. Was ist mit Altersversorgung? Wie viel Sicherheit
brauche ich? "Jahrelang haben diese Fragen keine Rolle gespielt",
erzählt Jan Bölsche, Internet-Café-Arbeiter, Entwickler und
Mitspieler bei Lobo und Friebes Zentraler Intelligenz Agentur.
"Plötzlich diskutieren wir hier auch über Altersversorgung."
Dennoch: Erfolgreich kann dieser Weg durchaus sein - als
Arbeits- und Lebensphilosophie, manchmal auch finanziell. Es ist
das überkommene Bild von Arbeit, das diese Arbeiter zwischen On-
und Offline-Welt entstauben und bereichern. Und vielleicht ist
gerade in unsicheren Zeiten die netzwerkbasierte Arbeit, getragen
von der ungeheuren Dynamik und Vielfalt des Internets, die der
Festanstellung überlegene Strategie. Eingebunden in soziale,
künstlerische und digitale Netzwerke bringt sie ständig neue,
teilweise überraschende Produkte, Arbeitsweisen, Haltungen
hervor, die langfristig den Charakter des Internets, der Arbeit
und den der Gesellschaft verändern können.
Ansgar Oberholz kennt die Risiken ebenso wie die Chancen
dieser Arbeit. Mit Sankt Oberholz hat er sich einen Traum
verwirklicht. Er funktioniert. Das Internet ist überall Teil
seiner Arbeit. Nicht nur WLAN. Fundstücke, die im Café liegen
bleiben, stellt er, lustig anmoderiert, im Blog der
Sankt-Oberholz-Website online. Nebenher sitzt er schon an einem
neuen Projekt. Er hat einen eigenen Verlag gegründet. Mit
Vertrieb. Das Ziel: Nischenprodukte, die gut sind, hervorragend
sogar, die aber trotzdem bisher keiner haben wollte, vermarkten.
Ob ein Memory aus Gartenzäunen der DDR oder eine nie
veröffentlichte Lyrik-CD. Und für so etwas müsste es doch einen
Markt geben? Zum Beispiel via Web. Oder nicht?
Anja Dilk ist freie Redakteurin bei changeX.
Mit einer Illustration von Limo Lechner.
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Die neue Arbeitswelt kennt keine Grenzen - ein Essay von Winfried Kretschmer. Folge 1 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt. zum Essay
Autorin
Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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