Kein Mensch? Was ist der Mensch überhaupt? Und das Ich im Besonderen? Wie beeinflussen Arbeit und Arbeitslosigkeit unsere Konstruktion der Wirklichkeit, die Grenzen und Möglichkeiten des Ich? Clement Rosset gibt eine erste Antwort darauf, indem er zwischen einer sozialen und persönlichen Identität unterscheidet: "In jeder Identitätskrise 'bröckelt' zunächst die soziale Identität und bringt schließlich jenes zerbrechliche Gebilde ins Wanken, das man für sein Ich hält." Ausgelöst beispielsweise durch Arbeitslosigkeit, eine besondere Notlage, die für Cianni nicht nur eine Schwächung der sozialen Identität bedeutet, sondern überhaupt deren Ende, den Tod. Dementsprechend interessiert ihn, was die Philosophen über den Tod dachten und was sie für den Umgang mit ihm empfahlen. Aber auch wie sie sich im Augenblick ihres Todes selbst verhielten. Herausgekommen ist dabei keine philosophische Abhandlung, wie der Autor selbst sagt. Vielmehr gut durchdachte Gedanken zu einem ernsten Thema. Dabei streift Cianni, der Arbeitslose, in seinen Meditationen das Zeitempfinden ebenso wie die Einsamkeit und das Selbstwertgefühl.
Sei der du bist.
In der Apologie des Sokrates,
schreibt Cianni, lädt Platon dazu ein, sich weniger darum zu
kümmern, was man hat, als darum, was man ist. "Er versteht seine
Definition von Weisheit - das Eigene tun - buchstäblich und
widmet den letzten Tag seines Lebens seiner
Lieblingsbeschäftigung: dem philosophischen Gespräch." Im
Mittelpunkt dabei: der ihm bevorstehende Tod. Für Sokrates kein
Grund, sich zu fürchten: Entweder stürze uns der Tod ins Nichts,
meint er, dann ist er nur ein "Schlaf, in welchem der Schlafende
auch nicht einmal einen Traum hat". Oder er ist eine
"Auswanderung von hinnen an einen anderen Ort". In beiden Fällen
ein Gewinn, sagt Sokrates ironisch gegenüber seinen Richtern, die
ihn zum Tode verurteilen.
Dem Arbeitslosen bleibt die Frage, was für ihn selbst "das
Eigene" ist. "Das Schreiben war immer die Achse meines
beruflichen Tuns, mein innerer Kern. Gerät ein Unternehmen in
eine Krise, besinnt es sich gern auf sein Kerngeschäft, um sich
dann neu zu orientieren. Das werde ich nun auch tun: Ich werde
meditieren und schreiben." Die Folge ist nicht nur eine
Bestimmung des Ich, sondern auch eine regelmäßige und
strukturierte Aufgabe, die dem Alltag wieder Sinn verleiht. Und
der Zeit die Zähne zeigt.
Nicht genug davon.
Denn Arbeitslosigkeit stellt auch
die Uhrzeiger neu: Rennen wir ihnen im Berufsalltag hechelnd
hinterher, bewegen sie sich gar nicht mehr, wenn die Arbeit weg
ist. Das hat seinen Grund, lernen wir bei Augustinus und seiner
Konzeption der Zeit: Sie existiert nicht außerhalb unseres
Geistes; sie ist nichts Gegebenes, es gibt kein Zeitatom. "Sie
verstreicht in uns, ohne dass wir irgendeinen Zugriff auf sie
hätten." Die Folge sind zwei Zeitströme, sagt Cianni. "Einerseits
die Zeit der Hyperaktivität, stressig, hysterisch, entfremdet,
brutal, aber auf eine Weise dennoch konstruktiv. Und andererseits
das endlose Andauern der Arbeitslosigkeit, verlangsamt,
schuldbeladen, schlaff und korrosiv." Entkommen kann man dieser
Maschinerie, indem man sich ganz bewusst für das entscheidet, was
man tut - im Falle Ciannis: schreiben. Dann gelte eine andere
Zeit, die nicht geschleppt werden muss, sondern sich selbst
trägt, die manchmal sogar einfach davonfliegt, frei von
Bitterkeit und Gewissensbissen, leicht wie ein Augenblick des
Glücks.
Manchem Leser dieses Büchleins mag es bei der Lektüre
ähnlich ergehen. Das Unglück der Arbeitslosigkeit bleibt trotzdem
bestehen, wie auch jeder, den es trifft, für sich selbst den
passenden Umgang damit finden muss. Jean-Louis Cianni hat für
sich eine Lösung gefunden: "Ich kam über den Unfall meiner
beendeten Karriere zum Notwendigen, über die Arbeit zur
Kreativität, über die Entfremdung zur Freiheit. Was ich am Leben
verlor, gewann ich am Sein." Dann ist jedem die Arbeitslosigkeit
zu wünschen? Nein, natürlich nicht. Denn "wenn das der Fall wäre,
könnten wir nicht genug davon kriegen".
Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.
Jean-Louis Cianni:
Denkpause.
Wie mich Seneca aus der Krise holte.
Econ Verlag, Berlin 2008,
240 Seiten, 16 Euro.
ISBN: 978-3-430-20038-7
www.ullsteinbuchverlage.de/econ
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Jean-Louis Cianni: Denkpause. . Wie mich Seneca aus der Krise holte. . Econ Verlag, Berlin 1900, 240 Seiten, ISBN 978-3-430-20038-7
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