Umsonst, aber nicht gratis!
Einspruch 4: König Kunde - ein Drama in vier Akten.
Erich Feldmeier über den alltäglichen Wahnsinn des Gesundheitsbetriebs. Einspruch! heißt seine monatliche Kolumne - ein konstruktiv-kritisches Format, das die oft unreflektierten, scheinbar unabänderlichen Selbstverständlichkeiten humorvoll und ketzerisch-herausfordernd in Frage stellt.
Erich FeldmeierDem Patienten geht es schlecht. "Gehen Sie doch mal zum Spezialisten", lautet der vermeintlich gute Rat wohlmeinender Zeitgenossen. Und damit beginnt nicht selten eine Odyssee durch die unterschiedlichsten Arztpraxen und Wartezimmer. Und die kann lang werden, denn in keinem anderen Bereich des täglichen Lebens ist die Spezialisierung so ausgeprägt wie im Medizinbereich. Wozu dies führen kann, zeigt ein Lehrstück aus einer Vorlesung am Fachbereich Gesundheit & Pflege an der HAW Hamburg.

1. Akt: Der Kunde ist König.


Angefangen hat es mit Herzrhythmusstörungen, die sich zunächst nur gelegentlich und ganz sacht bemerkbar machten, dann aber immer stärker wurden und zunehmend häufiger auftraten. Mehrere Besuche beim Hausarzt brachten nichts - jedenfalls keine Diagnose.
Der Patient geht also den typischen Leidensweg: HNO, Orthopäde, Neurologe, Internist, Kardiologe, Urologe, Heilpraktiker mit und ohne TCM (Traditionelle Chinesische Medizin). Alle Beteiligten, also auch der Patient, beschäftigen sich sehr engagiert an der Suche nach der Krankheit.
Alle Spezialisten finden: nichts.

2. Akt: Die Kundennachfrage führt zur Wertschöpfung.


Alle, bis auf eine Disziplin, sagen wir mal Kardiologie. Nach quälend langen Untersuchungen ist die Diagnose klar: Herzrhythmusstörungen ohne klare Ursache, also koronare Herzerkrankung; das Herz wird durch einen Spezialisten organisch für völlig gesund erklärt. Die Behandlung schlägt souverän an. Nach Mineraliengabe ergibt sich eine 95-prozentige Reduktion der Herzrhythmusstörungen. Perfekt und damit fast vergessen, wenn sich nicht plötzlich eine dramatische Zuspitzung ergeben hätte, mit Herzanfällen, die nahezu Infarktcharakter hatten. Einen Infarkt hatten die Spezialisten aber im Vorfeld bereits ausgeschlossen. Also ging es weiter: weitere Untersuchungen, andere Medikamentierung, ein Krankenhausaufenthalt. Das ganze Programm, ohne Schonwaschgang.

Der Patient in der Mühle, patient (lat.) = der Erduldende
Schließlich, nach unzähligen weiteren Computerausdrucken mit Kurven, Zacken und Deutungen durch weitere Spezialisten, wurde dringend zu einer Herzkatheteruntersuchung mit elektrophysiologischer Behandlung geraten; alles andere, das hätte sich ja bereits eindeutig und zweifelsfrei gezeigt, sei nicht geeignet, eine substantielle Heilung herbeizuführen. Der Patient, nach wochenlangem Arbeitsausfall und monatelanger Quälerei, ist kraft der uneingeschränkten Autorität der Spezialisten überzeugt. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Die Macht der Spezialisten führt direkt in die Ohnmacht der Erduldenden.

Umsonst, aber nicht gratis.
Zwischenfazit, ein Jahr später. Die Behandlungen waren umsonst, aber nicht gratis - jedenfalls aus volkswirtschaftlicher Perspektive. Die Kosten summierten sich zu mehreren tausend Euro, vor allem für teure Geräte, die logischerweise auch abgeschrieben werden müssen. Selbstverständlich wurde die Rechnung von der Krankenkasse und damit der Sozialversicherung getragen und an die Leistungserbringer überwiesen. So wurde eine fünfstellige Summe Bruttoinlandsprodukt erzeugt. Und selbstverständlich wurde dadurch potentiell weiteres Wachstum angeregt, bei Fachärzten und Klinikbetrieben, bei Sportautoherstellern und Zulieferern, bei Pharmaunternehmen und Apotheken, bei Medizingeräteherstellern und Computerprogrammierern. Gesünder aber ist keiner. Die Lebenserwartung ist nicht gestiegen. Nur die Ausgaben sind explodiert. Die Sozialsysteme der Gesellschaft werden einer harten Prüfung unterzogen, der Patient ist über Monate nicht arbeitsfähig. Die volkswirtschaftlichen Kosten summieren sich.
Das Beispiel zeigt auch: Die Rädchen und Mechanismen des Systems sind in wundersamer Weise aufeinander abgestimmt, denn was aus Sozialkassen- und Krankenkassensicht als Kosten erscheint, verwandelt sich in gesamtwirtschaftlicher Perspektive in Bruttoinlandsprodukt. Krankheitskosten schlagen sich in einem politisch wie wirtschaftlich "erwünschten" Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nieder - letztlich aber provozieren diese Mechanismen den Zusammenbruch des Krankenversicherungssystems. Das kann aber logischerweise weder das Individuum Arzt noch das Individuum Patient interessieren!

Gratis, aber umsonst.
Fazit, Monate später: Aus der Sicht des Subjekts, also des Patienten - waren diese ganzen Untersuchungen zwar gratis, letztlich aber umsonst - im Sinne von vergebens. Denn es stellt sich heraus, dass die Herzrhythmusstörungen keine körperliche Ursache haben. Sie wurzeln in einer physisch-psychischen Überlastungssituation. Diagnose: Burnout. Mein Bekannter geht für zwei Monate in eine Spezialklinik für psychosomatische Beschwerden - und danach erst mal in Urlaub.

3. Akt: Der Kunde stört den Medizinbetrieb.


Alle Krankheiten müssen sauber in ein Ursache-Wirkungs- und Abrechnungsschema passen. Auf der Suche nach den Ursachen entschwinden zunehmend der Erduldende und dessen Genesung aus dem Blickwinkel. Die Odyssee verlängert sich in sinnlose und zunehmend frustrierte Gänge zum Arzt, besser zu weiteren Ärzten. Dieser Ablauf ist weitgehend standardisiert. Der Patient ist weiter krank und verliert das Vertrauen zum Arzt. Der Arzt rollt die Augen, wenn der Patient das dritte Mal mit Null-Diagnose erschienen ist. Es entsteht also ein weiterer Teufelskreis. Der Arzt muss, möglicherweise gegen die eigene Überzeugung, weitere Untersuchungen nachschieben oder zum Spezialisten überweisen, weil der Kunde sonst wegen Vertrauensverlust nicht gesundet beziehungsweise das Weite sucht. Bei hartnäckigen Fällen bleibt nur noch die Restdiagnose: psychosomatisch-hypochondrisch und abgeschoben. Der Nächste bitte. Die beste plastische Beschreibung hierzu stammt immer noch von Samuel Shem (1).
Die entscheidende Frage zum Schluss unserer Geschichte ist: Hätten sich diese nervenaufreibende medizinische Mühle und die damit verbundenen Kosten vermeiden lassen? Und wenn man diese Frage bejaht: Warum ist man nicht früher drauf gekommen? Die Antwort hat zwei Dimensionen, die erste bezieht sich auf die wirtschaftliche Konstruktion des Gesundheitssystems, die zweite auf Informations- und Wissensmanagement.

4. Akt: Der Kunde kommt gar nicht mehr vor.


"Sie möchten doch ganz sicher sein!" - Und wer möchte das nicht? Die skeptischen, unzufriedenen, sich nicht ernst genommenen und sich nicht geheilt fühlenden Patienten fragen weitere Dienstleistung nach. Wie eingangs schon festgestellt, bedeutet das: Facharztpraxen und Spezialkliniken mit jeweils teuren technischen Spezialeinrichtungen. Diese bieten zweifellos exzellente Untersuchungsmöglichkeiten, die im Sinne von Innovation und Fortschritt keinesfalls pauschal in Frage gestellt werden sollen. Doch diese gern gescholtene, andererseits vom individuellen Patienten und Arzt im Zweifel gerne nachgefragte Apparatemedizin muss sich für den Investor amortisieren. Es entsteht somit ein "systemischer wirtschaftlicher Zwang", diese Apparate auch auszulasten. Die Konsequenz: Wo ein Apparat ist, dort wird er auch genutzt - das ist die einfache Folge der Tatsache, dass auch Ärzte wirtschaftlich denken müssen, der Kunde kommt jedoch praktisch gar nicht mehr vor (2), als aktiv Handelnder schon gar nicht!
Denselben Sachzwang gib es auch auf der wissenspraktischen Ebene: Wenn ein Spezialapparat besondere Möglichkeiten der Diagnose oder Behandlung ermöglicht, dann wäre es aus Sicht des Mediziners geradezu fahrlässig, diese Möglichkeiten nicht zu nutzen. Die Konsequenz ist wiederum: Wo ein Apparat ist, dort wird er auch genutzt - schon um sich nicht einer Unterlassung schuldig zu machen.
Forciert wird das Ganze durch ein kassenärztliches Abrechnungssystem, das technische Diagnose- und Behandlungsmethoden gegenüber dem persönlichen, individualisierten Gespräch mit dem Patienten bevorzugt. Die Crux dabei: Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als im medizinischen Betrieb wahr- und ernst genommen zu werden. Dieses "Gratis-Medikament" kann von Ärzten und Pflegepersonal eingesetzt werden, um das Mitwirken und die Akzeptanz des Kunden (= wichtigster Aspekt im Heilungsprozess) zu fördern (3). Und schon gar nicht honoriert wird die interdisziplinäre Behandlung eines Patienten.

Mit dem Herzkatheter auf der Suche nach dem Nierenstein ...


Nicht zuletzt führt die Spezialisierung dazu, dass Gesundheit beziehungsweise Krankheit mit der Brille der Spezialisten definiert wird und nicht aus einer ganzheitlichen Perspektive. Das haben neulich zwei Allgemeinmediziner in einem Artikel im Fachblatt British Medical Journal auf den Punkt gebracht. Sie werfen den Kardiologen vor, mit ihren Leitlinien zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Leiden Gesunde zu Patienten zu machen. Denn dort seien die Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin so niedrig angesetzt, dass es kaum noch Gesunde gebe. So ergab eine Untersuchung in Norwegen, dass höchstens ein Viertel aller Erwachsenen unter den Grenzwerten blieb. Letztlich bewahrheitet sich so ein alter Medizinerspruch: "Wer gesund ist, wurde nur nicht ausreichend untersucht."
Im Sinne des Kundenwohls - und das sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betont: im Kunden besteht die Existenzberechtigung des ganzen Systems - müsste denn auch konsequent gehandelt werden, wenn Entwicklungen wie in der Apparatemedizin bekannt sind, die mindestens dem Kunden schaden, mit großer Wahrscheinlichkeit aber auch das Krankenhauspersonal zum Wahnsinn treiben.
Unser mehrfach zitierter Usability-Spezialist Jakob Nielsen wandte sich den in den Vereinigten Staaten bereits weit verbreiteten automatischen Krankenhaussystemen zu. Das Ergebnis: Eine Feldstudie in amerikanischen Krankenhäusern identifizierte 22 unterschiedliche Fehler, die unter anderem zu einer falschen Dosierung von Medikamenten führten. Und meistens handelte es sich um klassische Usability-Probleme, die seit Jahrzehnten bekannt, verstanden und auch publiziert sind. Geändert hat sich trotzdem nichts (4). Auch hier gilt also wieder: Wissen, das prinzipiell vorhanden ist, wird nicht genutzt.

Anmerkungen:

  1. GOMER, Samuel Shem, House of God: zum Beispiel www.nensch.de/story/2004/5/1/14751/88482
  2. www.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/ReinhardSprenger_sprenger_com
  3. Glaube an Heilung halbiert Zeit im Krankenhaus: idw-online.de/pages/de/news6757; www.bvgesundheit.de
  4. Jakob Nielsen: www.useit.com/alertbox/20050411.html
    Shoshana Zuboff / James Maxmin: The support economy

Weitere Informationen:
www.iiQii.de

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Erich Feldmeier

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