1. Akt: Der Kunde ist König.
Angefangen hat es mit
Herzrhythmusstörungen, die sich zunächst nur gelegentlich und
ganz sacht bemerkbar machten, dann aber immer stärker wurden und
zunehmend häufiger auftraten. Mehrere Besuche beim Hausarzt
brachten nichts - jedenfalls keine Diagnose.
Der Patient geht also den typischen Leidensweg: HNO,
Orthopäde, Neurologe, Internist, Kardiologe, Urologe,
Heilpraktiker mit und ohne TCM (Traditionelle Chinesische
Medizin). Alle Beteiligten, also auch der Patient, beschäftigen
sich sehr engagiert an der Suche nach der Krankheit.
Alle Spezialisten finden: nichts.
2. Akt: Die Kundennachfrage führt zur Wertschöpfung.
Alle, bis auf eine Disziplin, sagen wir mal Kardiologie. Nach quälend langen Untersuchungen ist die Diagnose klar: Herzrhythmusstörungen ohne klare Ursache, also koronare Herzerkrankung; das Herz wird durch einen Spezialisten organisch für völlig gesund erklärt. Die Behandlung schlägt souverän an. Nach Mineraliengabe ergibt sich eine 95-prozentige Reduktion der Herzrhythmusstörungen. Perfekt und damit fast vergessen, wenn sich nicht plötzlich eine dramatische Zuspitzung ergeben hätte, mit Herzanfällen, die nahezu Infarktcharakter hatten. Einen Infarkt hatten die Spezialisten aber im Vorfeld bereits ausgeschlossen. Also ging es weiter: weitere Untersuchungen, andere Medikamentierung, ein Krankenhausaufenthalt. Das ganze Programm, ohne Schonwaschgang.
Der Patient in der Mühle, patient (lat.) = der Erduldende
Schließlich, nach unzähligen weiteren Computerausdrucken
mit Kurven, Zacken und Deutungen durch weitere Spezialisten,
wurde dringend zu einer Herzkatheteruntersuchung mit
elektrophysiologischer Behandlung geraten; alles andere, das
hätte sich ja bereits eindeutig und zweifelsfrei gezeigt, sei
nicht geeignet, eine substantielle Heilung herbeizuführen. Der
Patient, nach wochenlangem Arbeitsausfall und monatelanger
Quälerei, ist kraft der uneingeschränkten Autorität der
Spezialisten überzeugt. Die Geschichte ist aber noch nicht zu
Ende. Die Macht der Spezialisten führt direkt in die Ohnmacht der
Erduldenden.
Umsonst, aber nicht gratis.
Zwischenfazit, ein Jahr später. Die Behandlungen waren
umsonst, aber nicht gratis - jedenfalls aus volkswirtschaftlicher
Perspektive. Die Kosten summierten sich zu mehreren tausend Euro,
vor allem für teure Geräte, die logischerweise auch abgeschrieben
werden müssen. Selbstverständlich wurde die Rechnung von der
Krankenkasse und damit der Sozialversicherung getragen und an die
Leistungserbringer überwiesen. So wurde eine fünfstellige Summe
Bruttoinlandsprodukt erzeugt. Und selbstverständlich wurde
dadurch potentiell weiteres Wachstum angeregt, bei Fachärzten und
Klinikbetrieben, bei Sportautoherstellern und Zulieferern, bei
Pharmaunternehmen und Apotheken, bei Medizingeräteherstellern und
Computerprogrammierern. Gesünder aber ist keiner. Die
Lebenserwartung ist nicht gestiegen. Nur die Ausgaben sind
explodiert. Die Sozialsysteme der Gesellschaft werden einer
harten Prüfung unterzogen, der Patient ist über Monate nicht
arbeitsfähig. Die volkswirtschaftlichen Kosten summieren sich.
Das Beispiel zeigt auch: Die Rädchen und Mechanismen des
Systems sind in wundersamer Weise aufeinander abgestimmt, denn
was aus Sozialkassen- und Krankenkassensicht als Kosten
erscheint, verwandelt sich in gesamtwirtschaftlicher Perspektive
in Bruttoinlandsprodukt. Krankheitskosten schlagen sich in einem
politisch wie wirtschaftlich "erwünschten" Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts nieder - letztlich aber provozieren diese
Mechanismen den Zusammenbruch des Krankenversicherungssystems.
Das kann aber logischerweise weder das Individuum Arzt noch das
Individuum Patient interessieren!
Gratis, aber umsonst.
Fazit, Monate später: Aus der Sicht des Subjekts, also des
Patienten - waren diese ganzen Untersuchungen zwar gratis,
letztlich aber umsonst - im Sinne von vergebens. Denn es stellt
sich heraus, dass die Herzrhythmusstörungen keine körperliche
Ursache haben. Sie wurzeln in einer physisch-psychischen
Überlastungssituation. Diagnose: Burnout. Mein Bekannter geht für
zwei Monate in eine Spezialklinik für psychosomatische
Beschwerden - und danach erst mal in Urlaub.
3. Akt: Der Kunde stört den Medizinbetrieb.
Alle Krankheiten müssen sauber in
ein Ursache-Wirkungs- und Abrechnungsschema passen. Auf der Suche
nach den Ursachen entschwinden zunehmend der Erduldende und
dessen Genesung aus dem Blickwinkel. Die Odyssee verlängert sich
in sinnlose und zunehmend frustrierte Gänge zum Arzt, besser zu
weiteren Ärzten. Dieser Ablauf ist weitgehend standardisiert. Der
Patient ist weiter krank und verliert das Vertrauen zum Arzt. Der
Arzt rollt die Augen, wenn der Patient das dritte Mal mit
Null-Diagnose erschienen ist. Es entsteht also ein weiterer
Teufelskreis. Der Arzt muss, möglicherweise gegen die eigene
Überzeugung, weitere Untersuchungen nachschieben oder zum
Spezialisten überweisen, weil der Kunde sonst wegen
Vertrauensverlust nicht gesundet beziehungsweise das Weite sucht.
Bei hartnäckigen Fällen bleibt nur noch die Restdiagnose:
psychosomatisch-hypochondrisch und abgeschoben. Der Nächste
bitte. Die beste plastische Beschreibung hierzu stammt immer noch
von Samuel Shem (1).
Die entscheidende Frage zum Schluss unserer Geschichte ist:
Hätten sich diese nervenaufreibende medizinische Mühle und die
damit verbundenen Kosten vermeiden lassen? Und wenn man diese
Frage bejaht: Warum ist man nicht früher drauf gekommen? Die
Antwort hat zwei Dimensionen, die erste bezieht sich auf die
wirtschaftliche Konstruktion des Gesundheitssystems, die zweite
auf Informations- und Wissensmanagement.
4. Akt: Der Kunde kommt gar nicht mehr vor.
"Sie möchten doch ganz sicher
sein!" - Und wer möchte das nicht? Die skeptischen,
unzufriedenen, sich nicht ernst genommenen und sich nicht geheilt
fühlenden Patienten fragen weitere Dienstleistung nach. Wie
eingangs schon festgestellt, bedeutet das: Facharztpraxen und
Spezialkliniken mit jeweils teuren technischen
Spezialeinrichtungen. Diese bieten zweifellos exzellente
Untersuchungsmöglichkeiten, die im Sinne von Innovation und
Fortschritt keinesfalls pauschal in Frage gestellt werden sollen.
Doch diese gern gescholtene, andererseits vom individuellen
Patienten und Arzt
im Zweifel gerne nachgefragte Apparatemedizin muss sich
für den Investor amortisieren. Es entsteht somit ein
"systemischer wirtschaftlicher Zwang", diese Apparate auch
auszulasten. Die Konsequenz: Wo ein Apparat ist, dort wird er
auch genutzt - das ist die einfache Folge der Tatsache, dass auch
Ärzte wirtschaftlich denken müssen, der Kunde kommt jedoch
praktisch gar nicht mehr vor (2), als aktiv Handelnder schon gar
nicht!
Denselben Sachzwang gib es auch auf der wissenspraktischen
Ebene: Wenn ein Spezialapparat besondere Möglichkeiten der
Diagnose oder Behandlung ermöglicht, dann wäre es aus Sicht des
Mediziners geradezu fahrlässig, diese Möglichkeiten nicht zu
nutzen. Die Konsequenz ist wiederum: Wo ein Apparat ist, dort
wird er auch genutzt - schon um sich nicht einer Unterlassung
schuldig zu machen.
Forciert wird das Ganze durch ein kassenärztliches
Abrechnungssystem, das technische Diagnose- und
Behandlungsmethoden gegenüber dem persönlichen,
individualisierten Gespräch mit dem Patienten bevorzugt. Die Crux
dabei: Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als im
medizinischen Betrieb wahr- und ernst genommen zu werden. Dieses
"Gratis-Medikament" kann von Ärzten und Pflegepersonal eingesetzt
werden, um das Mitwirken und die Akzeptanz des
Kunden (= wichtigster Aspekt im Heilungsprozess) zu
fördern (3). Und schon gar nicht honoriert wird die
interdisziplinäre Behandlung eines Patienten.
Mit dem Herzkatheter auf der Suche nach dem Nierenstein ...
Nicht zuletzt führt die
Spezialisierung dazu, dass Gesundheit beziehungsweise Krankheit
mit der Brille der Spezialisten definiert wird und nicht aus
einer ganzheitlichen Perspektive. Das haben neulich zwei
Allgemeinmediziner in einem Artikel im Fachblatt
British Medical Journal auf den Punkt gebracht. Sie werfen
den Kardiologen vor, mit ihren Leitlinien zur Vorbeugung von
Herz-Kreislauf-Leiden Gesunde zu Patienten zu machen. Denn dort
seien die Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin so niedrig
angesetzt, dass es kaum noch Gesunde gebe. So ergab eine
Untersuchung in Norwegen, dass höchstens ein Viertel aller
Erwachsenen unter den Grenzwerten blieb. Letztlich bewahrheitet
sich so ein alter Medizinerspruch: "Wer gesund ist, wurde nur
nicht ausreichend untersucht."
Im Sinne des Kundenwohls - und das sei an dieser Stelle
nochmals ausdrücklich betont: im Kunden besteht die
Existenzberechtigung des ganzen Systems - müsste denn auch
konsequent gehandelt werden, wenn Entwicklungen wie in der
Apparatemedizin bekannt sind, die mindestens dem Kunden schaden,
mit großer Wahrscheinlichkeit aber auch das Krankenhauspersonal
zum Wahnsinn treiben.
Unser mehrfach zitierter Usability-Spezialist Jakob Nielsen
wandte sich den in den Vereinigten Staaten bereits weit
verbreiteten automatischen Krankenhaussystemen zu. Das Ergebnis:
Eine Feldstudie in amerikanischen Krankenhäusern identifizierte
22 unterschiedliche Fehler, die unter anderem zu einer falschen
Dosierung von Medikamenten führten. Und meistens handelte es sich
um klassische Usability-Probleme, die seit Jahrzehnten bekannt,
verstanden und auch publiziert sind. Geändert hat sich trotzdem
nichts (4). Auch hier gilt also wieder: Wissen, das prinzipiell
vorhanden ist, wird nicht genutzt.
Anmerkungen:
- GOMER, Samuel Shem, House of God: zum Beispiel www.nensch.de/story/2004/5/1/14751/88482
- www.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/ReinhardSprenger_sprenger_com
- Glaube an Heilung halbiert Zeit im Krankenhaus: idw-online.de/pages/de/news6757; www.bvgesundheit.de
-
Jakob Nielsen:
www.useit.com/alertbox/20050411.html
Shoshana Zuboff / James Maxmin: The support economy
Weitere Informationen:
www.iiQii.de
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