Relativitätstheorie des gesunden Menschenverstands.
Zunächst ist die Eingangsfrage keineswegs nur rhetorischer Natur - dann nämlich, wenn man die Rahmenbedingungen variiert und Gruppen von Menschen betrachtet. Dann fallen die Antworten anders aus: Vor die Wahl gestellt, möchte die große Mehrheit der Menschen lieber 50.000 Euro verdienen, wenn andere die Hälfte bekommen, anstatt 100.000 Euro, wenn diese das Doppelte an Einkommen beziehen. (1) Unser gesunder Menschenverstand ist also durchaus relativ. Und offenbar besitzt in der Frage der Entlohnung die Leistung - physikalisch definiert als Arbeit pro Zeiteinheit - gar nicht den Stellenwert, den man ihr gemeinhin beimisst. Ein weiterer Faktor ist die Gerechtigkeit - nicht die soziale, gemeint ist hier die psychologische oder vergleichende. Dieses Gerechtigkeitsempfinden ist im Verlauf der Evolution entstanden und somit im menschlichen Verhalten besonders stark verankert. Bei der Frage, wer was bekommt, geht es also keineswegs nur um eine rationale Entlohnung, sondern auch um eine Belohnung, also um Zuwendung im Sinne von Lob. Darüber wurde schon viel geschrieben. Trotzdem ist dieses Wissen in der Realität wenig verbreitet, die objektive Leistungsdefinition vorherrschend. Das zeigt sich in vielen Bereichen.
Leistung muss neu definiert werden.
So ist in der nachindustriellen Wirtschaft, in der Erfolgsfaktoren wie Service, Kundenzufriedenheit, Integrität, Wissen und so weiter zählen, die faktische Aufhebung dieser physikalischen Definition ein ungelöstes Problem. Folglich haben Vorgesetzte und Kollegen ein andauerndes Beobachtungs- und Bewertungsproblem, wenn Menschen in der Kantine oder der Cafeteria arbeiten. (2) Und das, obwohl im Wissensmanagement geschätzt wird, dass zirka 80 Prozent der Problemlösungen quasi nebenbei im mündlichen Gespräch mit Kollegen gefunden werden. Dieses Dilemma spiegelt sich auch in der Arbeit der Personalabteilungen. Dort beschäftigen sich immer noch Bataillone von Mitarbeitern mit Incentives, also materiellen Belohnungs-Systemen, statt mit Personalarbeit.
Das Tätigkeits-Dilemma einer Nachwuchs-Führungskraft.
Nicht zuletzt prägt dieses Dilemma
die Arbeit von Managern und Führungskräften. Denn die stehen
praktisch immer vor der Alternative, sich entweder um ihre Arbeit
oder um ihre Karriere zu kümmern. Das klingt paradox und
ist es auch. Und es hat zu tun mit den miteinander
konkurrierenden und einander widersprechenden Aufgabenfeldern
insbesondere junger Führungskräfte. Die haben sich meist durch
ihre fachliche Arbeit für höhere Aufgaben empfohlen, doch wenn es
dann so weit ist und der Aufstieg klappt, dann verändert sich das
Aufgabenprofil schlagartig, wie schon der Organisationspsychologe
Lutz von Rosenstiel nachgewiesen hat. (3) Machte die fachliche
Arbeit bislang 90 Prozent ihrer Tätigkeit aus, müssen Jungmanager
plötzlich zwei Drittel ihrer Arbeitszeit in Personalarbeit
investieren. Darauf werden die angehenden Führungskräfte aber zu
wenig vorbereitet - sondern einfach ins kalte Wasser gestoßen.
Und reiben sich auf zwischen der fachlichen Arbeit, die sie
weiter leisten sollen, und der Personalarbeit, die sie zusätzlich
leisten müssen. Und möglicherweise gar nicht wollen - doch eine
fachliche Karriere ist meist nicht vorgesehen, ein weiteres
ungelöstes Paradoxon.
Untersuchungen zeigen, dass - insbesondere bei fachlichem
Aufstieg - die Sachaufgabe lange Zeit noch dominiert, die
Führungskraft viele Tätigkeiten schnell mal so nebenbei selbst
erledigt, obwohl schon längst eine Delegation an die Mitarbeiter
angebracht wäre. Das Resultat: doppelte Unzufriedenheit, sowohl
bei Vorgesetzten als auch Untergebenen. Leider ist dieses Muster
noch besonders häufig anzutreffen. Die Folge: Der Manager ist
frustriert, zum einen, weil seine Leute nicht mitspielen, zum
anderen, weil er sich nicht mehr um sie kümmern kann. Weil er
eben noch zu sehr in seiner fachlichen Arbeit (Achtung:
Spezialist!) drinsteckt.
Das Karriere-Dilemma einer Nachwuchs-Führungskraft.
Ein Weiteres kommt hinzu: Er darf
seine weitere Karriere nicht aus dem Blick verlieren. Er muss
also einen nicht unwesentlichen Teil seiner Arbeitszeit für
hierarchisch Höhergestellte verwenden und sich ununterbrochen ins
Gedächtnis bringen - exakt darum geht
�s. Wohlgemerkt: Hieran ist
nichts Verwerfliches! Die Nachwuchs-Führungskräfte folgen damit
ausschließlich dem vorhersagbar menschlichen Verhalten. Diese
soziale Anpassungsleistung schafft Vertrauen und
Gruppenzugehörigkeit. (4)
Nur gerät die Karriere in Konflikt mit der fachlichen und
der Personalarbeit. Denn unter Karrieregesichtspunkten
verschwendet der Nachwuchsmanager seine kostbare
Arbeitszeit für seine Sachaufgabe und für seine Mitarbeiter.
Beinahe automatisch wird er sich selber schaden, wenn er seine
Arbeit zu ernst nimmt. Auch hier gibt es viel Missstimmung in den
Betrieben, wenn der vermeintlich weniger geeignete Kollege, der
zudem
natürlich weniger geleistet hat (siehe oben), einen auf
der Karriereleiter überholt - nur weil er das bessere
Beziehungsmanagement betrieben hat. Hierum - nämlich ums
Quatschen - geht es im nächsten Einspruch.
Die menschliche Seite der Kommunikation.
Wir wenden uns noch einem anderen Aspekt zu. Die Lehre, die der auf der Karriereleiter überholte fachlich versierte Mitarbeiter zu ziehen hat, gilt nämlich auch ganz allgemein. Gebetsmühlenartig wird allerorten wiederholt: Leistung zählt. (5) Sie sei der Maßstab der Chancenzuteilung. Das aber ist falsch - es ist das Menschliche, das zählt. Das einzusehen haben freilich gerade Menschen mit einer naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung große Schwierigkeiten. Für sie zählt die Logik, Vernunft und eben der gesunde Menschenverstand. Entscheidungen sollten logisch hergeleitet und rational begründet sein, nicht politisch-menschlich ausgekartet. Das aber ist eine Illusion. In Unternehmen - und anderen Organisationen - mögen Entscheidungen logisch und vernünftig erscheinen. Die Gründe für die Entscheidungen (nicht die Entscheidungen selbst!) sind nie logische, immer menschliche.
Anmerkungen:
- "Der Klassenkampf treibt mitunter wilde Blüten, wie ein Experiment unter Harvard-Studenten zeigte: Sie wurden nach ihren Gehaltswünschen befragt. Dabei hatten sie die Wahl zwischen: (a) einem Jahreseinkommen von 50.000 Dollar, während alle anderen die Hälfte davon verdienen würden, oder (b) einem Jahreseinkommen von 100.000 Dollar, während alle anderen das Doppelte verdienen. Die überwiegende Mehrheit entschied sich für Alternative (a)." Zitiert zum Beispiel in Wirtschaftswoche, 16. Dezember 2003.
- Christopher Rauen, Coaching-Newsletter, August 2004: www.coaching-newsletter.de/archiv/2004/2004_08.htm
- Lutz von Rosenstiel: "Führung und Macht", in: Carl Graf von Hoyos / Dieter Frey (Hrsg.): Arbeits- und Organisationspsychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 1999, S. 412-428
- www.iiQii.de/gallery/VictimsOfGroupThink
- www.dabei-online.de/aufsatz_sozialkompetenz_01.01.2004.pdf
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