Aufklärung per Teigfladen
800 Millionen Tiefkühlpizzen essen die Deutschen pro Jahr. Für Paul Trummer Anlass genug, über die unappetitlichen Seiten der globalen Nahrungsmittelindustrie aufzuklären. Freundlich-konstruktiv, ohne besserwisserischen Zeigefinger-Gestus.
Prof. Dr. Matthias Horst müsste eigentlich ganz schön sauer sein. Immerhin droht dem Hauptgeschäftsführer des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL) zum ersten Mal richtig Ärger mit Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU). Diese plant, im kommenden Jahr ein Internet-Portal einzurichten, auf dem Verbraucher fiese Machenschaften der Ernährungsindustrie anprangern dürfen. Unter dem Motto "Klarheit und Wahrheit" sollen Beschwerden über die Aufmachung und Kennzeichnung von Lebensmitteln nebst der Stellungnahme des betroffenen Unternehmens ins Netz gestellt werden. Doch in der Pressemitteilung seines Verbandes vom 20. Oktober übt sich Horst in sanften Worten: Man wirbt um "Verständnis für die ablehnende Haltung der Lebensmittelwirtschaft in diesem Punkt".
Wenn Lobbyistenverbände öffentlich so zahm reagieren, hat das meist nur einen Grund: Sie fühlen sich getroffen, und, schlimmer, Gegenargumente fallen nicht einmal ihnen ein - weil es keine gibt. Das ist auch in diesem Fall so. Was wir so in uns hineinstopfen, ist auf vielerlei Weise höchst schädlich. Nicht wenige Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft nutzen die industriefreundlichen Produktions- und Auszeichnungsvorschriften zu allerhand Unappetitlichem. Dass das so ist, haben in letzter Zeit viele Bücher und Filme aufgezeigt. Wenn Aigner nicht einknickt, hat sie sich ein Lob von kritischen Verbraucherverbänden verdient.
Die Liste der Heimsuchungen ist lang
Wie auch immer die Geschichte ausgeht: Diese sogenannten Verbraucher sind weiß Gott "sensibilisiert", wie das im Deutsch ihrer Schutzverbände heißt. Braucht es da noch ein weiteres Buch über unser aller Essen und seine Wege auf unsere Teller? Hat es jetzt Paul Trummer und sein Buch Pizza globale auch noch gebraucht?
Oh ja. Denn all die Filme und Bücher - von Morgan Spurlocks Supersize me bis Jonathan Foers Tiere Essen - klären auf, sind aber vor allem eines: echte Schocker. Und echte Schocker haben die Angewohnheit, heftige Reaktionen hervorzurufen, und zwar zumeist Fluchtreaktionen. Wer sich intensiv mit der weltweiten Fleischindustrie beschäftigt, möchte sich für den Rest seiner Tage in die Sicherheit eines unschuldigen Eichhörnchenlebens retten: Die paar Nüsse können doch niemandem schaden. Doch die Welt verändert man so nicht.
Dass unsere Essgewohnheiten - geprägt von industrieller Massenproduktion, Convenience Food, Fertiggerichten - uns und dem Planeten schaden, wissen wir ja nun. Na klar, weil alle billiges Fleisch wollen, muss der Regenwald Sojafeldern weichen, mit denen das Vieh ernährt wird. Klar, gut gemeinte Weizenzuchtprogramme haben dazu geführt, dass weltweit immer mehr lokale Pflanzenarten aussterben. Bösewichte wie Monsanto stürzen Bauern auf der ganzen Welt ins Verderben, weil sie Patente auf Saatgut halten - wer nicht zahlt, kann im nächsten Jahr nichts anbauen. Die Gier nach billigen Lebensmitteln führt zu Preisdumping und wirtschaftlichem Elend, Massenproduktion von Nahrung zerstört die Umwelt. Die Liste der Heimsuchungen ist lang.
"Die Sendung mit der Maus" für Erwachsene
Und sie ist bekannt. Und niemand von uns Eichhörnchen will sie noch hören. Es sei denn, einer wie Paul Trummer kommt daher und fragt ganz unschuldig: Sag einmal, wo kommen eigentlich die Zutaten für die Tiefkühlpizza her, die ich mir da gerade reingezogen habe? Tiefkühlpizza, ausgerechnet. Das Symbol schlechthin für zweifelhafte Ernährung. Und für lustvolle. Immerhin, führt Trummer auf: "2008 wanderten über 245.000 Tonnen Tiefkühlpizza über das Laufband deutscher Supermarktkassen. Bei einem Pro-Kopf-Verzehr von neun Stück pro Jahr entspricht das rund 800 Millionen Stück gefrorener Teigfladen." Herrschaftszeiten, müssen wir dieses Zeug lieben!
Und dann nimmt sich Trummer auf deutlich über 300 Seiten diese Pizza zur Brust. Anhand der einzelnen Zutaten - Teig, Soße, Belag, Zusatzstoffe und Gewürze - zeigt er all die Scheußlichkeiten einer globalen Nahrungsmittelindustrie auf. Am Ende möchte man für lange, lange Zeit nur noch selbst gezogene Karotten essen.
Pizza globale ist, wenn man so will, die "Sendung mit der Maus" für Erwachsene: Ein Alltagsgegenstand führt in die Welt ein und klärt auf. Weil sich Trummer dabei der Tiefkühlpizza und ihrer ewig pubertären Konnotation als Vehikel bedient, wirkt das manchmal wirklich etwas zu naiv. Andererseits: Er hat ja auch nicht den eher ab- als aufgeklärten kritischen Konsumenten im Blick, sondern uns alle. "Sie essen? Mindestens zweimal am Tag? Was für einer wundervoll großen Zielgruppe für dieses Buch Sie dadurch angehören!", begrüßt er seine Leser.
Lernen Sie kochen
Diesem Ton bleibt er treu, auch am Schluss des Buches, wo er sich auf eine Grand Tour durch die Welt der Alternativen zu den vorherrschenden Unappetitlichkeiten begibt. Er klärt bis dato womöglich unbeleckte Leser über biologisch erzeugte Nahrungsmittel auf und darüber, dass "Bio noch besser werden kann" - zum Beispiel, indem es sich durch Geschmacksunterschiede absetzt. Die man aber nur erkennt, wenn es einem den Gaumen nicht durch das Industrie-Food verhauen hat - flugs fügt er ein Kapitel über die Slow-Food-Bewegung ein. Auch die Dump Diver dürfen nicht fehlen, also Menschen, die sich von weggeworfenen Lebensmitteln ernähren, ebenso wenig wie Sozialtafeln und Fairtrade. Sogar Ernährungsratschläge gibt er.
Das ganze Buch liest sich, als habe sich hier einer vorgenommen, endlich ein für alle Mal die Menschheit zu informieren. Das hätte schiefgehen können. Doch Trummer ist ein wirklicher Aufklärer und ein guter Pädagoge. Er hält seinen freundlich-konstruktiven Ton bis zum Ende durch und gibt sogar proindustriellen Stimmen Raum. Er lässt vieles einfach klug stehen und stellt es dem Urteil des Lesers anheim - trotz aller Ratschläge. Deren schönster übrigens ist: "Lernen Sie kochen." Denn dann können die Leute selbst bestimmen, was in den Topf kommt - und was nicht.
Zitate
"Am Ende möchte man für lange, lange Zeit nur noch selbst gezogene Karotten essen." Jost Burger über Paul Trummers Buch "Pizza globale"
changeX 22.10.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch auf der Verlagsseitewww.ullsteinbuchverlage.de/econ/...
Zum Buch
Paul Trummer: Pizza globale. Ein Lieblingsessen erklärt die Weltwirtschaft. Econ Verlag, Berlin 2010, 336 Seiten, ISBN 9783430201001
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Autor
Jost BurgerJost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.