Das Ende einer milden Krankheit
Mit seinen Begleit- und Vorveranstaltungen hat sich der Vision Summit zu einem Veranstaltungsmarathon in Sachen „anders wirtschaften“ entwickelt. Am Nachmittag des Workshops Citizen Entrepreneurship stehen Start-ups, Projekte, Ideen und Unternehmen im Zentrum. Und am Abend scheint dann eine große Vision auf: eine Gesellschaft nach dem Ende der Erwerbsarbeit.
Als nach der Mittagspause die Moderatoren der Nachmittagsworkshops auf die Bühne im Audimax kommen, um kurz das Thema ihrer Diskussionsrunde vorzustellen, nehmen sie, dicht an dicht stehend, beinahe die gesamte Breite des Raumes ein. Drei Runden mit jeweils acht Workshops von knapp bemessenen 45 Minuten Dauer sieht das Programm vor – 24 Themen rund um Entrepreneurship: Methoden, Techniken, Komponenten, Ideen, Start-ups und Unternehmen, die sich längst am Markt etabliert haben, geben sich hier die Hand. Nach dem globaltheoretischen Einstig vom Vormittag geht es nun in die Praxis, und die hat viele Facetten.
Überhaupt ist die thematische Verbreiterung und Verästelung ein Symptom dieses Vision Summit, der sich längst zu einem verlängerten Veranstaltungswochenende ausgewachsen hat. An die beiden Hauptveranstaltungen am Samstag und am Sonntag haben sich verschiedene Begleitveranstaltungen angedockt, die sich besonderen Themen eines anderen Wirtschaftsverständnisses anzunähern suchen. Insgesamt acht Konferenzen finden in diesen Tagen im jubiläumsschwangeren Berlin statt, ihre Themen reichen von Daniel Klinks ehrbarem Kaufmann bis hin zu Thomas Druyens Vermögensforschung. Keiner kann mehr alles im Blick behalten. Aber alle haben das Gefühl, an etwas Neuem mitzuwirken: einem neuen, veränderten Verständnis von Wirtschaft, Arbeit und Kultur. Dieses Denken in großen Umbruchskategorien zieht sich durch die großen Keynotes von Muhammad Yunus und Günter Faltin, und es gewinnt nochmals Kontur, als Frithjof Bergmann am Ende eines langen Tages in freier Rede die Vision von einer Gesellschaft nach der Erwerbsarbeit Gestalt gewinnen lässt.
Gründen in Komponenten.
Dass keiner mehr alles im Blick behalten kann, das gilt für den Vision Summit insgesamt, aber es gilt auch schon für den Nachmittag des Citizen Entrepreneurship Workshop am ersten Tag. Nach den Auftaktreferaten kommen nun die Praktiker zum Zug. Und machen deutlich, welche Breite die Entrepreneurship-Bewegung in Deutschland mittlerweile angenommen hat. Fast gewinnt man den Eindruck, die Akteure versuchten, die miese Gründerquote hierzulande durch verstärktes Engagement in ihren Unternehmen und Projekten wettzumachen. Ökologisches Entrepreneurship, Cultural und Educational Entrepreneurship, Social Business, Mikrofinanzierung, Online-Marketing, Suchmaschinenoptimierung, Gründermethodik und Konzeptentwicklung sind einige der angebotenen Themen. Hinzu kommen Start-ups und Unternehmen, die ihren Gründungsansatz vor- und zur Diskussion stellen.
Gründen in Komponenten, Günter Faltins programmatischer Entwurf, den er in seinem Buch Kopf schlägt Kapital entwickelt und in seinem Vortrag am Vormittag vorgestellt hat, gewinnt nun Kontur. Holger Johnsons ebuero, die Bürodienstleistungskomponente für kleine und mittlere Unternehmen, ist ebenso vertreten wie das Komponentenunternehmen RatioDrink. RatioDrink könnte, wie Faltin frotzelt, nicht einmal einen Journalisten in sein Unternehmensdomizil einladen – denn es hat keines. Alles outgesourct beziehungsweise zusammengebaut aus Leistungen externer Unternehmer, den Komponenten.
Ein weiterer virtueller Unternehmensbaustein, die Buchhaltungskomponente, feiert an diesem Nachmittag Premiere. Patrick Straßer, der zusammen mit Günter Faltin die Idee entwickelt hat, stellt das neue Modul vor. Kompliziertes einfach machen ist auch hier die Devise. So kommt die Software nicht nur komplett ohne das übliche Buchhalterchinesisch aus, sondern nimmt dem Benutzer auch die Klassifikation und Archivierung der Dokumente ab. Man scannt seinen Beleg – den Rest erledigt die Software selbst, berichtet Straßer stolz: von der Erkennung des Mehrwertsteuersatzes, von Telefonnummer und Anschrift des Rechnungstellers bis hin zur Narrensicherung, die erkennt, ob der Benutzer das Dokument richtig herum in den Scanner gesteckt hat.
„Mein Kunde ist der kreative Chaot“, sagt Straßer, der in der kreativen Gründerszene sein größtes Potenzial sieht. In der Tat nimmt seine Software nicht nur ungeliebte, aber notwendige Tätigkeiten ab, sondern setzt an einer entscheidenden Schwachstelle vieler Gründer an: dem Defizit an Business Administration. Denn notwendig ist die zweifellos, nur ist sie eben nicht alles.
Nimm mich mit.
Ein anderes Start-up, das sich an diesem Nachmittag in einem der Hörsäle vorstellt, ist „Nimm mit“. Die Idee von Thomas Klamroth und Thomas Wachsmuth: eine innerstädtische Mitfahrzentrale. Beispiel Berlin: Wer kurzfristig vom Wedding nach Zehlendorf möchte, ruft bei „Nimm mit“ an und bekommt innerhalb weniger Minuten eine Fahrt vermittelt. Statt vieler leerer Autos im Stau bald viele voll besetzte Autos im Fluss, so die Vision. Auf einen dreifachen Mehrwert hoffen die Gründer: ökonomischen Mehrwert für Fahrer, Mitfahrer und Anbieter, also sie selbst. Ökologischen Mehrwert durch sparsameren Gebrauch des eigenen Autos. Und sozialen Mehrwert durch die Mini-Blind-Dates, die sich aus dem Matching von Fahrern und Mitfahrern ergeben.
Natürlich steht der ökologische Mehrwert noch in den Sternen: Es könnte auch sein, dass „Nimm mit“ in der Realität letztlich vor allem Taxis und öffentlichem Nahverkehr die Kundschaft abspenstig macht. Aber auch dazu muss sich „Nimm mit“ erst einmal am Markt durchsetzen: Um gut zu funktionieren, braucht das Start-up viele Kunden. Klamroth und Wachsmuth arbeiten seit 2000 an ihrem Konzept. Möglich wird das Projekt durch eine spezielle sprachgesteuerte Software, die die Gründer auf Open-Source-Basis selbst entwickelt haben. Sie steuert Matchingprozesse und enthält ein Bewertungssystem. Im Januar 2010 ist es dann so weit: „Nimm mit“ geht in Berlin an den Start. Weitere Städte sollen nach und nach folgen. Zudem ist das Unternehmen ein gutes Beispiel für Faltins Parole, dass Neues auch durch die Neukombination von Vorhandenem entstehen kann. Überträgt die neue Mitfahrzentrale doch nur das Modell der Taxizentrale auf einen anderen Nutzerkreis und kombiniert es mit der im Social Web üblichen Bewertung – in diesem Fall von Fahrern und Mitfahrern.
Kaisermöhren und Überlebens-Unternehmer.
Bei den ökologischen Entrepreneuren geht es zu wie in einem überfüllten Seminar. Ein Kreis von Teilnehmern sitzt auf dem Boden um die rechteckig angeordneten Tische herum, sie drängen sich hinter dem Moderator, was Zwischenfragen aus dieser Richtung schwierig macht. „Was ist ökologisches Entrepreneurship?“, fragt Moderator Leo Pröstler in die Runde. Einer aus der Runde meint: „Ich darf der Natur nicht mehr schaden, als ich ihr nutze.“ Einer Teilnehmerin geht das nicht weit genug: Ziel sei, Umweltprobleme zu begrenzen und zu lösen. Was die Veranstalter darunter verstehen, wird am Beispiel der Bioerzeugergemeinschaft Möhren des Referenten Markus Haastert deutlich. 50 Tonnen Möhren wurden dort pro Jahr vernichtet, weil sie zu klein sind für den Markt: Kategorie B statt Kategorie A, erzählt Haastert. Sie konsultierten einen Ökotrophologen, einen Ernährungswissenschaftler – und fanden eine Lösung: die Kaisermöhre. Das ist eine gegarte Möhre, die in dieser Form wieder auf dem Markt verkauft werden kann. So wird vermeintlicher Abfall in ein neues Produkt verwandelt. Pröstler fordert eine Bewusstseinsveränderung. Er meint: „Ich bin fest überzeugt davon, dass die Zukunft im dezentralen regionalen Management liegt.“
Auch beim Workshop „Mikrofinanzen und Entrepreneurship“ sitzen die Teilnehmer auf Boden und Fenstersimsen. Kann Mikrofinanzierung eine Lösung für Entrepreneure sein?“ In Deutschland eher nicht, meinen die meisten. Zum einen geben Banken Entrepreneuren nicht gerne Kredite: „Die übliche Sonntagsrede, dass Mikrokredite für Entrepreneure seien, ist deshalb so problematisch, weil es – wie auch Faltin schon sagte – 80 Prozent nach drei Jahren nicht mehr gibt“, erklärt Moderator Nitsch, der die Gruppe leitet. Außerdem sei die Sozialhilfe hier relativ hoch. Das allerdings trifft nicht für Obdachlose und nicht registrierte Migranten zu, wirft ein Teilnehmer ein. Und schlägt vor, diese Gruppen auch als eine Art von Unternehmer zu sehen: als Überlebens-Unternehmer. Aber: auch für die Ärmsten der Armen auf der Welt sei eine Entwicklung durch Mikrokredite nicht wirklich Erfolg versprechend, meint Nitsch: „Jeder Kredit ist gleichzeitig eine Bürde, die man trägt“, sagt er. So könnte man die Allerärmsten nicht stärken. Es sei denn, man befreit sie von jeglichem Zins – wie dies der Beggar’s Loan von Grameen tut.
Eine Kultur, die Entrepreneurship achtet.
Gegen Abend treffen sich alle Teilnehmer wieder im Audimax. Die Reihen haben sich im Vergleich zum Morgen etwas gelichtet. Dennoch haben viele durchgehalten. Sie warten auf das Grußwort von Hernando de Soto aus Peru, der via Skype zugeschaltet wird. Es pupst ein paar Mal in der Leitung, dann steht die Verbindung. De Soto bringt eine erfrischend außereuropäische Sicht auf Entrepreneurship mit. „Entrepreneurs are people who bring things together“, sagt er. Und darin hätten die Europäer ja Übung: Ressourcen aus aller Herren Länder einzusammeln und zusammenzubringen, daraus ein Produkt zu machen. Sein Beispiel: ein Bleistift, der sich auf diese Weise aus Bestandteilen aus 16 Ländern zusammensetzt. Warum, so fragt de Soto, machen die Länder, die die Ressourcen besitzen, nicht alles selbst? Und kommt auf den Geist, den „spirit“ für Entrepreneurship zu sprechen. Er erinnert seine Zuhörer: „The spirit of Entrepreneurship is something you have to keep alive.“ Und meint, dass es Deutschland heute an Respekt für die Tätigkeit von Entrepreneuren mangele: „What is missing in Germany is respect for entrepreneurship.“ Und das, findet er, ist der Kern des Problems. Es geht also darum, eine Kultur zu schaffen, die Entrepreneurship wieder achtet: „The challenge is to bring back respect for entrepreneurship.“
Den Abschluss des Tages bildet Frithjof Bergmann mit seiner Vision einer neuen Wirtschaft, eines neues Arbeitssystem und – daraus resultierend – einer neuen Kultur. Diese „grundandere“ Wirtschaft, die Produkte erzeugt, „die man wirklich braucht“, nennt er Produktismus. Die Grundlage dieser neuen Wirtschaft und Gesellschaft, so Bergmann, ist ein anderes Arbeitssystem. Denn im heutigen Arbeitssystem mit seiner Lohnarbeit sieht er den Kern des Übels, das zu überwinden ist: Arbeit, die vielen Menschen wie eine „milde Krankheit“ erscheint.
Die zukünftige, selbständige – im Sinne von „self-reliant“ – Arbeitswelt à la Bergman sieht so aus: Zehn Stunden pro Woche arbeitet man im Produktismus, zehn Stunden im normalen Job und 20 Stunden pro Woche kann man tun, was man wirklich tun will. Arbeit leisten, die für einen selbst Sinn macht, bei der die Menschen ihre Begabungen verwirklichen können. Möglich macht das die „dritte Phase der Technologie“, die die großen Konzerne überflüssig mache, und zu der er – als ein Gerät unter vielen – den Computer zählt. Und da schließt sich der Kreis zur Netzgemeinde. Denn das ist ein Traum, den dort viele teilen: der Computer als Transformator. Für eine neue, zwangfreie Arbeitswelt.
changeX 08.11.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Annegret NillAnnegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.
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