Perspektiven auf Selbstorganisation
Was Selbstorganisation ist und soll und wie sie verwirklicht werden kann, ist keineswegs klar. Zu viele Meinungen, Sichtweisen und Konzepte stehen im Raum. Stehen unvermittelt nebeneinander. Zeit, einen Überblick zu schaffen, Bezüge herzustellen. Das ist das Ziel unserer Erkundung. Das Vorhaben: Menschen zu fragen, die an, mit und in Selbstorganisation arbeiten, um Antworten auf einer vergleichbaren Basis zu gewinnen. Und vielleicht ein wenig Klarheit.
Zum Erkundungsprojekt: Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass der Begriff Selbstorganisation in ganz unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexten verwendet wird und es ganz unterschiedliche Ansätze zu ihrer Umsetzung gibt. Der Impuls war: Wenn diese Beobachtung stimmt, müsste man dann nicht genau hinschauen, welche Bedeutungen und Kontexte dies sind? Gewissermaßen das Feld erkunden? Eine Erkundung in Sachen Selbstorganisation also. changeX hat dann ganz unterschiedliche Menschen eingeladen, sich Gedanken über Selbstorganisation zu machen. Menschen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten, darüber nachdenken und darüber schreiben. Sie berichten über ihr Verständnis und ihre Erfahrungen: in Form von möglichst neutral geführten Interviews. Grundlage hierfür bildet ein Interviewleitfaden mit 15 Fragen, die von den Interviewpartnerïnnen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten erscheinen dann in Interviewform, redigiert und gegebenenfalls ergänzt durch einzelne gezielte Nachfragen. Selbstorganisation meint dabei Selbstorganisation im Organisationskontext - aber um Selbstorganisation in diesem Kontext zu verstehen, ist es sinnvoll, Selbstorganisation in anderen Kontexten zu beleuchten. Die allgemeine Frage hinter dem Interviewprojekt könnte somit auch lauten: Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen? Es ist dann auch die erste, allgemeinste Frage in den Interviews. In der folgenden Übersicht sind die Kernaussagen der einzelnen Interviews kurz zusammengefasst. Die Reihenfolge ist aufsteigend, der jeweils aktuellste Beitrag steht also oben. Links zu den Interviewtexten finden sich in der Spalte rechts.
Wir sind die Beobachter
Erkundung Selbstorganisation 23 - ein Interview mit Karl Schattenhofer
"Selbstorganisation ist eine Beobachterperspektive, unter der man Systeme anschauen kann."
"Selbstorganisation passiert überall", sagt der Diplompsychologe Karl Schattenhofer, "das ist dieser Ordnungsprozess, den man versuchen kann zu verstehen, aber wahrscheinlich nie ganz versteht." Eine bemerkenswerte Aussage für jemanden, der sich seit mehr als 30 Jahren mit diesem Thema beschäftigt. Schon Schattenhofers 1992 erschienene Promotionsschrift Selbstorganisation und Gruppe befasst sich mit Entwicklungs- und Steuerungsprozessen in selbstorganisierten Gruppen und Unternehmen der damals gesellschaftlich aktiven Selbsthilfebewegung. Unser Interview schlägt somit einen 30 Jahre spannenden Bogen von Selbstorganisation im Kontext einer sozialen Bewegung zur heutigen Praxis in Unternehmen, Organisationen und Teams. Schattenhofer führt dabei eine neue, überraschende Perspektive ein: "Selbstorganisation ist nichts, was den Systemen zu eigen ist. Sondern Selbstorganisation ist eine Beobachterperspektive, unter der man Systeme - soziale, technische, psychische Systeme - anschauen kann." Eine Erforschungs- und Untersuchungsperspektive also, die sich von der traditionellen Sichtweise, Systeme als von außen determiniert und gesteuert anzusehen, abwendet. Und stattdessen fragt, was dort an eigengesetzlichen, ordnungsbildenden Prozessen passiert. "Es geht also um eine Ablösung von der Kausalität, von der Verursachtheit von Prozessen in Systemen hin zur Eigengesetzlichkeit, zum Eigenleben dieser Systeme."
Weil Selbstorganisation überall passiert - wenn man denn hinschaut -, wird eine grundlegende Unterscheidung notwendig, die schon Elisabeth Göbel eingeführt hatte: nämlich zwischen der ohnehin stattfindenden, quasi selbstläufigen Eigenorganisation von Systemen auf der einen und dem Versuch einer bewussten und zielgerichteten Einflussnahme auf der anderen Seite. Während Göbel die selbstläufige Form als endogene Selbstorganisation bezeichnet und von autonomer Selbstorganisation abgegrenzt hatte, fasst Schattenhofer die Unterscheidung begrifflich anders. Er differenziert zwischen Selbstorganisation und Selbststeuerung. Selbstorganisation bezeichnet die ohnehin und überall stattfindenden Prozesse, Selbststeuerung hingegen fragt: "Wie kann ich mehr oder weniger bewusst Einfluss nehmen auf das, was da passiert?" Und dieses "Kontextbewusstsein", dass Akteure ein soziales System, das sie aufgebaut haben, auch steuern müssen, ist nach der Beobachtung Schattenhofers seit der Zeit der Selbsthilfebewegung deutlich gestiegen. "Mehr Selbstorganisation" bedeutet somit, stärker auf selbstorganisierende Prozesse zu schauen und bewusst auf sie Einfluss zu nehmen.
Die erwähnte Paradoxie, dass Selbstorganisation etwas ist, dass man zwar "versuchen kann zu verstehen, aber wahrscheinlich nie ganz versteht", bleibt gleichwohl bestehen. Und stellt sich den handelnden Akteuren als immer neu zu lösende, voraussetzungsvolle Aufgabe. Sie zu bewältigen, setzt Reflexionsfähigkeit voraus, dazu die Fähigkeit, mit paradoxen Anforderungen umzugehen, sowie die Bereitschaft, nach spezifischen, passgenauen Lösungen zu suchen. Denn was Selbstorganisation braucht, so Schattenhofer, "das ist für jedes Team, für jede Gruppe, für jede Organisation etwas ganz Spezielles". Standardisierung ist ein Irrtum aus der Industriegesellschaft.
Schritt für Schritt in die neue Welt
Erkundung Selbstorganisation 22 - ein Interview mit René Schneider
"Man muss die Mitarbeitenden ermutigen, selbst Ideen zu entwickeln."
René Schneider, der die Transformation des Bahnunternehmens DB Systel begleitet und mitgestaltet hat, sieht die Wirtschaft vor einer Zeitenwende. Er ist überzeugt davon, dass Selbstorganisation "die nächste Generation der Unternehmensstruktur" sein wird: ein neues Organisationsmodell jenseits von Command & Control und traditionellen Hierarchien. Ein Modell, das auf Wissen, Kompetenz und Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzt und sie selbst über ihre Arbeit entscheiden lässt. Wie bei DB Systel. "Die Entscheidungen liegen in den Händen derjenigen, die direkt mit dem jeweiligen Kunden interagieren. Durch diese dezentrale Entscheidungsfindung wird die Organisation erheblich flexibler und schneller", sagt Schneider. Das bringe nicht nur Effizienzgewinne, sondern erhöhe zugleich die Zufriedenheit und die Bindung der Mitarbeitenden ans Unternehmen. Das klingt nach einem Erfolgsmodell. Und René Schneider betont, dass er nicht mehr anders arbeiten möchte. Insgesamt zeichnet er aber ein durchaus differenziertes Bild von Selbstorganisation. Das fängt schon beim Begriff an, der die Herausforderungen von Selbstorganisation im Unternehmenskontext nicht ausreichend widerspiegele. Schneiders Erfahrung: Viele Mitarbeitende glauben, sie seien bereits selbstorganisiert, und geraten in die Überforderung, wenn sich die neue Form der Zusammenarbeit als schwieriger erweist als gedacht. Ohne professionelle Unterstützung durch einen Coach könne der Übergang in das neue Organisationsmodell nicht gelingen. "Bei der Einführung von Selbstorganisation ist es entscheidend, jeden Mitarbeitenden zu unterstützen, also Orientierung und schrittweise Begleitung zu bieten." Die Einführung von Selbstorganisation erfordere klare Rahmenbedingungen, die von der Unternehmensführung vorgegeben werden müssen. Der zentrale Punkt dabei: "Entscheidend ist, dass die Mitarbeitenden die Befugnis haben, selbst Entscheidungen zu treffen und ihre Arbeit selbst zu organisieren. Die Trennung von Was und Wie ist ein zentraler Punkt: Die Geschäftsführung gibt vor, was zu tun ist, aber wie es umgesetzt wird, entscheiden die Teams selbst."
Das Erkundungsinterview mit René Schneider ist ein langes Interview, ein Arbeitsgespräch, das zahlreiche konkrete Empfehlungen für die Einführung von Selbstorganisation bietet. Gerade die Skalierung von kleinen auf wirklich große Organisationseinheiten ist dabei ein zentrales - und äußerst spannendes - Thema. Darum geht es vor allem im Schlussteil des Interviews. Schneiders Empfehlungen in ultrakurzer Form: In einem abgegrenzten, "disjunkten" Bereich beginnen. Und zwar mit einer klaren Vorstellung, wohin die Transformation führen soll. Dies jedoch nicht im Change-Modus von Planen und Ausrollen, sondern in einem schrittweisen, angepassten Vorgehen. Am besten in der Produktion beginnen. Und zwar mit einem Early-Bird-Team, bestehend aus Mitarbeitenden, die Neues ausprobieren möchten und flexibel sind in ihrer Haltung. Und bei all dem gilt: Den Mitarbeitenden Gestaltungsräume eröffnen und sie ermutigen, selbst Ideen zu entwickeln. Und sie nicht nur in die Personalauswahl bei der Besetzung neuer Stellen mit einbeziehen, sondern auch in die Gestaltung der neuen Unternehmensstruktur. "Die neue Welt wurde nicht von den alten Managern geschaffen, sondern von den Mitarbeitenden selbst", sagt René Schneider über den Wandel bei DB Systel.
Meister ihrer Arbeit
Erkundung Selbstorganisation 21 - ein Interview mit Stefanie Puckett
"In Selbstorganisation werden die praktischen Entscheidungen dort getroffen, wo die Arbeit tatsächlich geleistet wird. Hier weiß man am besten, was funktioniert."
Selbstorganisation, für Stefanie Puckett ist das die Antwort auf den Wandel der Arbeitswelt. Indem Entscheidungen nicht mehr "oben" an der Spitze der Organisation getroffen werden, sondern dort, wo sie anfallen. Basierend auf dem Wissen der Mitarbeitenden. Sie sind Meister ihrer Arbeit und bringen ihr Wissen und ihre Kompetenzen selbstbestimmt in die Zusammenarbeit ein. Was Selbstorganisation ausmacht, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sie gelingt, und wo sie ihre Grenzen findet, davon handelt das Interview mit Stefanie Puckett.
Zunächst unterscheidet die Psychologin zwei Stufen selbstorganisierter Arbeit. Selbstorganisation bedeutet zunächst die Abwesenheit von Fremdorganisation bei der Planung und Durchführung von Arbeitsaufgaben. "Selbstorganisation bedeutet für mich, selbst zu entscheiden, wie und wann die Arbeit erledigt wird." Wo es über das Wie und Wann der Arbeit hinausgeht, beginnt Selbststeuerung: "Selbststeuerung bedeutet, eigene Ziele setzen zu können und zu entscheiden, was gearbeitet wird."
Beides sind voraussetzungsvolle Formen der Organisation von Arbeit. Zum einen setzt Selbstorganisation eine agile Unternehmenskultur voraus, die sich durch Transparenz, Empowerment und Kollaboration auszeichnet und eine wissensbasierte Zusammenarbeit ermöglicht. Damit Selbstorganisation gelingen kann, müssen zudem in der konkreten Zusammenarbeit, der Arbeitsweise in der Organisation, drei weitere Bedingungen gegeben sein. Erstens Kompetenz: Sind die erforderlichen Fähigkeiten und Ressourcen vorhanden? "Kann man?" Zweitens Information: Liegen alle notwendigen Informationen vor und besteht Zugang zum notwendigen Wissen? "Weiß man, wie?" Drittens Intention: Strebt das Team oder die Person in Selbstorganisation wirklich das Ziel an, das der Auftraggeber beabsichtigt hat? "Wollen sie dasselbe?"
Fehlen diese Voraussetzungen, kann Selbstorganisation nicht gelingen. Hinzu kommt eine psychologische Hürde. Es gebe auch "ein Zuviel an Verantwortung", sagt Puckett. Denn Menschen unterscheiden sich auch darin, wie viel Verantwortung sie übernehmen wollen und welches Maß an Herausforderung sie bei der Arbeit haben wollen. Damit Selbstorganisation nicht zur Überforderung führt, brauchen Mitarbeitende eine Kontrolle zweiter Ordnung: "Kontrolle auch darüber zu haben, was an Verantwortung ich nicht übernehmen möchte." Also die Möglichkeit, Grenzen zu setzen.
Wichtig für das Verständnis selbstorganisierter Zusammenarbeit ist für Puckett schließlich eine Erkenntnis: "Führung kann überall stattfinden und ist nicht an Positionen gebunden."
Scheiter heiter
Erkundung Selbstorganisation 20 - ein Interview mit Robert Wiechmann
"Was ist die bessere Alternative zur Selbstorganisation?"
Dass Selbstorganisation und Selbstmanagement zwei unterschiedliche Konzepte sind, scheint klar. Ist es aber nicht. In der konkreten Arbeit fließen beide ineinander, vermischen sich. So die Erfahrung von Robert Wiechmann, Berater und Coach für agile Transformation. Er unterscheidet daher zunächst Selbstorganisation von Selbstmanagement und betont zugleich die Bedeutung von Selbstmanagement- und Teamkompetenzen für die Selbstorganisation. Selbstorganisation ist aber kein Selbstläufer, sondern ein voraussetzungsvolles Konzept. Für Wiechmann ist der Begriff Empowerment von zentraler Bedeutung: "Menschen in Teams oder Organisationen müssen befähigt und ermächtigt werden, überhaupt autonom und selbstbestimmt handeln zu können." Selbstorganisation erfordert autonome Entscheidungen, eigenständige Prozesse und die Fähigkeit, Normen und Regeln gemeinsam zu entwickeln. Dem stehen jedoch Machtstrukturen, alte Denkmuster und mangelndes Vertrauen in die Mitarbeitenden entgegen. Sie bilden Barrieren für die Einführung von Selbstorganisation. Dennoch gewinne Selbstorganisation in Zukunft an Bedeutung, so Wiechmann. Denn sie birgt ein Potenzial für eine menschliche, nachhaltige und kundenorientierte Zusammenarbeit in Organisationen. Und nicht zuletzt bietet sie eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Wert der eigenen Arbeit.
Robert Wiechmann betont die Bedeutung von Werten für Organisationen und zieht dabei eine Analogie zwischen Improvisationstheater und Selbstorganisation. Beide erfordern Flexibilität, Offenheit für Veränderungen und Experimentierfreude. Improvisationstheater biete einen Ansatz, um Werte und Prinzipien in der Zusammenarbeit zu verinnerlichen und eine positive Fehlerkultur in der Organisation zu fördern. "Scheiter heiter!", ist dort die Maxime, und es gelte der Grundsatz: "Ansagen von oben gibt es nicht." Insgesamt plädiert Wiechmann dafür, Selbstorganisation zu fördern, um flexiblere und menschenzentrierte Organisationen zu schaffen. Er fragt: "Was ist die bessere Alternative zur Selbstorganisation?"
Hierarchie verlernen
Erkundung Selbstorganisation 19 - ein Interview mit Lennart Keil
"Verlernen ist schwer, denn was wir gelernt haben, ist ein fester Teil unserer Identität geworden."
Wie "verlernen" wir Hierarchie? Und wie lernen wir Selbstorganisation? Das ist das zentrale Thema des Interviews mit dem Organisationsentwickler und Buchautor Lennart Keil. Für ihn bedeutet Verlernen nicht so sehr, veraltetes Wissen loszuwerden. Vielmehr gehe es darum, "tief verankerte Programme schrittweise zu lockern". Das aber ist nicht leicht, weil das Erlernte zu einem festen Teil unserer Identität geworden ist. Selbstorganisation kann dabei helfen. Denn sie eröffnet einen selbstbestimmten Zugang zum Verlernen oder Entlernen solcher alten Gewissheiten in Form von überkommenen Organisationsmodellen, von alten Denk- und Verhaltensmustern und insbesondere der kulturellen Konditionierung auf hierarchische Strukturen. Selbstorganisation wäre damit nicht allein ein Ziel, sondern ein Weg, von alten Prägungen Abschied zu nehmen.
Zugleich bietet Selbstorganisation eine Lösung, um Systeme zu gestalten, die flexibel auf Veränderungen reagieren und sich kontinuierlich weiterentwickeln. Das erfordert ein neues Verständnis von Führung, das dynamisch, situativ und kompetenzbasiert ist. Und es braucht ein angemessenes Verständnis von Selbstorganisation: Es gelte, Selbstorganisation erstens als einen dynamischen Prozess zu verstehen, nicht als Organisationsform oder Methode. Zweitens ist sie auf Dezentralität gerichtet: Sie beinhaltet Strukturen, Prozesse und Verhaltensweisen, die dezentrale Entscheidungen und Reaktionen ermöglichen.
Selbstorganisation setzt damit für Keil die richtigen Schwerpunkte: Autonomie, Steuerung, Führung. Agilität hingegen werde oft auf Methoden reduziert. Die entscheidende Frage zu Selbstorganisation sei aber, wie viel daran Hype ist - und wie bereit Organisationen und Menschen für ein neues Verständnis von Führung und Organisation sind. Mut und Klarheit seien erforderlich, denn es gebe Widerstand. Aber "die Zeit ist reif für mehr Selbstorganisation".
Ernsthaft ausprobieren
Erkundung Selbstorganisation 18 - ein Interview mit Elisabeth Göbel
"Vermutlich sind die Möglichkeiten der Selbstorganisation noch lange nicht ausgeschöpft."
Kernstück des Interviews mit Elisabeth Göbel, Organisationsforscherin und Universitätsprofessorin in Trier, ist selbstredend die von ihr in ihrer Habilitationsschrift Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation (1998) eingeführte Unterscheidung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation. Zudem geht es um den grundlegenden Wandel in der Organisationstheorie. Idealtypisch werde die Organisation sozialer Systeme meist "als planvolle, bewusst hergestellte, künstliche Ordnung verstanden, die von Autoritäten mit Weisungsgewalt anderen vorgegeben wird". Allerdings könne auf diese Art und Weise nur eine "Ordnung der allereinfachsten Art" entstehen, wie Göbel den Ökonomen Friedrich August von Hayek zitiert. "Darum gibt es in komplexen dynamischen Systemen, wie es Unternehmen ja sind, immer auch andere Prozesse der Ordnungsentstehung", nämlich Selbstorganisation. Göbel unterscheidet dabei wie gesagt zwei Formen, hier ausführlich in ihren Worten wiedergegeben: "Es gibt zwei unterschiedliche Sichtweisen auf das, was Selbstorganisation bedeutet: Eine Ordnung im Unternehmen entsteht durch die betroffenen Mitarbeiter selbst - das bezeichne ich als ‚autonome Selbstorganisation‘. Oder sie entsteht ‚von selbst‘ - als ‚autogene Selbstorganisation‘. Im ersten Fall werden die Mitarbeiter nicht von autorisierten Personen durch Befehl und Gehorsam auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt, sondern sie haben Freiräume, um - in gewissen Grenzen - ihr Verhalten selbst zu bestimmen. Sie erwarten beispielsweise keine Koordination durch die Chefin, sondern stimmen sich direkt mit ihren Kollegen ab (Selbstabstimmung). Oder sie legen selbst fest, wann sie welches Produkt bearbeiten. Im Fall autogener Selbstorganisation entsteht die Ordnung ‚von selbst‘, ‚spontan‘ und durch ‚überpersönliche Kräfte‘. Es bildet sich beispielsweise eine sogenannte Unternehmenskultur aus, welche die Sichtweisen der Mitarbeiter in gewisser Weise normiert und dadurch die Zusammenarbeit erleichtert. Oder es bilden sich - ohne eine bewusste Planung - gewisse heimliche Spielregeln in einer Gruppe von Mitarbeitern aus. Das kann sich auch schädlich auf das Unternehmen auswirken, wenn etwa eine unausgesprochene Spielregel lautet, dass Fehler gemeinsam vertuscht werden." Entsprechend ist dann auch das Gegenteil von Selbstorganisation unterschiedlich zu fassen: "Das Gegenteil der autonomen Selbstorganisation ist die heteronome Organisation oder Fremdorganisation, das Gegenteil der autogenen Selbstorganisation ist die geplante, künstliche Organisation."
In ihrer autogenen Form ist Selbstorganisation unvermeidlich, sagt Göbel. Autonome Selbstorganisation entsteht hingegen nur in einem bewussten Prozess. Und ist nicht einfach zu erreichen. "Mehr autonome Selbstorganisation muss gut vorbereitet werden." Ihre Möglichkeiten seien vermutlich noch lange nicht ausgeschöpft. Man müsse es nur ernsthaft ausprobieren.
Abseits der Hierarchie
Erkundung Selbstorganisation 17 - ein Interview mit Michaela Moser und Liane Metzler
"Unternehmen müssen immer wieder abwägen, wann selbstorganisierte Prozesse Sinn ergeben und wann es besser ist, Prozesse fremdorganisiert zu gestalten."
Vom Kontext von Selbstorganisation war in einem Beitrag bereits explizit die Rede. Es gelte klar zu unterscheiden, in welchem Kontext Selbstorganisation thematisiert werde: ob Organisation, Team oder Individuum. Michaela Moser und Liane Metzler, Professorin für Personalmanagement und Leadership die eine, Scrum-Masterin die andere, wenden nun diesen Gedanken und ziehen zugleich den Rahmen weiter: Zu unterscheiden sind ihrer Argumentation zufolge die drei Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird, nicht nur theoretisch (im Hinblick auf den Diskurs), sondern auch ganz praktisch im Hinblick auf jede konkrete Organisation. Insofern Selbstorganisation sowohl auf den Ebenen Gesamtorganisation, Teams und Individuen thematisiert sein kann - und zwar jeweils mit ganz unterschiedlichen Antworten im Hinblick auf das Verhältnis von Fremd- und Selbstorganisation. So "kann die Selbstorganisationsfähigkeit des Gesamtsystems in den Subsystemen wiederum in Fremdorganisation übergehen" - und umgekehrt die Selbstorganisation von Subsystemen in der Fremdorganisation des Gesamtsystems ihre Grenzen finden. Wenn in einem Unternehmen von Selbstorganisation die Rede ist, gilt es also sehr genau hinzuschauen, welche Ebene beziehungsweise welcher Kontext gemeint ist, und welche Form Selbstorganisation dort annimmt. Ganz allgemein von Selbstorganisation zu sprechen, ist demnach wenig sinnvoll.
Zentral ist das bei hybriden Organisationen. Die lange Geschichte der Hierarchie zeige, dass sich hierarchische Unternehmen oftmals nur schwer in Unternehmen mit vollständiger Selbstorganisation transformieren lassen. Demnach "etablieren sich in vielen Unternehmen eher hybride Strukturen, bei denen die Routineaufgaben in der Hierarchie verbleiben und komplexe Aufgaben auf agile, interdisziplinäre Teams außerhalb der Hierarchie übertragen werden", so Michaela Moser. "In solchen Fällen koexistieren Selbst- und Fremdorganisation häufig als komplementäre Formen und erzeugen nicht selten entsprechende Spannungsfelder." Von Führungskräften in einer hybriden Organisation verlangt das eine hohe Widerspruchstoleranz. Unternehmen würden sich in der Zukunft ständig in diesem Spannungsfeld bewegen und in einem Prozess ständigen Abwägens agieren - das nicht zuletzt deshalb, weil Selbstorganisation nicht per se die bessere Lösung sei: "Selbstorganisation hat nur zur Bearbeitung komplexer Zusammenhänge Sinn", so Moser. Für Standardprozesse sei weiterhin die Hierarchie die bessere Form der Organisation. Hybride Formen ergeben sich damit schon aus der Unterschiedlichkeit der Aufgaben, die sich in einer Organisation stellen. Nicht zuletzt gelte es in diesem Abwägungsprozess die Grenzen und die Kosten selbstorganisierter Formen zu berücksichtigen: rechtliche Vorgaben, der erhöhte Zeitaufwand, den Selbstorganisation mit sich bringt, sowie Grenzen im Mindset von Führungskräften und Mitarbeitenden.
Nicht zuletzt verlangt die Idee der Selbstorganisation eine Öffnung auf der Ebene der Theorie. Denn sie verändert das Organisationsverständnis grundlegend. "Hierarchiefreie Organisationen und Selbstorganisation werden von den drei gängigen Organisationsbegriffen der Betriebswirtschaft nicht erfasst", betont Michaela Moser. Im Grunde bedürfe es "einer neuen Begriffsdefinition, die stärker die durch zwischenmenschliche Interaktion geschaffene Ordnung in einem System in den Blick nimmt, unabhängig davon, wie sie entstanden ist". Gefragt ist ein Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie.
Gelebte Lebendigkeit
Erkundung Selbstorganisation 16 - ein Interview mit Silke Luinstra
"Selbstorganisation ist schon da, sie ist nur gefesselt - und mit ihr die Lebendigkeit in einer Organisation."
Soweit ersichtlich war es der Unternehmensberater und Buchautor Matthias zur Bonsen, der den Begriff Lebendigkeit zum ersten Mal für Unternehmen verwendet hat, jedenfalls als Kategorie, die den Erfolg einer Organisation erklären soll. "Mit den und nicht gegen die Gesetzmäßigkeiten und Muster des Lebens und lebendiger Systeme zu führen und zu organisieren", war die Quintessenz seines Buches Leading with Life, das 2009 erschienen ist. Während zur Bonsen eine Theorie der Organisation im Blick hatte, speist sich Silke Luinstras Zugang ganz konkret aus der eigenen Erfahrung: der Lähmung von Lebendigkeit, die sie in diversen Organisationen erfahren hat. Lebendigkeit ist dabei nicht bloß Metapher, sondern eine (systemische) Analogie zwischen Organisationen und lebenden Systemen: Beide zeichnen sich aus durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Lebendigkeit ist dabei die entscheidende Zukunftsfrage, so die Unternehmerin, Buchautorin und AUGENHÖHE-Aktivistin in Hamburg: "Ohne Lebendigkeit werden Unternehmen auf die immer größer werdende Dynamik nicht dauerhaft antworten können."
Selbstorganisation entzieht sich aber einer Instrumentalisierung. Sie "ist nichts, was jemand ‚machen‘ könnte, sondern vielmehr ein grundlegender Mechanismus des Lebendigen. Jedes lebendige, komplexe System hat die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Muster zu erzeugen, das ist eine ihm innewohnende Eigenschaft", betont Luinstra. Sie schließt sich dem systemischen Grundsatz an, wonach Selbstorganisation als grundlegende Systemeigenschaft ohnehin da ist. Sie sei also "keine Lösung für irgendetwas". Auch könne es nicht mehr Selbstorganisation geben - allenfalls "mehr entfesselte Selbstorganisation - und damit Lebendigkeit". Selbstorganisation ist der Schlüssel zur Lebendigkeit. Das eine bedingt das andere.
Drei weitere Beobachtungen verdienen es, festgehalten zu werden: Erstens hängt Lebendigkeit eng mit der Form, der Gestalt, zusammen, die sich eine Organisation gibt. Oft ist schon betont worden, dass jede Organisation ihre eigene Form finden muss. Luinstra unterstreicht das und bezieht es zurück auf Lebendigkeit: "Alle Organisationen, die ich als ausgesprochen lebendig erlebe, haben ihre Art und Weise, ihre Organisation zu gestalten, selbst erfunden." Zweitens deutet Luinstra eine wichtige Eigenschaft lebendiger, komplexer, sich selbst organisierender Systeme an: "Sie sind auch autonom." Das bedeutet, dass man "von außen nichts mit diesen Systemen tun kann". Das hat (drittens) Konsequenzen dafür, wie wir mit sich selbst organisierenden Systemen umgehen. Gefordert ist: Respekt. "Ich bemühe mich, Respekt vor der Selbstorganisation jedes Menschen und jeder Organisation zu leben", sagt Luinstra. Und erteilt jeder Form von extern aufgesetztem "Change" eine klare Absage - egal, ob der Impuls dazu von außen oder von oben kommt.
Elastischer Begriff, vielfältige Formen
Erkundung Selbstorganisation 15 - ein Interview mit Georg Zepke
Autonome Selbstorganisation bedeutet, bewusst mit Organisationsmodellen zu arbeiten.
Die Unterscheidung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation, an die Boris Gloger in der letzten Station der Erkundung verwiesen hatte, spielt auch im Interview mit Georg Zepke, Organisationsforscher in Wien, eine wesentliche Rolle. Genau besehen geht es um eine grundlegende Differenzierung, die ein angemessenes Verständnis von Selbstorganisation erst ermöglicht. Eingeführt wurde sie von der Organisationswissenschaftlerin Elisabeth Göbel bereits 1998. In ihrer Habilitationsschrift unterscheidet Göbel dabei zwischen zwei Formen von Selbstorganisation: einer, die sich in jeder Organisation quasi selbstläufig, resultierend aus der Eigendynamik komplexer sozialer Systeme vollzieht - Göbel nennt dies "autogene Selbstorganisation" -, und zweitens einer Selbstorganisation, die bewusst und selbstbestimmt durch die Organisationsmitglieder gestaltet wird, die "autonome Selbstorganisation". Und genau dies ist ja gemeint, wenn von "mehr Selbstorganisation" die Rede ist, und das ist es auch, worum es in dieser Erkundung geht: die Gestaltung von Organisationen im Sinne neuer Organisationskonzepte, die die Rolle der beteiligten Organisationsmitglieder stärken, indem sie Entscheidungen dorthin verlagern, wo sie anstehen.
Georg Zepke macht in seinem Interview die Unterscheidung "autogen - autonom" stark. Und verschiebt die Perspektive hin zur autonomen Seite. In seiner Definition ist "autonom" der prägende Bezugspunkt: Unter Selbstorganisation versteht er "sehr pragmatisch und im Sinne der autonomen Selbstorganisation alle Ansätze und Praktiken, die bewusst mit Organisationsmodellen arbeiten und experimentieren, die eine Verlagerung traditioneller, hierarchischer Entscheidungsverantwortung an die Basis im Zentrum haben und dabei versuchen, die besondere Herausforderung von Organisation als spezifisches soziales System mit zu berücksichtigen". Trotz dieses klaren Bezugs auf autonome Selbstorganisation fällt die autogene Komponente dabei nicht unter den Tisch: "Organisationen als soziale Systeme haben immer etwas Eigensinniges, Unsteuerbares, etwas Unverfügbares an sich." Zugleich ist Zepkes Zugang breit angelegt und integriert so unterschiedliche Konzepte und Modelle wie etwa Soziokratie, Holakratie, New Work über kollegiale Führung und agile Ansätze wie Scrum und Kanban bis hin zu Pfirsich-Organisation oder Teal Organizations. Das Ziel: sie "besprechbar zu machen" und zueinander in Beziehung zu setzen. Also Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich werden zu lassen und diese auf unterschiedliche Herkunfts- und Entstehungskontexte zu beziehen. Denn es bedeutet einen gewaltigen Unterschied, ob ein Modell in der Tradition der Humanisierung der Arbeitswelt Ideen wie Partizipation, Sinn und Potenzialentfaltung in den Mittelpunkt rückt oder aber in der Tradition des Lean Managements flexible Anpassung, funktionale Optimierung, Effizienz und die Orientierung an Kundenbedürfnissen betont werden. Als "elastischer Begriff" könne Selbstorganisation für unterschiedliche Orientierungen - die wiederum in durchaus ähnlichen Formen der Organisation münden - einen Orientierungsrahmen bieten, ist Zepke überzeugt. Vorausgesetzt, Selbstorganisation werde nicht zu sehr moralisch aufgeladen. Es gelte, eine kritische Haltung zu bewahren - gerade weil Selbstorganisation an Bedeutung gewinnt.
Drei Beobachtungen führt der Organisationsforscher zum Beleg für diese Einschätzung an: Die Sehnsucht nach und das Interesse an neuen, anderen Arbeitsformen wachsen. Das Potenzial an Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationen ist noch lange nicht ausgereizt. Und gerade für gesamtgesellschaftliche Herausforderungen werden Experimente mit neuen Organisationsmodellen an Bedeutung gewinnen. Aber es gelte auch: "Nicht für jede Situation ist Selbstorganisation die beste Lösung."
Selbst entscheiden
Erkundung Selbstorganisation 14 - ein Interview mit Boris Gloger
"Wie bekommen wir es hin, dass Menschen sich immer weiter aus den Zwängen der Organisationen befreien?"
Individuelle Selbstorganisation im Sinne von Selbstmanagement, Selbstorganisation in Teams, selbstorganisiertes Lernen, auch die Angst vor neuen Formen der Organisation waren Perspektiven, die in den letzten Stationen der Erkundung angesprochen wurden. Es ging um eine thematische Erweiterung des Horizonts, um neue Perspektiven über den engeren organisationalen Rahmen hinaus. Nach diesem Intermezzo wendet sich unsere Erkundung nun wieder dem Kontext der Organisation zu - mit einer Differenzierung. Beziehungsweise zwei.
Schaut man auf die Organisation, ist man schnell bei der Struktur. Und die Struktur, daran hat uns das Managementdenken gewöhnt, lässt sich am einfachsten in Form eines Organigramms darstellen. Damit ist man bei den ganz einfachen Mustern: Kästchen, Striche, Oben und Unten, die Pyramide. Und entsprechend formt sich dann die Vorstellung einer anders gestalteten Organisation - nur dass die Formen wechseln: Kreis statt Pyramide, Bottom-up statt Top-down, Selbstorganisation statt Fremdorganisation. Diese Entgegensetzung stellt Boris Gloger, Agilitätsexperte und Unternehmer in Frankfurt am Main, infrage. Das Gegenteil von Selbstorganisation lässt sich seiner Ansicht nach sehr viel präziser benennen: "Menschen dürfen nicht selbst entscheiden oder ihre Entscheidungen werden übergangen." Es geht also ums Selbstentscheiden. Die Frage, die sich stellt, ist somit ganz konkret: "Darf ein Kollege, eine Kollegin in einer Organisation oder in einem anderen Kontext selbst entscheiden, was er oder sie tut, oder sind sie durch Vorgesetzte beziehungsweise Regeln daran gehindert? Werden also die Menschen in Organisationen ihres Bedürfnisses beraubt, eigenständige, autonome Entscheidungen zu treffen?" Das ist nicht nur konkret, sondern bietet ein klares Kriterium, unabhängig vom Organisations-Chart auf dem Flipchart oder der Website.
Und eine weitere Differenzierung bringt Gloger ein - beziehungsweise erinnert an sie, denn eingeführt wurde sie schon einige Jahre früher. Sie betrifft die Frage, ob es "mehr Selbstorganisation" geben solle beziehungsweise könne. Systemtheoretisch ergibt diese Frage keinen Sinn, weil in jeder Organisation Ordnungsmuster gleichsam "von selbst" entstehen, sich die Organisation also selbst organisiert. "Selbstorganisation ist … ein Fakt, denn sie geschieht immer", so Gloger. Weil es in Organisationen aber offensichtlich nicht nur spontan entstehende, sondern auch gesteuerte Prozesse der Ordnungsbildung gibt, hat Elisabeth Göbel in ihrer Habilitationsschrift 1998 zwischen zwei Arten von selbstorganisierenden Prozessen unterschieden: Autogene Selbstorganisation meint die Ordnung, die gleichsam "von selbst" durch die Eigendynamik komplexer dynamischer Systeme entsteht. Autonome Selbstorganisation hingegen heißt: "Ordnung entsteht ‚selbstbestimmt‘ durch die Organisationsmitglieder." Damit stellt sich die Frage nach dem Handlungsspielraum, den Menschen in Organisationen haben. Oder - emanzipatorisch gewendet - in der Schlussformulierung von Boris Gloger: "Wie bekommen wir es hin, dass Menschen sich immer weiter aus den Zwängen der Organisationen befreien?"
Mut, selber tätig zu werden
Erkundung Selbstorganisation 13 - ein Interview mit Margret Rasfeld
"Selbstorganisation hat entscheidend mit Vertrauen in das Potenzial von Menschen zu tun."
"Alles Lernen ist Selbstorganisation", sagt Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld. Doch in unserem Bildungssystem sei Selbstorganisation eine riesige Grenze gesetzt, "weil dieses ganze System auf Anpassertum, auf Erfüllungsmodus, auf ständige Bewertung, auf Gleichschritt ausgerichtet ist". Bedingungen, unter denen sich Selbstorganisation nicht entfalten kann. Margret Rasfeld benennt klar, was gegeben sein muss, damit dies möglich ist: Das Aufgabenfeld muss begrenzt und die Aufgabenstellung zu bewältigen sein. Man muss sich selber kennen in seiner Arbeitsweise. Feedback ist wichtig und die Möglichkeit zur Reflexion. Es braucht den Mut, selber tätig zu werden. Entscheidend aber ist Beziehung: "Beziehung ist eine wichtige Grundlage von Lernen und Motivation", sagt Rasfeld. "Deshalb ist es wichtig, dass Erwachsene Vertrauen haben, dass sie loslassen und in den Potenzialblick gehen - dass sie ihr Gegenüber also nicht als defizitäres Wesen ansehen, sondern als einen Menschen, der ganz viele Potenziale in sich trägt, die es zu entfalten gilt. Das ist die Grundhaltung für ein gutes Gelingen von Selbstorganisation." Was sich eins zu eins auf die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden übertragen lässt. Und noch etwas ist wichtig. Es betrifft ebenfalls die Beziehungsebene, wenn Menschen zusammenarbeiten oder zusammen lernen: Immer dann stelle sich die Frage "Wo geht es ums Ich und wo geht es ums Wir?", so Rasfeld. Ihre Antwort: "Man darf Selbstorganisation nicht im Egomodus betreiben."
Supertrend Empowerment
Erkundung Selbstorganisation 12 - ein Interview mit Andreas Eilers
"Empowerment wird ein neuer Supertrend im 21. Jahrhundert sein."
Empowerment, Subsidiarität und Werte sind Schlüsselbegriffe im Verständnis von Selbstorganisation bei Andreas Eilers. Der Experte für die Selbstorganisation agiler Teams sagt: "Empowerment wird ein neuer Supertrend im 21. Jahrhundert sein." Nicht zuletzt deshalb, weil Selbstorganisation eine Anpassung an eine sich schnell verändernde Umwelt ermöglicht. Aber Eilers spricht auch deutlich die Faktoren an, die Selbstorganisation blockieren oder verhindern: Angst vor Veränderungen, Angst vor unbekannten, neuen Organisationsformen, Angst vor Zielverfehlung und Kontrollverlust, nicht zuletzt auch Machtausübung und Hierarchie, die destruktive Verhaltensweisen von Mitarbeitenden fördern. Bei der Umsetzung fokussiert Eilers vor allem auf die Selbstorganisation von Teams. Die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Selbstorganisation auf Teamebene funktioniert, beschreibt er als "Architektur selbstorganisierter Teams". Diese umfasst Faktoren wie die Werte Selbstverantwortung, Ermächtigung und Transparenz, dazu gehören aber auch Faktoren wie die Teamgröße und eine definierte Rollenverteilung sowie Regeln und die Festlegung von Entscheidungsprozessen. Für die konkrete Zusammenarbeit innerhalb dieses definierten Rahmens sind für Eilers Work Hacks zentral, verstanden als minimalinvasive Eingriffe in die Zusammenarbeit statt top-down verordneter Change-Maßnahmen. Sie geben einem Team Interaktionsformen an die Hand, um besser zusammenzuarbeiten, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, sich wertschätzend Feedback zu geben und die Zusammenarbeit insgesamt effizienter und flüssiger zu gestalten. Teams haben es also selbst in der Hand, ihre Zusammenarbeit zu gestalten. Klar sei aber auch, dass dies Zeit und Raum benötige. Es gelte, Strukturen zu hinterfragen und Experimente zu wagen.
Seinen Scheiß geregelt kriegen
Erkundung Selbstorganisation 11 - ein Interview mit Daniela Friedrich
"Ich verstehe unter Selbstorganisation, mir mein eigenes Leben einfacher zu gestalten."
Ein paarmal ist er schon aufgetaucht, der Hinweis auf persönliche Selbstorganisation im Sinne von Zeit- und Selbstmanagement. Also das Bemühen, seine Ziele, To-dos und Termine organisatorisch in den Griff zu bekommen. Aus Sicht von Organisationsentwicklern handelt es sich um eine problematische, weil zu weite Verwendung des Begriffs. Dennoch findet sich Selbstorganisation auch in dieser Bedeutung. Und das in verstärktem Maße, seit das Zeitmanagement für tot erklärt wurde (weil sich Zeit nun mal nicht managen lässt). Von dem Bedeutungskontext individueller Selbstorganisation her kommt Daniela Friedrich. Sie kennt als IT-Projektmanagerin auch den organisationalen Kontext, hat sich mit ihrem Buch So bekommst auch du deinen Scheiß geregelt aber diesem individuellen Bezugsrahmen verschrieben. Für sie bedeutet Selbstorganisation schlicht, "mir mein eigenes Leben einfacher zu gestalten". Ihr Credo ist, "dass mehr Selbstorganisation den Menschen in unserer heutigen schnelllebigen Zeit helfen kann, unnötigen Stress zu vermeiden". Friedrich vertritt dabei einen offenen Ansatz und kombiniert unterschiedliche Methoden pragmatisch miteinander. Ziel ist dabei eine agile Anpassung an die eigenen Bedürfnisse und sich wandelnden Rahmenbedingungen. Entscheidend ist für sie, das richtige Maß an Eigenorganisation zu finden. Vielen Menschen sei gar nicht bewusst, dass sie nicht gut organisiert sind, andere wiederum neigten zu "Overengineering", einem Zuviel an Organisation, das dazu führt, dass der Anteil an der Arbeit, der für ihre Organisation aufgewendet wird, zu groß wird. Dieses richtige Maß an Eigenorganisation müsse jeder selbst finden, sagt Friedrich: "Jeder Mensch muss für sich selbst einen Weg finden, wie viel oder wie wenig an Selbstorganisation er oder sie benötigt."
Die Zeit ist reif
Erkundung Selbstorganisation 10 - ein Interview mit Swantje Allmers
"Selbstorganisation ist ein sehr wichtiges Element von New Work."
"Für mich ist Selbstorganisation ein sehr wichtiges Element von New Work." Sagt Swantje Allmers, Expertin für neue Arbeit, die in Hamburg eine Agentur für persönliche Weiterentwicklung, Teamentwicklung und gesellschaftliches Engagement leitet. Selbstorganisation ist für diese Zielsetzung zentral, denn sie "unterstützt dabei, das Potenzial von Mitarbeiterïnnen zu entwickeln und zu nutzen, flexibler zu werden und schneller zu lernen". Organisationen mit zu vielen Regeln, zu viel Kontrolle und übergeordneter Koordination hingegen sind für Allmers nicht mehr zeitgemäß, denn sie "engen die Menschen ein … und verhindern, dass wir unser Bestes geben, motiviert sind und neue Ideen entstehen". Das aber sei erforderlich, um die Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel, soziale Ungerechtigkeiten und kriegerische Auseinandersetzungen zu lösen und mit dem fortschreitenden technologischen Wandel gut umzugehen. Selbstorganisation ist damit eingebettet in einen größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Transformation. Und auch im Zusammenhang organisationalen Wandels ist der Rahmen weiter zu ziehen. Es geht um den Wandel von Arbeit, nicht nur um die Veränderung von Organisationsformen: "Die Zeit ist reif für New Work und neue Konzepte, Arbeit zu gestalten."
Eine andere Art der Selbstorganisation
Erkundung Selbstorganisation 9 - ein Interview mit Gebhard Borck
"Es kann eine andere Art der Selbstorganisation geben. Gefragt ist mehr Wagemut zur evolutionären Adaption."
Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff der Selbstorganisation war in einzelnen unserer Interviews bereits angeklungen. Gebhard Borck, Unternehmenscoach in Pforzheim, bezieht nun eine klar kritische Position, sowohl was den Begriff als auch die Umsetzung von Selbstorganisation anbelangt. Der Begriff sei vollkommen ungeeignet, sagt er, "neue, zeitgemäße, deutlich verschiedene Arbeitspraktiken und -kulturen von den bekannten des industriell geprägten Scientific Management zu unterscheiden". Das spiegele sich dann auch in der Umsetzung: Fast überall werde Selbstorganisation mit der Erwartung eingeführt, die Produktivität zu steigern. Dabei blieben allerdings die Entscheidungsstrukturen die alten. "Nur ganz wenige Organisationen ändern tatsächlich etwas an den grundsätzlichen Mustern ihres Arbeitens." Gegenüber dieser vorherrschenden Praxis bringt Borck ein anderes Konzept ins Spiel, das der evolutionären Adaption: Adaption beruht auf Selbstorganisation, geht aber über diese hinaus. Adaption bedeutet, nicht nur in einer komplexen Umwelt zu bestehen, sondern beinhaltet die Fähigkeit eines Systems, sich selbst grundlegend zu verändern. Gefragt sei neuer Wagemut zur evolutionären Adaption, sagt Borck. Und hofft auf einen Wandel in diesem Sinne. Auf die Frage, ob es mehr Selbstorganisation geben solle, antwortet Borck zunächst lehrbuchmäßig systemtheoretisch, mehr könne es nicht geben, denn sie sei ja da. "Eine Organisation kann versuchen, mit ihr zum Erfolg zu kommen oder gegen sie." Geben könne es allenfalls "eine andere Art der Selbstorganisation". Er wünscht sich, dass künftig mehr Organisationen versuchten, "ihre Erfolge in einem klareren Bewusstsein für Selbstorganisation zu erreichen".
Mehr als bloße Selbstorganisation
Erkundung Selbstorganisation 8 - ein Interview mit Andreas Zeuch
"Organisationsdemokratie ist so viel mehr als bloße Selbstorganisation."
Und noch eine Gemeinsamkeit haben bisherigen Antworten: die Perspektive auf einzelne, solitäre Organisationen. Es geht um Binnenstrukturen, in erster Linie in Unternehmen. Das klingt einleuchtend, denn ein System definiert sich über die Abgrenzung von seiner Umwelt, und selbstverständlich umfasst diese Abgrenzungsleistung auch die - gegebenenfalls selbstorganisierte - Binnenstruktur. Aber es fragt sich, ob die Analogie zu lebenden Systemen, die historisch die Entwicklung der Systemtheorie beeinflusst hat, wirklich hilft, soziale Systeme in einer (vernetzten) Gesellschaft zu verstehen. Diese Frage stellt Unternehmensdemokrat Andreas Zeuch. Er weitet den Rahmen über den Unternehmenskontext hinaus und reflektiert zugleich den Begriff kritisch: "Wenn es nur darum geht, klassische Top-down-Prozesse und -Strukturen agiler und selbstorganisierter zu gestalten, dann sind der Begriff Selbstorganisation und die zugehörigen Konzepte immer noch sinnvoll. Wenn es aber um mehr geht, wie zum Beispiel die Verzahnung und Rückkopplung in die Gesellschaft, dann kommt der Begriff an seine Grenzen. Denn Selbstorganisation ist weder auf ein weiter reichendes Ziel hin ausgerichtet, noch sind mit diesem Begriff Werte verbunden, die sich aus ihm natürlich ergeben." Mit der Unternehmensdemokratie sei das ganz anders, so Zeuch, denn "darin ist ja die Demokratie mit ihrem assoziativen Raum enthalten, da schwingen sofort Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit". Zudem verweist Zeuch auf eine bislang nicht thematisierte Grenze von Selbstorganisation im Unternehmenskontext: dass die Geschäftsführung oder der Vorstand eines Unternehmens allein schon kraft des Gesellschaftsrechts eine einmal eingeführte Selbstorganisation jederzeit wieder rückgängig machen kann. Die Konsequenz: "Langfristig brauchen wir eine Änderung des Gesellschaftsrechts." Zusammengefasst: Sowohl vom gesellschaftsrechtlichen Rahmen wie von der wertmäßigen Verankerung her greift ein Selbstorganisationsansatz, der sich auf einzelne Unternehmen beschränkt, zu kurz.
Keine Best Practice
Erkundung Selbstorganisation 7 - ein Interview mit Florian Rustler und Daniel Barth
"Jede Organisation muss für sich gangbare Wege finden, Selbstorganisation zu leben und umzusetzen."
Begriffe sind Konzepte, das englische Wort concept bringt das zum Ausdruck. Begriffe transportieren Vorstellungen und Annahmen über eine Sache. So wird Selbstorganisation meist als Beschreibung eines Zustands, einer bestimmten Form der Zusammenarbeit verwendet. Mehr Selbstorganisation könne es nicht geben, heißt es dann in einem lehrbuchmäßigen Verständnis von Systemtheorie, denn sie sei ja da: als Grundeigenschaft sozialer Systeme. Florian Rustler und Daniel Barth von der Innovationsagentur creaffective in München plädieren dagegen für ein dynamischeres Begriffsverständnis. Selbstorganisation sei "kein absoluter Zustand, den man erreichen kann, sondern eher eine Idee der Zusammenarbeit, die graduell gemessen wird", sagt Daniel Barth: "Es gibt keine hundertprozentige Selbstorganisation, so wie es auch kein Umfeld gibt, in dem überhaupt keine Selbstorganisation stattfindet." Es geht also um ein Maß an Selbstorganisation, und auf dieses Maß zielt auch eine Erweiterung dieses Konzepts durch die Differenzierung zwischen Selbstorganisation und Selbstverwaltung: "Selbstorganisation ist eine Aktivität, ein Prozess, durch den Menschen ihre tägliche Arbeit ohne den Einfluss eines externen Agenten und innerhalb definierter Grenzen organisieren", definiert Rustler. Damit vermengt werde die Selbstverwaltung, die aber über die Selbstorganisation hinausgehe. "Selbstverwaltung bedeutet, dass eine Gruppe sich selbst Ziele und Regeln setzen und Entscheidungen darüber treffen kann, wie sie diese Ziele erreicht und nach welchen Regeln sie ihr Tagesgeschäft organisiert", auch dies innerhalb eines definierten Rahmens. Beides hängt ab von dem Maß, in dem eine Organisation die Selbstgestaltung von Arbeit durch die Mitarbeitenden zulässt - respektive an den überkommenen Organisationsformen festhält, was oft auch eine Frage von Macht und zum Selbstzweck gewordener Hierarchie sei, so die Interviewpartner. Als Hemmnis für mehr Selbstorganisation erweisen sich zudem zwei Dinge: Selbstorganisation verursacht auch Kosten, vor allem in Form eines erhöhten Koordinations- und Abstimmungsaufwands. Hinzu kommt zweitens die oft noch geringe Erfahrung mit Selbstorganisation, resultierend auch daraus, dass es "in der Selbstorganisation keine Best Practice gibt und geben kann", so Rustler. Das heißt: "Jede Organisation muss für sich gangbare Wege finden, Selbstorganisation zu leben und umzusetzen."
Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
Erkundung Selbstorganisation 6 - ein Interview mit Olaf Hinz
"Ohne die Fähigkeit, Entscheidungen zu formulieren, zu treffen und umzusetzen, ist Selbstorganisation konsequenz- und wirkungslos."
Systemtheoretisch geleitet ist auch der Blick von Olaf Hinz auf Selbstorganisation. Auch der Organisationslotse in Hamburg beschreibt die Organisation als System, das unterschiedliche Formen annehmen kann, um sich zu organisieren. Stärker ausgeprägt als bei anderen systemtheoretischen Ansätzen in dieser Erkundung ist bei Hinz eine funktionalistische Sicht. Er sagt: "Organisationen sind dazu da, ihren Zweck zu erfüllen." Das tun sie in Form von Arbeitsteilung, wobei die Teilleistungen, die die Teile der Organisation erbringen, durch Prozesse zusammengeführt werden. Selbstorganisation sei deshalb etwas, was die Organisation "nicht von vornherein begrüßt", so Hinz. "Denn zuallererst muss sie den Organisationszweck erfüllen, die Prozesse effizient halten und dafür sorgen, dass die Arbeitsteilung funktioniert." Das kann erklären, warum sich viele Organisationen mit Selbstorganisation schwertun und diese in manchen von ihnen nicht funktioniert. Der Organisationszweck definiert somit auch die Grenzen von Selbstorganisation. Und vom Organisationszweck hängt es auch ab, ob Selbstorganisation überhaupt eine Lösung für eine Organisation darstellt: Selbstorganisation sei "eine der vielversprechenden Antworten auf die steigende Komplexität, Ungewissheit und Dynamik, mit denen herkömmliche Planungs- und Entscheidungsprozesse nicht Schritt halten können", so Hinz - aber eben nicht für standardisierte und routinierte Tätigkeiten, die vorausgeplant und gesteuert werden können. Hier kann Fremdsteuerung durchaus funktional sei. Zwei wichtige Einsichten hat Hinz noch parat: "Ohne die Fähigkeit, Entscheidungen zu formulieren, zu treffen und umzusetzen, ist Selbstorganisation konsequenz- und wirkungslos." Und sie gelingt nur mit einer frühzeitigen und umfangreichen Beteiligung der Mitarbeitenden.
Es geht wirklich um selbst
Erkundung Selbstorganisation 5 - ein Interview mit Herbert Schober-Ehmer
"Es gibt keine Organisation, wie hierarchisch und bürokratisch sie auch immer erscheinen mag, die sich nicht selbst organisiert - wer sollte es denn tun!"
Herbert Schober-Ehmer weitet die Perspektive. Der systemtheoretisch geschulte Organisationsberater lenkt den Blick auf die Evolution und die Funktionsweise lebendiger Systeme und ihre Selbstorganisationsfähigkeit - um dann erst auf den organisationalen Kontext scharf zu stellen. Es gehe wirklich um "selbst", so Schober-Ehmer. "Denn man kann lebendige Systeme von außen nicht organisieren, nicht verändern." Ein Impuls von außen werde immer "vom System selbst, wenn es ihn denn wahr- und ernst nimmt, in dessen Logik verarbeitet". Für externe Beteiligte wird damit die Beobachtung von Selbstorganisation zentral: "Also: Wie organisiert sich ein Team, eine Abteilung, ein Unternehmen? Welche Entscheidungsprämissen sind wirksam? Welche Muster der Kommunikation, der Kollaboration haben sich entwickelt und was hat das mit dem Kontext zu tun? Und wie geschickt werden formale Regeln umgangen?" Der letzte Punkt verweist auf eine verdeckte Form von Selbstorganisation, die auch in klassisch pyramidal-hierarchischen Organisationen existiert und dafür sorgt, dass die Organisation funktioniert und zugleich die Führung entlastet wird: "Regeln, Ansagen und Kontrolle kommen von oben - und unten wird dann überlegt, wie das informell umgangen werden kann." Nicht zuletzt wendet sich Herbert Schober-Ehmer gegen ein normatives Verständnis von Selbstorganisation als der per se besseren Form, Organisationen zu führen. Stattdessen plädiert er für ein hybrides Organisationsmodell, das "ganz im Sinne der Selbstorganisation unterschiedliche Steuerungs- und Koordinationsformate - Hierarchie, Matrix, Team, Kreise et cetera - koppelt und eine eigene Form der Organisation findet".
Arbeitsform der Zukunft
Erkundung Selbstorganisation 4 - ein Interview mit Marco Niebling
"Selbstorganisation erkennt die Potenziale in Individuen und setzt diese durch gemeinsam bestimmte Rahmenbedingungen frei. Für mich ist Selbstorganisation damit die Arbeitsform, die die Zukunft sichert."
Wenn es um Selbstorganisation geht, steht meist die Organisation im Vordergrund, ihre Struktur und die Formen der Zusammenarbeit in ihr. Marco Niebling, Coach für selbstorganisiertes Arbeiten in Baden-Württemberg, lenkt nun den Blick auf die beteiligten Menschen und ihre Motivation. Für ihn liegt hier der entscheidende Punkt von Selbstorganisation im Kontext von Arbeit: Selbstorganisation stärkt die intrinsische Motivation. Deshalb ist sie die Arbeitsform der Zukunft, sagt Niebling. Intrinsische Motivation entsteht aber nur, wenn Menschen ihre Tätigkeit als sinnvoll und befriedigend erfahren. Sinn ist deshalb die entscheidende Voraussetzung für Selbstorganisation. "Wozu soll ich mich einbringen? Wozu soll ich meine Stärken einsetzen? Wozu soll ich Initiative ergreifen?" Niebling nennt einen weiteren Grund, weswegen er "in der Selbstorganisation die zukunftsfähigste Form der Zusammenarbeit" erblickt: das Thema Komplexität. Selbstorganisation sieht er als "eine Art der Zusammenarbeit, die uns hilft, gemeinsam mit Komplexität in der Arbeit umzugehen". Denn die Komplexität nimmt zu, die Planbarkeit ab. Deswegen scheiterten viele Unternehmen mit ihren klassischen Prozessen - und dann werde selbstorganisiertes Arbeiten entscheidend. Wichtig ist Niebling die Unterscheidung zwischen komplex und kompliziert: "Prozesse sind für komplizierte Dinge gedacht, aber für komplexe Dinge wirkungslos." In Unternehmen, die unter komplexen Bedingungen an ihren überkommenen Prozessen festhalten, helfen nur informelle Strukturen, die Organisation am Funktionieren zu halten - ein Hinweis auf eine Form von Selbstorganisation, die sich in traditionell-hierarchisch strukturierten Unternehmen unterhalb der formellen Ebene der Organisation entfaltet, die aber die Komplexitätsprobleme nicht lösen kann. Wohl aber Selbstorganisation: "Für komplexe Aufgabenstellungen, die Personen im Team oder Unternehmen übernehmen müssen, ist Selbstorganisation eine Lösung", sagt Marco Niebling.
Im Kontext von Komplexität
Erkundung Selbstorganisation 3 - ein Interview mit Thomas Michl
"Selbstorganisation ist Teil des menschlichen Sozialverhaltens. Der Mensch hat sich immer schon selbst organisiert."
Thomas Michl, agiler Organisationsscout in Stuttgart, zieht den Betrachtungsrahmen weiter, indem er drei Kontexte unterscheidet, in denen Selbstorganisation thematisiert wird: erstens auf der Ebene des Individuums als Zeit- und Selbstmanagement, zweitens auf der Ebene der Teams und drittens auf der Ebene der gesamten Organisation. Grundsätzlich finden wir Selbstorganisation in unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen in nahezu allen Branchen und Bereichen, sagt Michl. Aber sie ist nicht selbstverständlich: "Für Selbstorganisation braucht es ein positives Menschenbild, das auf Vertrauen, Offenheit, gegenseitigem Respekt basiert." Selbstorganisation ist für Michl jedoch nicht Zweck, sondern Mittel: "Ein Mittel, um bessere Ergebnisse im Kontext von Komplexität zu erzeugen und adaptiv, passgenau auf Veränderungen reagieren zu können." Hierin liege der entscheidende Vorteil. Selbstorganisation ermögliche eine schnelle Anpassung an die Ereignisse, erschließe neue Erkenntnisse und eröffne unterschiedliche Lösungswege, die auf dem Wege empirischer Überprüfung weiterentwickelt und angepasst werden können. "Selbstorganisation ist die präferierte Lösung für komplexe Fragestellungen", so Michl, der eigentlich den Begriff der Selbststeuerung gegenüber dem der Selbstorganisation bevorzugen würde.
Menschenfreundlicher allemal
Erkundung Selbstorganisation 2 - ein Interview mit Stephanie Borgert
"Warum ist Selbstorganisation nicht für uns Menschen ein selbstverständliches Konzept? Schließlich sind wir selbst ein komplexes System und unsere körperliche Selbstorganisation ist sonnenklar."
Stephanie Borgert, Autorin und Beraterin in Münster, beschreibt Selbstorganisation als grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme: als die Fähigkeit, aus sich selbst heraus neue stabile Muster zu erzeugen, also anpassungsfähig und flexibel auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. In der Organisationsgestaltung wiederum stehe der Begriff für eine dezentral organisierte Zusammenarbeit in autonomen Teams - wobei ein systemtheoretisch geleitetes Verständnis von Selbstorganisation hilft, Dynamiken in Teams und Organisationen zu verstehen. Das dürfe aber nicht dazu verleiten, in der Selbstorganisation ein Mittel zu sehen, in und mit Organisationen etwas erreichen zu wollen. "Für mich ist Selbstorganisation grundsätzlich keine Lösung, sondern eine Eigenschaft", sagt Borgert. "Auch in formal-pyramidal-hierarchisch organisierten Unternehmen gibt es Selbstorganisation. Möglicherweise eingeschränkt und behindert, aber eliminieren lässt sich diese Eigenschaft nicht." Selbstorganisation lasse sich entweder nur knebeln oder zulassen. Sie zuzulassen bedeute "eine Entfesselung von Lebendigkeit, von Problemlösung und Teamarbeit". Und menschenfreundlicher sei sie allemal, fügt sie hinzu.
Selbstorganisation in Dezentralität
Erkundung Selbstorganisation 1 - ein Interview mit Elisabeth Sechser
"Selbstorganisation gelingt nur in Dezentralität. Aber dieser Gestaltungsraum mit all seinen Chancen wird nicht ausgeschöpft. Da liegt Potenzial brach."
Dezentralität und Wertschöpfung sind die zentralen Begriffe in dem Bild, das Elisabeth Sechser zeichnet. Für die Organisationsentwicklerin in Wien ist die Dezentralität als Grundlage demokratisch-marktwirtschaftlicher Zusammenarbeit ein zentrales Kennzeichen von Selbstorganisation. Ziel: Wertschöpfung in Komplexität zu sichern. "Selbstorganisation ist Zusammenarbeit in Teams." Sie beruht auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Und funktioniert nur mit einem humanistischen Menschenbild. Zu haben ist sie schließlich nur mit einem Re-Design des Organisationsmodells. Sagt Sechser - und betont nochmals den Aspekt der Wertschöpfung: "Selbstorganisation ist ein Miteinander-füreinander-Leisten." Und so die "Grundlage für das Erzeugen von Wertschöpfung in Komplexität". Auf die Frage, was Unternehmen tun könnten, um den Weg zu mehr Selbstorganisation zu bereiten, hat sie eine überraschende Antwort: Forschungskompetenz entwickeln. Um so die Urteilsfähigkeit gegenüber dem eigenen Organisations- und Wertschöpfungsmodell zu schärfen. Dies sei eine organisationale Kompetenz, die gebraucht werde.
changeX 15.05.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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