Menschenfreundlicher allemal
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Stephanie Borgert, Autorin und Beraterin in Münster.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Stephanie Borgert.
Stephanie Borgert ist Buchautorin, Vortragsrednerin, Managementberaterin und Weiterdenkerin für ein zeitgemäßes Management. Ihre Themenschwerpunkte sind Komplexität, Selbstorganisation und organisationale Resilienz.
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Es ist mehr eine Frage der Sichtweise als des Verstehens, was einen Unterschied macht. Was ist in diesem Moment die Grundlage meines Denkens? Davon hängt ab, als was ich Selbstorganisation definiere und welche Bedeutung ich dem gebe.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Ganz generell ist Selbstorganisation eine Eigenschaft komplexer Systeme: und zwar die Fähigkeit, aus sich selbst heraus neue stabile Muster zu erzeugen. Also anpassungsfähig und flexibel auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. Das ist eine systemtheoretische Definition von Selbstorganisation, der ich folge und die ich für wichtig halte, wenn wir Organisationen - oder auch Bereiche und Teams - als komplexe soziale Systeme betrachten.
Im Kontext der Organisationsgestaltung steht der Begriff für eine dezentral organisierte Zusammenarbeit in autonomen Teams.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Ja, leider. Selbstorganisation wird manches Mal als das Organisieren der eigenen Tätigkeiten definiert, als Zeitmanagement sozusagen. Oder ganz platt, wenn sich die Teammitglieder Aufgaben selber aus dem Backlog nehmen. Zurzeit findet sich der Begriff oft dort, wo gerade "jemand etwas tut oder erledigt, ohne zu diesem Zeitpunkt eine explizite Erlaubnis einzuholen". Das ist eine einfache, aber auch irreführende Belegung von Selbstorganisation.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Das hängt eben genau von der Betrachtungsebene ab. Wenn ich ihn wie eben genannt systemtheoretisch betrachte: Ja, weil ein Verständnis von Selbstorganisation hilft, Dynamiken in Teams und Organisationen zu verstehen. Dass Menschen Lösungen finden, indem sie sich eben nicht an Vorgaben und Prozesse halten, ist ein klassisches Beispiel. Selbstorganisation lässt sich beobachten, man muss jedoch über eine Zeit gut hinschauen.
Gleichgesetzt mit Zeitmanagement und Aufgabenverteilung im Team ist es eher eine Worthülse und unpassend.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Für mich ist Selbstorganisation grundsätzlich keine Lösung, sondern eine Eigenschaft. Aber wenn wir mit Kontrolle, kleinschrittigen Vorgaben und Incentivierung für Konformität und Leblosigkeit sorgen, dann knebeln wir Selbstorganisation sozusagen. Umgekehrt bedeutet dann das Zulassen von Selbstorganisation eine Entfesselung von Lebendigkeit, von Problemlösung und Teamarbeit. Die Entfesselung also ist die Lösung für die Lebensfähigkeit.
Was bewirken Organisationen, die Selbstorganisation zulassen?
Fokussierung auf Wertschöpfung, Menschenfreundlichkeit, Kreativität, Problemlösung, komplexitätsgerechte Zusammenarbeit.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Leblosigkeit. Auf Systeme bezogen ist ein Toaster ein gutes Beispiel, weil er sich nicht anpassen kann. Er hat keine eigene Dynamik. In Bezug auf Organisationen wäre Leblosigkeit erreicht, wenn sie tatsächlich wie eine Maschine funktionierten. Nur Befehle annehmen und ausführen - ohne Abweichung, ohne Denken, ohne Reflexion. Damit wird zudem klar, dass es Nicht-Selbstorganisation nicht gibt.
Das ist ein interessanter Punkt: Ein System kann sich nicht nicht selbst organisieren?
Noch mal, wenn ich durch die systemtheoretische Brille schaue, dann ist Selbstorganisation eine grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme. Im Praktischen gut zu beobachten an Vogelschwärmen, dem Verhalten von Menschen in der Öffentlichkeit (zum Beispiel die typischen Musterverläufe an Treppen im Bahnhof) oder auch in Organisationen. Dort werden Lösungen gefunden, neue Kommunikationsmuster etabliert, Prozesse erneuert oder auch umgangen, ohne eine zentrale Steuerung.
Auch in formal-pyramidal-hierarchisch organisierten Unternehmen gibt es Selbstorganisation. Möglicherweise eingeschränkt und behindert, aber eliminieren lässt sich diese Eigenschaft nicht.
Bin ich in der Betrachtung jedoch auf der Ebene "Teammitglieder teilen sich Aufgaben selber zu", dann kann es Nicht-Selbstorganisation geben, weil diese Art zu arbeiten unterbunden wird. Für mich ist das aber genau nicht eine Frage von Selbstorganisation, wenn es nur um Aufgabenzuteilung geht.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Beziehe ich die Frage auf soziale Systeme und bleibe bei der Fähigkeit zur Anpassung durch Musterbildung respektive Musterwechsel, dann gibt es Störungen, die das System nicht mehr abfangen kann und sich in Folge auflöst. Wir sprechen ja aber meist über autonome Teams, wenn wir in Organisationen über Selbstorganisation sprechen. Und da ist immer der Kontext zu betrachten - vor allem auch bei der Frage, ob mehr Selbstorganisation initiiert werden beziehungsweise deren Verhinderung aufgehoben werden soll. Für einfache Aufgaben, die genauso gut Maschinen erledigen könnten, brauchen wir nicht groß über Selbstorganisation nachzudenken. Das gilt jedoch nur in Bezug auf die Aufgaben, den Kontext also. Menschenfreundlicher ist Selbstorganisation allemal.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
… Silos, Command and Control, stringente Vorgaben, das Menschenbild vom unmotivierten, geldbezogenen Mitarbeitenden …
Können Menschen Selbstorganisation?
Ja. Ob sie es wollen, ist eine andere Frage. In Organisationen, die auf dem Weg zu mehr Selbstorganisation sind, werden die Menschen entscheiden, ob sie so arbeiten wollen oder nicht. Meine Hypothese: Der Großteil will. Einige sind unsicher, wollen aber lernen und sich entwickeln. Wenige wollen nicht, eventuell auch weil sie Arbeit einfach als Geldverdienen sehen.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja, und zwar aus zweierlei Hinsicht. Erstens will diese Grundeigenschaft verstanden sein, weil wir viel über eine Organisation lernen, wenn wir die Selbstorganisation dort konkret beobachten. Zweitens, weil in vielen Unternehmen die Strategie "einer denkt, die anderen machen" für Langsamkeit und Starre sorgt, die nicht zur Dynamik der Märkte passt. Und per se menschenunfreundlich ist.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
Die große Agilisierungswelle in der Wirtschaft ist ein Anzeichen, dass viele Unternehmen auf der Suche sind. Oft sind Probleme wie Wegbrechen der Marktanteile, Mitarbeitendenschwund und Ähnliches die Anlässe, um über die eigene Organisation zu reflektieren. Nicht immer ist damit sofort die Erkenntnis verbunden, ein neues Verständnis von Organisation, Führung und Zusammenarbeit könnte der passende Ansatz sein. Gleichzeitig wird häufig entsprechenden Vorbildern wie Buurtzorg oder Spotify nachgeeifert.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Mehr kann es nicht geben, sie ist ja da. Wird aber geknebelt und mit Vorgaben, Abstimmungsrunden und Command and Control gefesselt. Sie zu entfesseln wäre für mich das passende Bild.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Das Menschenbild. Solange Verantwortliche, die auch Struktur verändern können, denken, die Menschen könnten damit nicht umgehen, seien zu unmotiviert oder unselbständig, werden eben diese Verantwortlichen weiterhin Strukturen und damit Muster etablieren, die Selbstorganisation hemmen.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Als Selbständige kann ich Selbstorganisation auf diversen Ebenen reflektieren. Wenn ich mit Kunden arbeite, dann ist mir bewusst, dass ich zwar von außen Impulse setzen kann, letztendlich aber "das System" intern entscheidet, was es tut und ob der Impuls überhaupt beachtet wird. Diese Erkenntnis hat mich entspannt und demütig gemacht. Ich weiß um die Kraft von sozialen Systemen und meinen (bescheidenen) Einflussmöglichkeiten. Das sorgt gleichzeitig für Entspannung, denn ich kann niemals beispielsweise für ein Teamentwicklungsergebnis verantwortlich sein oder es "herbeiführen".
In meiner Selbständigkeit spiegelt die Coronazeit die Selbstorganisation gut. Denn um lebensfähig zu bleiben, ist es auf Dauer nicht damit getan, von offline auf online umzustellen. Das ist keine Anpassung. Aber ganz neue Produkte und Angebote zu entwickeln, eventuell einen ganz anderen Job zu machen oder nach Australien auszuwandern, das ist Musterwechsel. In dem Fall aus mir selbst heraus entstanden, weil eine von außen kommende Krise mit entsprechender Dringlichkeit ein Problem für mich aufmacht.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Warum ist Selbstorganisation nicht für uns Menschen ein selbstverständliches Konzept? Schließlich sind wir selbst ein komplexes System und unsere körperliche Selbstorganisation ist sonnenklar.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation ist eine Eigenschaft komplexer Systeme: und zwar die Fähigkeit, aus sich selbst heraus neue stabile Muster zu erzeugen." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
"Ein Verständnis von Selbstorganisation hilft, Dynamiken in Teams und Organisationen zu verstehen." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
"Das Zulassen von Selbstorganisation bedeutet eine Entfesselung von Lebendigkeit, von Problemlösung und Teamarbeit." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
"Wenn ich durch die systemtheoretische Brille schaue, dann ist Selbstorganisation eine grundlegende Eigenschaft komplexer Systeme." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
"Auch in formal-pyramidal-hierarchisch organisierten Unternehmen gibt es Selbstorganisation. Möglicherweise eingeschränkt und behindert, aber eliminieren lässt sich diese Eigenschaft nicht." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
"Menschenfreundlicher ist Selbstorganisation allemal." Stephanie Borgert
"Warum ist Selbstorganisation nicht für uns Menschen ein selbstverständliches Konzept? Schließlich sind wir selbst ein komplexes System und unsere körperliche Selbstorganisation ist sonnenklar." Stephanie Borgert: Menschenfreundlicher allemal
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Zum Buch
Stephanie Borgert: Erfolg ist ein Mannschaftssport. Das Playbook für mehr Selbstorganisation im Unternehmen. GABAL Verlag, Offenbach 2021, 176 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-96739-032-2
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.