Es geht wirklich um selbst
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Herbert Schober-Ehmer, Organisationsberater in Wien.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Herbert Schober-Ehmer.
Herbert Schober-Ehmer ist Organisationsberater in Wien. Er ist seit mehr als 40 Jahren als Executive-Coach und Trainer tätig, hat die systemtheoretisch ausgerichtete "Wiener Schule der Organisationsberatung" mitbegründet und ist Mitglied des Club Systemtheorie/Berlin. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter von Redmont Consulting und Gesellschafter von Flipsite, Beratung für nachhaltige Unternehmensführung.
Herbert, was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Man sollte zumindest eine Ahnung davon haben, dass sich alles Leben - also biologisches, psychisches, geistiges, soziales Leben - im Kontext seiner Umwelt selbst entwickelt. Jedes System bildet mit anderen Systemen, die für sein Überleben relevant sind, eine sogenannte Überlebenseinheit, ist also nicht isoliert zu denken.
Man sollte dann die drei Schritte der Evolution - Variation, Selektion, Retention - kennen, um beobachten zu können, was als relevante Umwelt wahrgenommen oder riskanterweise nicht wahrgenommen wird. Dann kann man in sozialen Systemen, also auch in Organisationen, beobachten, wo überall, auch jenseits von Regeln und strikten Verfahren, experimentiert (= variiert) wird und was als nützlich, passend gesehen (= selektiert) wird. Und wenn man das weiß, dann kann man in jeder Organisation, wie hierarchisch und bürokratisch sie auch geregelt ist, ihre Selbstorganisationsprozesse beobachten.
Und noch etwas ist hilfreich, wenn auch sehr irritierend: Es geht wirklich um selbst - denn man kann lebendige Systeme von außen nicht organisieren, nicht verändern. Das Außen ist immer nur ein möglicher Impuls, der vom System selbst, wenn es ihn denn wahr- und ernst nimmt, in dessen Logik verarbeitet wird. Dafür hat sich im systemischen Denken über Organisationen der Begriff der Autopoiese eines Systems etabliert, aus der Biologie (Humberto Maturana), übernommen von der Systemtheorie (Niklas Luhmann). Helmut Willke nennt das die "operative Geschlossenheit" - was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass man in die Operationen eines lebendigen Systems von außen nicht linear eingreifen kann. Ganz anders als bei Maschinen, wo es gar nicht anders geht.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
In Abgrenzung vom Marketingbegriff Selbstorganisation, der unpräzise Erfolg und Mitarbeiterzufriedenheit verspricht, verstehe ich darunter die Einladung an Expertinnen und Experten, ein Thema, eine Aufgabe nach selbst definierten Prozessen - im Hinblick auf Vorgehen, Kooperieren, Entscheiden, Kommunizieren - zu gestalten. Das kann mit einem Chef oder ohne diese Funktion "organisiert" werden. Selbstorganisierte Teams geben sich jedoch meist ohne eine Leitungsfunktion selbst ihre Strukturen und wählen ihre Arbeitsweise, also die Art, wie sie ein Ziel erreichen, wie sie zu Entscheidungen kommen et cetera, um eine Aufgabe flexibel und engagiert selbst lösen zu können. Immer vorausgesetzt, in einem Team sind genügend Kompetenzen und Ressourcen vorhanden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sich dieses Konzept beliebig auf die Gesamtorganisation übertragen ließe. Denn das würde diese im Hinblick auf die zu regelnde Komplexität, die Gestaltung des Gesamtgefüges, die Gestaltung der Koppelungsregeln zwischen den Bereichen und anderes mehr überfordern. Auch soziokratische Modelle haben eine vorgegebene Kreisstruktur und bestimmte Regeln, und nur innerhalb der Kreise können Organisationsprozesse selbst festgelegt werden. Mich hat ein Softwareunternehmen sehr beeindruckt, wo Selbstorganisation radikal - ohne ideologische Vorgaben - ernst genommen wird. So können Bereiche durchaus auch klassisch funktonal-hierarchisch oder Projekte nach dem Wasserfallmodell gestaltet werden.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird, und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Es scheint so, dass sich der Begriff Agilität - wie es halt mit Moden so ist - etwas verbraucht hat und nun Selbstorganisation als die Lösung für das Überleben in der VUKA-Welt angeboten wird, eine Welt also, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität gekennzeichnet ist. Das heißt: Wenn man in einer Organisation erkannt hat, dass weder Führen noch Steuern noch Koordinieren noch das Finden passender Regeln und Prozesse an die Führung delegiert werden können, sondern zum inhaltlichen Job der Mitarbeitenden dazugehören, werden die aufgefordert, sich selbst zu organisieren.
Das ordnet sich ein in eine allgemeinere Entwicklung, mehr selbst zu organisieren oder dies tun zu müssen. Dies bezieht seit Längerem schon auch Kunden mit ein, nicht immer zu deren Vergnügen: Digitalisierung macht es möglich, selber seine Flugtickets zu erwerben, selber einzuchecken, das Gepäck selber aufzugeben et cetera. In Coronazeiten hat man zudem gelernt, im Homeoffice seinen Arbeitsalltag selbst zu organisieren, die Zusammenarbeit in Remote-Gruppen abzustimmen und nicht zuletzt die Kinder im Distanzlernen zu betreuen. Einerseits ein Autonomiegewinn, erkauft aber mit hoher Belastung, da viele Ressourcen wiederum selbst organisiert werden mussten. Wie sich das in der postpandemischen Zeit entwickeln wird, ist noch ziemlich offen.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Er hat einerseits Verwirrung gestiftet, denn es gibt keine Organisation, wie hierarchisch und bürokratisch sie auch immer erscheinen mag, die sich nicht selbst organisiert - wer sollte es denn tun, siehe oben. Zugleich konnte damit die erforderliche Veränderungsdynamik in Organisationen auf einen - wenn auch falschen - Begriff gebracht werden.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Wenn wir schon den "falschen" Begriff weiterführen, dann verweist er auf andere Strukturen und Spielregeln, die Organisationen helfen sollen, auf sprunghafte Veränderungen im Umfeld wie auf widersprüchliche Kundenerwartungen - sprich auf eine VUKA-Umwelt - rascher und adäquater reagieren zu können. Oder wo die Mitarbeitenden selbst in einem meist strikten Rahmen das Tagesgeschäft steuern können. Also zum Beispiel selbst Urlaube planen und Ausfälle rasch bewältigen können. Oder Serviceteams, die sich eigenständig auf die Situation des Kunden einstellen müssen.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Die Funktionsweise aller Maschinen, die wir benutzen. Also all das, was wir Menschen konstruieren. Und weil das so berechenbar und vorhersagbar ist, versucht man nach wie vor - sogar in der Holakratie -, Organisationen wie Maschinen zu gestalten. Aber zum Glück gibt es ja die Selbstorganisationsfähigkeit von Organisationen, die diese in die Lage versetzt, sich solchen Prokrustes-Ambitionen zu entziehen.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, wenn die Autopoiese - das Selbst des Systems - sein Ende gefunden hat, wenn keine Anschlusskommunikation mehr stattfindet, bei Organisationen durch "Schließung", warum auch immer, bei biologischen Systemen durch den Tod.
Aber weniger dramatisch, sondern mehr pragmatisch und als Empfehlung gemeint: Wenn zum Beispiel durch das Fehlen einer definierten Leitungsfunktion in der Organisation Revierkämpfe zunehmen, Selbstausbeutung um sich greift, gemobbt wird oder sozial ungeschickte Nerds ausgegrenzt werden.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Ja klar: Alle Regeln, alle Gesetze, die "andere" erlassen und durchsetzen, um eine ganzheitliche Ordnung in der jeweiligen Organisation oder dem betreffenden System zu etablieren. Selbstorganisierte Partys werden aufgelöst, und ich kenne keine Organisation, die nicht entweder durch Finanzregeln, Kreditrestriktionen, Berichtspflichten, Aufsichtsräte und vieles andere mehr Selbstorganisationsdynamiken einschränken würde.
Können Menschen Selbstorganisation?
Klar, sie würden sonst nicht überleben. Selbst wer "auf hilflos macht", hat eine Form gefunden, das Erforderliche für das Überleben sicherzustellen.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
An Bedeutung gewinnt das Reduzieren von Hierarchie (nicht deren Abschaffung) und von Wenn-dann-Regeln, die von zentralen Einheiten ausgegeben werden. Stattdessen nimmt die Erwartung zu, dass Einzelne und Teams selbst ihre Arbeit steuern können. Je mehr die Orientierung an Zwecken und Zielen gefördert und gefordert wird, umso mehr gewinnt die Autonomie an Bedeutung, wenn sie auch nicht immer gewünscht ist. Doch wenn Kundenorientierung ernst genommen wird, sind nur Formen von Selbstorganisation geeignet, auf unterschiedliche Anforderungen rasch und pragmatisch zu antworten. Allgemein wird auf die Dynamik einer VUKA-Umwelt nur eine VUKA-Organisation erfolgreich reagieren können. Das bedeutet, dass die Mitarbeitenden im Unternehmen die Erlaubnis haben, mehr oder minder autonom Antworten zu entwickeln und Verfahren zu erproben.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Das kann man nicht generell beantworten. Zum Beispiel in einem Logistikunternehmen, das sein Lieferantenmanagement wie eben beschrieben organisiert, und auch dem Fahrer eines Trucks mehr Entscheidungsautonomie zugesteht. Aber beim Zugführer eines ICE sind dem sicher Grenzen gesetzt …
… zugegeben - aber er oder sie könnte den Dienstplan gemeinsam mit den anderen Beschäftigten gestalten, Vertretungen organisieren, Fortbildungen und Trainings anregen, also das Drumherum bei der Arbeit mitbestimmen, also all das, was über Fahr- und Dienstplan hinausgeht …
Natürlich "könnte" man das - die Frage ist nur, ob es sich wirklich alle Beteiligten antun wollen, Konflikte selber zu regeln. Das geht nur dann, wenn dafür auch Arbeitszeit zur Verfügung steht, Selbstorganisation kann sonst rasch zur Selbstausbeutung führen. Und es hängt vom Grad der Vernetzung ab, wie viele in einen gemeinsamen Planungs- oder Koordinationsprozess einbezogen werden müssen. Hierarchische Rollen bieten auch Entlastung von Verantwortung, von Abstimmungsprozessen, und ermöglichen so rasche Entscheidungen. Also auch hier geht es um ein kluges Sowohl-als-auch.
Welche sind - abgesehen von vorgegebenen Formen der Arbeitsorganisation - die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Sich stabilisierende, nicht hinterfragbare Annahmen und Muster, Werte, Spielregeln. Die immer gleichen Beobachtungen und Bewertungen der Umwelten. Sprech- und Reflexionsverbote. Da verlernt ein Team tatsächlich die Evolutionsfähigkeit.
Nicht Chefs, die als stur, als autoritär erlebt werden, sind die größten Hemmnisse - sie bieten sich lediglich als einfachste Erklärung an. Sie können im Gegenteil - obwohl sie das gar nicht intendieren - die Selbstorganisation befeuern. Aber zugegeben: Wenn ein Chef seine Ängste und Unsicherheiten mit Kontrolle statt mit Vertrauen in die Fähigkeiten der Selbstkoordination der Mitarbeitenden zu bewältigen versucht, wird sich Selbstorganisation als neues Steuerungskonzept schwertun. Dann werde sich die "Untergebenen" fragen: "Was gilt nun?" Mit dem klassischen Spiel waren sie ja schon vertraut: Regeln, Ansagen und Kontrolle kommen von oben - und unten wird dann überlegt, wie das informell umgangen werden kann. Und das hat irgendwie auch ganz gut funktioniert. Diese verdeckte Selbstorganisation hat den Laden am Laufen gehalten und letztlich die Vorgesetzten entlastet. Jetzt sollen diese aber - für alle beobachtbar - loslassen, nur mehr den Rahmen setzen und sich nicht in Details einmischen. Das heißt: Alle müssen sich auf ein neues Spiel einigen, miteinander Arbeitsbedingungen verhandeln, miteinander lernen. Das ist sehr voraussetzungsvoll und kann zum größten Hindernis werden.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Dazu zwei Antworten: Als systemischer Berater ist die Beobachtung von Selbstorganisation zentral. Also: Wie organisiert sich ein Team, eine Abteilung, ein Unternehmen? Welche Entscheidungsprämissen sind wirksam? Welche Muster der Kommunikation, der Kollaboration haben sich entwickelt und was hat das mit dem Kontext zu tun? Und wie geschickt werden formale Regeln umgangen? Et cetera.
Zweitens wird im Sinne des neuen normativen Anspruchs, ein agiles Unternehmen zu werden, Selbstorganisation zum "Tagesgeschäft". Wobei ich lieber von einer hybriden Organisation spreche, die ganz im Sinne der Selbstorganisation unterschiedliche Steuerungs- und Koordinationsformate - Hierarchie, Matrix, Team, Kreise et cetera - koppelt und eine eigene Form der Organisation findet, statt nur dem zu folgen, was von unterschiedlicher Seite als ideale Organisation propagiert wird.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Wie ist es möglich, dass eine Organisation, ein Bereich, eine Abteilung, konsequent Veränderungen im eigenen Umfeld ignoriert und diese nahezu unsichtbar macht, um die eigene Struktur erhalten zu können - obwohl doch (wie paradox!) alle sehen, dass es angesichts der Veränderungen so nicht weitergehen kann. Es geht also um die Kraft von etablierten Mustern und wie diese in Bewegung kommen können.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Man kann lebendige Systeme von außen nicht organisieren, nicht verändern. Das Außen ist immer nur ein möglicher Impuls, der vom System selbst, wenn es ihn denn wahr- und ernst nimmt, in dessen Logik verarbeitet wird." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"Es gibt keine Organisation, wie hierarchisch und bürokratisch sie auch immer erscheinen mag, die sich nicht selbst organisiert - wer sollte es denn tun!" Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"Ich kenne keine Organisation, die nicht entweder durch Finanzregeln, Kreditrestriktionen, Berichtspflichten, Aufsichtsräte und vieles andere mehr Selbstorganisationsdynamiken einschränken würde." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"An Bedeutung gewinnt das Reduzieren von Hierarchie (nicht deren Abschaffung) und von Wenn-dann-Regeln, die von zentralen Einheiten ausgegeben werden. Stattdessen nimmt die Erwartung zu, dass Einzelne und Teams selbst ihre Arbeit steuern können." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"Wenn Kundenorientierung ernst genommen wird, sind nur Formen von Selbstorganisation geeignet, auf unterschiedliche Anforderungen rasch und pragmatisch zu antworten." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"Hierarchische Rollen bieten auch Entlastung von Verantwortung, von Abstimmungsprozessen, und ermöglichen so rasche Entscheidungen." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
"Wie ist es möglich, dass eine Organisation, ein Bereich, eine Abteilung, konsequent Veränderungen im eigenen Umfeld ignoriert und diese nahezu unsichtbar macht, um die eigene Struktur erhalten zu können - obwohl doch (wie paradox!) alle sehen, dass es angesichts der Veränderungen so nicht weitergehen kann." Herbert Schober-Ehmer: Es geht wirklich um selbst
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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