Nicht wenige halten deshalb die klassische Wahl- und Marktforschung für faulen Zauber und empfehlen, vom Zielgruppendenken Abstand zu nehmen. Der Marktforscher und Journalist Florian Allgayer ist da anderer Meinung. Er hält Marktforschung weiterhin für möglich und sinnvoll, wenn sie ihre Methoden an den gesellschaftlichen Wandel anpasst. Das bedeutet, das Augenmerk auf die Werteorientierung der Zielgruppen zu legen, nicht in erster Linie auf ihre Milieu- oder Schichtzugehörigkeit. Sich in die Welt der Kunden versetzen zu können, das mache einen "guten qualitativen Marktforscher" aus, schreibt Allgayer gleich zu Anfang: "Die grundsätzliche und wichtigste Voraussetzung auf dem Weg zur Kundenkenntnis ist soziale Kompetenz, die Fähigkeit sich in ihre Denkweise versetzen zu können, die Welt mit deren Augen zu sehen."
Entscheidungen für Schokoriegel.
Damit sind aber auch einfache
Schichten- oder Milieu-Modelle hinfällig. An ihre Stelle tritt
ein recht komplexes Konstrukt mit mehreren Ebenen. Allgayer
unterscheidet mehrere Kreise, in denen man als Marktforscher den
Kunden wahrnehmen kann. Der äußere Kreis besteht aus sechs
Zielgruppen, deren Werteorientierungen "derzeit prägend für weite
Teile unserer Gesellschaft" seien: Da sind die
"arriviert-gebildeten Konsumenten der Oberschicht", die "digitale
Workaholic-Elite", die "postmaterialistisch-kritischen
Konsumenten", die "traditionell geprägten Konsumenten 50 plus",
die "materialistischen Konsumenten der Mittel- und Unterschicht"
und schließlich die "familienorientierten Konsumenten der Mitte",
die die größte Gruppe bilden. Weil diese Zielgruppen ganz
unterschiedlich ticken, müssen sich Marktforscher damit abfinden,
dass die "unterschiedlichsten Faktoren die Entscheidung für einen
Schokoriegel, für ein bestimmtes Waschmittel oder Auto
beeinflussen". Zum Beispiel reagieren die arriviert-gebildeten
Konsumenten sehr reserviert auf aufdringliche Werbung, während es
den materialistischen Konsumenten der Mittel- und Unterschicht
gar nicht knallig genug sein kann. Die
postmaterialistisch-kritischen Konsumenten wiederum achten sehr
auf die Herkunft und die sozial- und umweltverträgliche
Herstellung von Produkten, während für die traditionell geprägten
Konsumenten 50 plus im Vordergrund steht, ob man mit einem
Autokauf nicht besser die heimische Industrie unterstützt.
Im mittleren Kreis wird es dann schon etwas spezieller:
Dort gibt es "erlebnisorientierte Trendsetter", "kultiviert
vermögende Neo-Ökos", "lustorientiert-hedonistische Konsumenten",
"prinzipientreue Konsumverweigerer", "solidarische
Ost-Aufsteiger" sowie "markenaffine Konsumenten mit
Migrationshintergrund". Im inneren Kreis befinden sich dann ganz
klar eingegrenzte Zielgruppen wie etwa "Tankstellen-Shopper" oder
"Discount-Verweigerer". Auch wenn es absurd klingt: Auch
"Warmduscher" oder "Schattenparker" wären hier als prägnante
Beschreibungen denkbar. Denn es geht um Zielgruppen, die sich nur
durch ein Merkmal beschreiben lassen - und dadurch für
Unternehmen interessant werden.
Nicht überflüssig, nur schwieriger.
Bei dieser Zielgruppenvielfalt darf
die Marktforschung allerdings ihr eigentliches Ziel nicht aus den
Augen verlieren. Ihr Ziel sollte immer sein, so Allgayer, die
"Konsumtreiber" zu entdecken. Das sind die Menschen, die ein
Gespür für neue Trends haben und Vorbilder für andere sind.
Allgayer stellt verschiedene Methoden vor, mit denen sich diese
Konsumtreiber identifizieren lassen. Er stellt ansatzweise aber
auch die reine Beobachterrolle des Marktforschers in Frage. Der
nämlich solle den Markt nicht nur von außen beobachten, sondern
auch sich selbst als Konsumenten betrachten und daraus lernen.
Denn: "Jeder ist Zielgruppe."
Damit korrespondiert eine gewachsene Macht des einzelnen
Konsumenten, der über Foren und Weblogs eine ungeahnte
Breitenwirkung entfalten kann. Manche Unternehmen haben das schon
schmerzlich erfahren müssen. Von enthusiastischen Nutzern der
neuen Medien wurde deswegen schon das Zeitalter der direkten
Kommunikation zwischen Kunden und Unternehmen ausgerufen und das
Ende der Marktforschung postuliert. Denn die werde überflüssig,
wenn der Kunde in einen direkten Dialog mit dem Unternehmen
eintrete. Allgayers Buch zeigt, dass dieser Prozess nur
schleppend vorangeht und längst nicht alle Zielgruppen betrifft.
Überflüssig scheint die Marktforschung somit doch noch nicht zu
sein. Sie wird "nur" schwieriger. Aber auch spannender, wie
dieses Buch vor Augen führt.
Sigmar von Blanckenburg ist freier Mitarbeiter bei changeX.
Florian Allgayer:
Zielgruppen finden und gewinnen.
Wie Sie sich in die Welt Ihrer Kunden versetzen.
mi-Fachverlag, Landsberg am Lech 2007,
261 Seiten, 49.90 Euro.
ISBN 978-3-636-03085-6
www.redline-wirtschaft.de
© changeX Partnerforum [04.01.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 04.01.2008. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
REDLINE / mi
Weitere Artikel dieses Partners
Planen, gründen, wachsen. Der Gründungsklassiker der McKinsey Company in aktualisierter Neuauflage. zur Rezension
Unternehmenserfolg 2.0. Welche Geschäftsmodelle im Internet wirklich funktionieren - das neue Buch von Stephan Lamprecht. zur Rezension
Die 110%-Lüge. Wie Sie mit weniger Perfektion mehr erreichen. Das neue Buch von Simone Janson. zur Rezension
Zum Buch
Florian Allgayer: Zielgruppen finden und gewinnen.. Wie Sie sich in die Welt ihrer Kunden versetzen.. mi-Fachverlag, Landsberg am Lech 2007, 261 Seiten, ISBN 978-3-636-03085-6
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Sigmar von BlanckenburgSigmar von Blanckenburg schreibt als freier Autor für changeX.