Herr Yunus, fast 25 Jahre liegt die Gründung der Grameen Bank
zurück. Wenn Sie diese Zeit im Geist vorbeistreichen lassen, was
war das bewegendste Erlebnis in dieser langen Geschichte?
Oh, davon gab es mehrere. Eines war, als ich das erste Mal
die Darlehen von ein paar Dollar, die ich in einem Dorf vergeben
hatte, wiederbekam. Vorher hatten mir alle Leute gesagt, lass das,
du bekommst dein Geld eh nie zurück. Und dann hielt ich es wieder
in den Händen. Bis auf den letzten Cent. Das war bewegend. Ebenso
unvergesslich war es, als wir eine Bank wurden. Lange Zeit waren
wir uns nicht sicher, ob wir unser Projekt wirklich fortführen
könnten, ob wir jemals Aussichten hätten, eine richtige Bank zu
werden. Als es dann so weit war, waren wir alle sehr ergriffen.
Nicht zu vergessen natürlich der 13. Oktober 2006 ...
... als Sie erfuhren, dass Sie den Friedensnobelpreis bekommen
...
... ja. Jahrelang war darüber spekuliert worden, immer wieder
sagten Leute, oh, du solltest den Nobelpreis bekommen. Und dann kam
dieser Anruf. Plötzlich. Ich war gerade zu Hause in einem
Interview, als das Telefon klingelte. Den Moment werde ich nie
vergessen, ein Augenblick unfassbaren Glücks.
Mit Ihrem System der Mikrokredite für Arme, die keine
Sicherheiten bieten können, haben Sie diesen Menschen geholfen,
Dinge zu tun, die ihnen sonst nie möglich gewesen wären. Kann es
sein, dass Menschen in den armen und in den reichen Ländern
letztlich dasselbe Problem haben: Es gelingt ihnen oft nicht, ihre
Möglichkeiten zu entfalten, auch hierzulande?
Das ist in der Tat genau dasselbe Problem, denn unsere
Gesellschaften sind ähnlich gestrickt: Wir achten nicht darauf, wie
das Umfeld aussehen muss, damit sich Menschen entfalten können.
Deshalb bleiben die meisten Potenziale unentdeckt. Deshalb müssen
wir Wege finden, um allen Leuten eine Umgebung zu bieten, in der
sie ihre Kreativität entfalten können.
Sie haben einmal gesagt: Jeder ist ein Unternehmer. Müssen
Menschen in Industrie- und Entwicklungsländern sich wie Unternehmer
verhalten, um in einer globalen Wirtschaft bestehen zu können?
Müssen wir alle Unternehmer werden?
Nein, müssen wir nicht. Aber der Punkt ist, dass
unternehmerische Fähigkeiten in allen Menschen angelegt sind. Damit
sind wir alle geboren. Manche Menschen entdecken diese Fähigkeiten,
andere leben sie nicht aus. Wir müssen Gelegenheiten schaffen, in
denen die Menschen, die diese Fähigkeiten entwickeln wollen, das
tun können. Und diese Seite an sich kennen lernen. Ob man dann
Unternehmer wird oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung. Das
kann man nicht erzwingen.
Was heißt Unternehmer sein für Sie?
Nach meinem Verständnis ist ein Unternehmer jemand, der die
Führung übernimmt, um etwas zu schaffen. Das heißt, ich kann mein
Leben aus eigener Kraft gestalten, ich muss mich nicht bei jemand
anderem um einen Job kümmern. Heute haben die meisten Menschen
keine Wahl. Sie gehen in die Schule, zur Uni, und hoffen, dass sie
dadurch einen guten Job finden. Aber das ist ein viel zu enger
Blick auf den eigenen Lebensweg. Die Menschen brauchen viele
Optionen. Sie können nicht nur für jemanden arbeiten, sondern auch
selbst etwas auf die Beine stellen.
Ihr System der Mikrokredite hat das Leben von Millionen von
Menschen in den Entwicklungsländern geändert. Wo sehen Sie die
Grenzen dieses Ansatzes? Was bedarf es noch, um die armen Menschen
aus der Armut zu holen?
Zwei Drittel der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu
Finanzdienstleistungen. Mikrokredite ändern das. Da gibt es noch
ein gewaltiges Potenzial. Nein, ich glaube nicht, dass dieser
Ansatz entscheidende Grenzen hat. Natürlich geht die Entwicklung
mit einer guten Infrastruktur zum Beispiel noch schneller. Aber der
entscheidende Punkt, um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, ist
der Zugang zu Finanzdienstleistungen.
Die Mikrokredite weisen einen Weg aus der Armut. Sie sind ein
wichtiger Schritt. Sagen Sie uns, wie können wir, die einzelnen
Bürger der Industrieländer, den Entwicklungsländern helfen? Was
können wir tun?
Verschiedenes. Erstens herausfinden, was überhaupt in den
einzelnen Ländern passiert. Kann ich Kontakte knüpfen, mich mit
Menschen dort vernetzten? Zweitens kann ich mit ihnen arbeiten oder
wenigstens ein paar Gelder investieren? Oder gezielt Projekte
fördern. Wir haben zum Beispiel das Scholarship Management
Programme. Wenn Sie 1.000 Dollar als Einlage geben und bei uns
liegen lassen, wird so lange von der Rendite einem Schüler die
Bildung finanziert. Sie können sich das Studienfach aussuchen, ob
sie Grundschule oder Uni fördern wollen, ein Mädchen oder einen
Jungen. Wenn Sie nach fünf oder zehn Jahren ihre 1.000 Dollar
zurückhaben wollen, bekommen Sie sie zurück. Aber in der
Zwischenzeit haben Sie davon die Bildung für ein Kind finanziert.
Drittens gibt es Besuchsprogramme, wie wir sie von der Grameen Bank
anbieten. Darüber können Sie ein Land hervorragend kennen lernen,
sich austauschen und etwas tun.
In Deutschland gibt es eine große Zahl armer Menschen, die
faktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Gleichzeitig geht
die Zahl der Selbständigen und Unternehmer zurück. Könnten
Mikrokredite auch ein Modell für die Armen in den westlichen
Ländern sein, um wieder Anschluss an die Gesellschaft zu finden und
auf eigenen Füßen zu stehen?
Absolut! Es gibt bereits eine Reihe von Mikrokreditsystemen
in Frankreich, Großbritannien, Norwegen zum Beispiel. Aber es wird
wenig darüber gesprochen. Die Medien berichten wenig. Wenn sie sich
die Projekte anschauen würden, würden die Menschen sehen, was auch
in Europa schon möglich ist.
Wir sprechen oft davon, was die Entwicklungsländer von den
Industrieländern lernen können. Was aber können die Industrieländer
von den Entwicklungsländern lernen?
Zum Beispiel wie Menschen kämpfen, um ihre Probleme zu
überwinden. Wie sie neue Wege finden können, um etwas aus ihrem
Leben zu machen.
Die Mikrokredite sind eine einzigartige Erfolgsgeschichte, von
der man im Lande der vielen Bedenkenträger und Bremser nur träumen
kann. Herr Yunus, verraten Sie uns: Wie muss man es anpacken, um
erfolgreich ein Projekt anzuschieben, das die Gesellschaft
verändern kann?
Ich habe die Mikrokredite nicht in einem großen Wurf auf den
Weg gebracht, sondern allmählich. Anfangs hatte ich alles andere
als eine große Sache im Kopf. Ich wollte diese Idee ausprobieren,
und als ich sah, dass sie funktioniert, habe ich mir den nächsten
Schritt vorgenommen und angepackt. Ja, ich glaube, das war
wesentlich. Little by little, Schritt für Schritt weitergehen, bis
zum Erfolg.
Anja Dilk ist freie Redakteurin bei changeX.
Foto: � Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Paul Hahn.
Peter Spiegel:
Muhammad Yunus - Banker der Armen.
Der Friedensnobelpreisträger. Sein Leben. Seine Vision.
Seine Wirkung,
Verlag Herder, Freiburg 2006,
160 Seiten, 8.90 Euro,
ISBN 978-3-451-05880-6
© changeX [05.06.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights
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Zum Buch
Peter Spiegel: Muhammad Yunus - Banker der Armen. Der Friedensnobelpreisträger. Sein Leben. Seine Vision. Seine Wirkung.. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1900, 160 Seiten, ISBN 978-3-451-058806
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Autorin
Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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