Anders der arme Sankt Prekarius. Er ist ein wahrer Flexi-Jobber, muss heute freischaffenden Journalisten, morgen Ein-Euro-Jobbern und übermorgen Praktikanten Beistand leisten. Dann sind da noch die Projektnomaden, die Putzfrauen, die selbständigen Webdesigner, die Burger-Brater, Regaleinräumer, Fahrradkuriere, Erntehelfer, Zeitarbeiter - kurz: die ganze Armada jener Erwerbstätigen, die keiner sozialstaatlich regulierten Erwerbsarbeit in dauerhaftem Beschäftigungsverhältnis nachgehen. In Deutschland ist das gut ein Drittel der Erwerbsbevölkerung - Tendenz steigend. In Europa sieht die Statistik ähnlich aus. Und global gesehen hat der arme Sankt Prekarius dann wirklich Übermenschliches zu leisten, schließlich arbeitet die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung in unsicheren, ungeschützten und ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen.
Sankt Prekarius, bitt' für uns Sünder!
Die so genannte prekäre
Arbeitsgesellschaft war und ist eher die Regel als die Ausnahme.
Dennoch kocht um diesen nebulösen Begriff für ein
Allerweltsphänomen derzeit eine krause Debatte hoch. Immer mehr
zumeist junge Leute gehen in ganz Europa auf die Straße, um gegen
die Ausbeutung jener zu demonstrieren, die als Zeitarbeiter,
McJobber oder Mikrounternehmer jenseits der regulären
Beschäftigung arbeiten. 5.000 sind jüngst zum Tag der Arbeit in
Berlin gezählt worden, 30.000 in Paris und 100.000 in Mailand -
dort wo die Prekariats-Bewegung vor fünf Jahren ihren Anfang
nahm.
Auch Sankt Prekarius, der Jobhopper-Heilige, entstammt der
zweifellos lebhaften Phantasie dieser Aktivisten, die
biographisch und ideologisch so bunt zusammengewürfelt sind wie
die Klientel des Schutzheiligen. Einstweilen reagieren die Medien
mit gesetztem Feuilletongeschnarre, registrieren ein wachsendes
Unbehagen an der postindustriellen Risikobiografie, konstatieren
ein Übergreifen der sozialen Entsicherung auf die
gesellschaftliche Mitte und orakeln gar vom Prekariat, das als
Nachfolgeklasse des Proletariats die Arbeitskämpfe der Zukunft
ausfechten wird.
Da steigt mir, der unverdrossenen Unternehmerin der eigenen
Arbeitskraft, ganz gehörig der Kamm. Nicht, weil Aktivisten wie
Feuilletonisten unisono alten Wein in neue Schläuche füllen -
über die Risiken der prekären Arbeitsgesellschaft lassen sich
Soziologen, Arbeitswissenschaftler und Philosophen seit fast 20
Jahren aus. Auch nicht, weil rund um die Prekarisierungsdebatte
Elends-Szenarien heraufbeschworen werden, die für die
sozialstaatlich abgesicherte Wohlstandswelt der Europäer im
allgemeinen und der Deutschen im besonderen reichlich übertrieben
sind.
Nein, das wirklich Ärgerliche an dieser Debatte ist, dass
sie einem Arbeitsbegriff huldigt, der längst auf den Schrottplatz
der Industriegeschichte gehört. Es geht um den festen
Arbeitsplatz im regulärem Anstellungsverhältnis, jene Erfindung
des Industriezeitalters, mittels der es gelang, Menschenmassen
lebenslang an einen Arbeitgeber, einen Standort, eine Tätigkeit
zu fesseln. Ein genial fataler Coup, der die Erwerbsbevölkerung
mit subtilem Druck ins Hamsterrad der Konsumgesellschaft drängte
- jenem circulus vitiosus aus garantiertem Lohn, der hohe
Kaufkraft schafft, die wiederum die Wirtschaft antreibt und damit
Arbeitsplätze sichert. Dass dieser Wohlstandsmotor längst
gewaltig stottert, ist hinreichend bekannt, ebenso wie das
fortschreitende Aussterben des regulären Vollzeitjobs auf
Lebenszeit.
Seit Jahren wird darüber wortreich gestritten und geklagt,
aber niemand fragt, ob diese bedrohte Spezies wirklich so
schützens- und erhaltenswert ist. Wer behauptet, dass gute Arbeit
nur möglich ist, wenn im Gegenzug materielle Sicherheit und
Stabilität versprochen wird, der übersieht geflissentlich, dass
Heerscharen von ordentlich bezahlten Festangestellten Dienst nach
Vorschrift schieben oder ihren Job so sehr verabscheuen, dass sie
sich bloß noch auf den Urlaub oder die Rente freuen.
Ohne Netz und doppelten Boden.
Prekär kommt aus dem Lateinischen
und heißt so viel wie "durch Bitten erlangt". Nur einmal habe ich
in meinem Arbeitsleben um etwas gebeten. Damals war ich fest
angestellt und bat um eine unbezahltes Sabbaticaljahr zur
Weiterbildung im Ausland. Mein Arbeitgeber lehnte ab, und ich
habe gekündigt. Seitdem bitte ich nicht mehr, sondern entscheide
- das ist die Freiheit der Selbständigen, und die ist
unbezahlbar. Wohl fällt es manchmal wirklich schwer, über die
Runden zu kommen. Wohl ist oft nicht klar, wie es morgen weiter
geht. Wohl arbeiten wir sogenannten Prekären meistens viel - und
oft dazu für wenig Geld. Aber dennoch sind wir für eine
Arbeitswelt, die auf Dienstleistung, Wissen und Individualität
setzt, besser abgesichert als so mancher Arbeitsplatzbesitzer.
Wer sich ohne Netz und doppelten Boden durch die
Arbeitswelt bewegt, lernt jeden Tag, sich richtig einzuschätzen,
seine persönlichen Talente freizulegen, sich geschickt zu
vermarkten und mit Unsicherheiten produktiv umzugehen. Für
Unternehmer der eigenen Arbeitskraft ist der Arbeitsmarkt keine
mechanistische Verteilerstation, sondern ein lebendiges Biotop,
in dem man seine Nischen sucht oder sie selbst erfindet.
Allerdings fällt das in einer florierenden Wirtschaft leichter
als in einem starren, rezessiven Klima. Doch die Einsicht, dass
die flexiblen Mitglieder dieser Arbeitsgesellschaft besonders
dann erfolgreich sind, wenn die Stimmung im Lande zuversichtlich,
schwungvoll und anpackend ist, scheint sich bei den
Arbeitsschützern, Arbeitsverwaltern und Arbeitsregulierern noch
nicht herumgesprochen zu haben. Stattdessen dreht sich deren
ganzes Sinnen und Trachten um den Erhalt und die Schaffung fester
Vollzeitarbeitsplätze - auf Kosten der Konjunktur und unter
Ausschluss der unendlichen Vielfalt neuer Erwerbsformen jenseits
der Festanstellung.
Wenn der Gesellschaft Tag für Tag eingeblasen wird, dass
die unbefristete, geschützte Tätigkeit unverzichtbar für die
Lebensplanung der Bevölkerung sei, braucht sich niemand zu
wundern, dass die Menschen zusehends in Abstiegs- und
Ausschlussängsten erstarren. Eine solche Arbeitsgesellschaft aber
ist weder leistungs- noch wettbewerbsfähig. Schlimmer noch, sie
leidet an einem Realitätsverlust, der gefährlich werden kann. Wie
explosiv ein solches Gemisch aus Angst, Enttäuschung,
Selbsttäuschung, Abhängigkeit und Unterlegenheit werden kann, hat
Hans Magnus Enzensberger jüngst in einem Essay über die radikalen
Verlierer beschrieben, jene wachsende Schar von Durchgeknallten,
die sich für das eigene Versagen und die eigene Unterlegenheit
grausam an unschuldigen Menschen rächen.
Das morsche Fundament der Erwerbsgesellschaft.
Weniger die "Präkeren" sind die
Verzweifelten, Überflüssigen, Gestressten und Ausgebeuteten,
sondern vielmehr all jene, die sich angstverkrampft an ihren
vermeintlich sicheren Arbeitsplatz krallen, weil sie von den
Idealen einer längst zerfallenen Arbeitswelt nicht lassen wollen.
Zugegeben, sie sitzen tief und immer noch verführerisch im Hirn -
die festen Arbeitsverträge, die bezahlten Urlaube und
Krankheitstage, die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung, der
Kündigungsschutz und die Abfindung bei Jobverlust. Auch ich als
unverdrossen Selbstständige bin da mal schwach geworden und habe
mich auf einen festen Job beworben. Die Antwort ließ nicht lange
auf sich warten. Ja, bestätigte mir der Personalchef, von allen
Bewerbern sei ich am allerbesten geeignet. Das einzige Problem
sei meine langjährige Selbständigkeit. Auf meine verdutzte Frage,
warum ausgerechnet das ein Problem ist, antwortete mir der Mann
mit entwaffnender Ehrlichkeit: "Erstens werden Sie mir den ganzen
Laden aufmischen und zweitens werden Sie so unglücklich mit Ihrer
Festanstellung sein, dass Sie sowieso bald wieder kündigen."
Wenn die neue Bewegung des so genannten Prekariats wirklich
etwas verbessern will, dann sollte sie schleunigst die Richtung
ändern: Raus aus der Rolle der wütenden Opfers und rein in die
der entschlossenen Veränderer. In unserer Arbeitsgesellschaft
gibt es wichtigere Dinge einzufordern als sichere Arbeitsplätze
und bessere Entlohnung. Es gilt, ein System zu stürzen, das in
all seinen Facetten immer noch auf das morsche Fundament der
regulären Erwerbstätigkeit gebaut ist - vom Sozialsystem über das
Steuersystem bis hin zum Bildungssystem, das nach wie vor perfekt
zu Unselbständigkeit und Uniformität anstatt zu
Selbstverantwortung und kreativem Unternehmergeist erzieht.
Es gilt aber auch, der Gesellschaft die Augen dafür zu
öffnen, dass ihre Wertvorstellungen von Arbeit obsolet und kaum
mehr mehrheitsfähig sind. Solange sich diese Arbeitsgesellschaft
willenlos aufspalten lässt in solche, die als Vollerwerbstätige
drinnen sind, und solche, die als "Prekäre" oder Arbeitslose
draußen bleiben müssen, solange wird sie ihre Angst und ihre
Abhängigkeit nicht loswerden. Wenn der Heilige Prekarius einen
guten Job machen will, dann sollte er diesen Wahnsinn aus der
Welt schaffen.
Gundula Englisch, Journalistin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.
© changeX [09.05.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 09.05.2006. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Mal wieder über fünf Millionen Arbeitslose oder warum die Debatte darüber langsam für die Katz ist - ein Essay von Peter Felixberger. zum Essay
Und definieren das Land neu. | Folge 3: Arbeit | zum Essay
Was ist wahre Lebenskunst? - Ein Gespräch mit Wilhelm Schmid. zum Interview
Ein Gespräch mit Frithjof Bergmann über eine neue Arbeit und eine neue Kultur. zum Interview
Living at Work-Serie | Teil 12 | - Gundula Englisch über Jobnomaden. zum Essay
Autorin
Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.
weitere Artikel der Autorin
Top Dreams – Betty Zucker lässt Manager träumen. zur Rezension
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Zu dem Buch von Claus Leggewie und Harald Welzer. zur Rezension
Die 12 neuen Gesetze der Führung – Niels Pfläging fordert die Abschaffung des Managements. zur Rezension