Lieber die Hosen voll
Warum ein riskanter Job besser als ein öder Dauerarbeitsplatz ist? - Ein Essay von Gundula Englisch.
Die Altherren-Feuilletonliga von ZEIT bis Süddeutsche hat ein neues Lieblingsthema: die prekäre Arbeit. Gemeint sind damit ein Drittel aller Erwerbstätigen. Vor allem jene Jobnomaden, Flexi-Jobber und Zeitarbeiter, die nicht im Paradies eines gesicherten Dauerarbeitsplatzes malochen. Doch die prekäre Arbeit bedeutet auch ein Stück mehr Freiheit. Denn wer will sich noch lebenslang an einen Arbeitgeber, Standort oder eine Tätigkeit fesseln? Und warum hält diese Gesellschaft eigentlich noch so krankhaft fest am circulus vitiosus aus garantiertem Lohn, der hohe Kaufkraft schafft, die wiederum die Wirtschaft antreibt und damit Arbeitsplätze sichert?
Sankt Prekarius ist schon ein komischer Heiliger. Im Olymp der ehrwürdigen Schutzpatrone muss er sich vorkommen wie auf der falschen Party. Alle anderen seiner Kollegen haben einen festen Job, eine eindeutige Berufsheimat und einen geregelten Aufgabenbereich. Für die Buchhändler ist Thomas von Aquin zuständig, für die Dachdecker die Heilige Barbara, für die Zahnärzte die Heilige Apollonia, für die Briefträger der Erzengel Gabriel und für die Finanzbeamten niemand geringerer als Matthäus, der Evangelist.
Anders der arme Sankt Prekarius. Er ist ein wahrer Flexi-Jobber, muss heute freischaffenden Journalisten, morgen Ein-Euro-Jobbern und übermorgen Praktikanten Beistand leisten. Dann sind da noch die Projektnomaden, die Putzfrauen, die selbständigen Webdesigner, die Burger-Brater, Regaleinräumer, Fahrradkuriere, Erntehelfer, Zeitarbeiter - kurz: die ganze Armada jener Erwerbstätigen, die keiner sozialstaatlich regulierten Erwerbsarbeit in dauerhaftem Beschäftigungsverhältnis nachgehen. In Deutschland ist das gut ein Drittel der Erwerbsbevölkerung - Tendenz steigend. In Europa sieht die Statistik ähnlich aus. Und global gesehen hat der arme Sankt Prekarius dann wirklich Übermenschliches zu leisten, schließlich arbeitet die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung in unsicheren, ungeschützten und ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen.

Sankt Prekarius, bitt' für uns Sünder!


Die so genannte prekäre Arbeitsgesellschaft war und ist eher die Regel als die Ausnahme. Dennoch kocht um diesen nebulösen Begriff für ein Allerweltsphänomen derzeit eine krause Debatte hoch. Immer mehr zumeist junge Leute gehen in ganz Europa auf die Straße, um gegen die Ausbeutung jener zu demonstrieren, die als Zeitarbeiter, McJobber oder Mikrounternehmer jenseits der regulären Beschäftigung arbeiten. 5.000 sind jüngst zum Tag der Arbeit in Berlin gezählt worden, 30.000 in Paris und 100.000 in Mailand - dort wo die Prekariats-Bewegung vor fünf Jahren ihren Anfang nahm.
Auch Sankt Prekarius, der Jobhopper-Heilige, entstammt der zweifellos lebhaften Phantasie dieser Aktivisten, die biographisch und ideologisch so bunt zusammengewürfelt sind wie die Klientel des Schutzheiligen. Einstweilen reagieren die Medien mit gesetztem Feuilletongeschnarre, registrieren ein wachsendes Unbehagen an der postindustriellen Risikobiografie, konstatieren ein Übergreifen der sozialen Entsicherung auf die gesellschaftliche Mitte und orakeln gar vom Prekariat, das als Nachfolgeklasse des Proletariats die Arbeitskämpfe der Zukunft ausfechten wird.
Da steigt mir, der unverdrossenen Unternehmerin der eigenen Arbeitskraft, ganz gehörig der Kamm. Nicht, weil Aktivisten wie Feuilletonisten unisono alten Wein in neue Schläuche füllen - über die Risiken der prekären Arbeitsgesellschaft lassen sich Soziologen, Arbeitswissenschaftler und Philosophen seit fast 20 Jahren aus. Auch nicht, weil rund um die Prekarisierungsdebatte Elends-Szenarien heraufbeschworen werden, die für die sozialstaatlich abgesicherte Wohlstandswelt der Europäer im allgemeinen und der Deutschen im besonderen reichlich übertrieben sind.
Nein, das wirklich Ärgerliche an dieser Debatte ist, dass sie einem Arbeitsbegriff huldigt, der längst auf den Schrottplatz der Industriegeschichte gehört. Es geht um den festen Arbeitsplatz im regulärem Anstellungsverhältnis, jene Erfindung des Industriezeitalters, mittels der es gelang, Menschenmassen lebenslang an einen Arbeitgeber, einen Standort, eine Tätigkeit zu fesseln. Ein genial fataler Coup, der die Erwerbsbevölkerung mit subtilem Druck ins Hamsterrad der Konsumgesellschaft drängte - jenem circulus vitiosus aus garantiertem Lohn, der hohe Kaufkraft schafft, die wiederum die Wirtschaft antreibt und damit Arbeitsplätze sichert. Dass dieser Wohlstandsmotor längst gewaltig stottert, ist hinreichend bekannt, ebenso wie das fortschreitende Aussterben des regulären Vollzeitjobs auf Lebenszeit.
Seit Jahren wird darüber wortreich gestritten und geklagt, aber niemand fragt, ob diese bedrohte Spezies wirklich so schützens- und erhaltenswert ist. Wer behauptet, dass gute Arbeit nur möglich ist, wenn im Gegenzug materielle Sicherheit und Stabilität versprochen wird, der übersieht geflissentlich, dass Heerscharen von ordentlich bezahlten Festangestellten Dienst nach Vorschrift schieben oder ihren Job so sehr verabscheuen, dass sie sich bloß noch auf den Urlaub oder die Rente freuen.

Ohne Netz und doppelten Boden.


Prekär kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie "durch Bitten erlangt". Nur einmal habe ich in meinem Arbeitsleben um etwas gebeten. Damals war ich fest angestellt und bat um eine unbezahltes Sabbaticaljahr zur Weiterbildung im Ausland. Mein Arbeitgeber lehnte ab, und ich habe gekündigt. Seitdem bitte ich nicht mehr, sondern entscheide - das ist die Freiheit der Selbständigen, und die ist unbezahlbar. Wohl fällt es manchmal wirklich schwer, über die Runden zu kommen. Wohl ist oft nicht klar, wie es morgen weiter geht. Wohl arbeiten wir sogenannten Prekären meistens viel - und oft dazu für wenig Geld. Aber dennoch sind wir für eine Arbeitswelt, die auf Dienstleistung, Wissen und Individualität setzt, besser abgesichert als so mancher Arbeitsplatzbesitzer.
Wer sich ohne Netz und doppelten Boden durch die Arbeitswelt bewegt, lernt jeden Tag, sich richtig einzuschätzen, seine persönlichen Talente freizulegen, sich geschickt zu vermarkten und mit Unsicherheiten produktiv umzugehen. Für Unternehmer der eigenen Arbeitskraft ist der Arbeitsmarkt keine mechanistische Verteilerstation, sondern ein lebendiges Biotop, in dem man seine Nischen sucht oder sie selbst erfindet. Allerdings fällt das in einer florierenden Wirtschaft leichter als in einem starren, rezessiven Klima. Doch die Einsicht, dass die flexiblen Mitglieder dieser Arbeitsgesellschaft besonders dann erfolgreich sind, wenn die Stimmung im Lande zuversichtlich, schwungvoll und anpackend ist, scheint sich bei den Arbeitsschützern, Arbeitsverwaltern und Arbeitsregulierern noch nicht herumgesprochen zu haben. Stattdessen dreht sich deren ganzes Sinnen und Trachten um den Erhalt und die Schaffung fester Vollzeitarbeitsplätze - auf Kosten der Konjunktur und unter Ausschluss der unendlichen Vielfalt neuer Erwerbsformen jenseits der Festanstellung.
Wenn der Gesellschaft Tag für Tag eingeblasen wird, dass die unbefristete, geschützte Tätigkeit unverzichtbar für die Lebensplanung der Bevölkerung sei, braucht sich niemand zu wundern, dass die Menschen zusehends in Abstiegs- und Ausschlussängsten erstarren. Eine solche Arbeitsgesellschaft aber ist weder leistungs- noch wettbewerbsfähig. Schlimmer noch, sie leidet an einem Realitätsverlust, der gefährlich werden kann. Wie explosiv ein solches Gemisch aus Angst, Enttäuschung, Selbsttäuschung, Abhängigkeit und Unterlegenheit werden kann, hat Hans Magnus Enzensberger jüngst in einem Essay über die radikalen Verlierer beschrieben, jene wachsende Schar von Durchgeknallten, die sich für das eigene Versagen und die eigene Unterlegenheit grausam an unschuldigen Menschen rächen.

Das morsche Fundament der Erwerbsgesellschaft.


Weniger die "Präkeren" sind die Verzweifelten, Überflüssigen, Gestressten und Ausgebeuteten, sondern vielmehr all jene, die sich angstverkrampft an ihren vermeintlich sicheren Arbeitsplatz krallen, weil sie von den Idealen einer längst zerfallenen Arbeitswelt nicht lassen wollen. Zugegeben, sie sitzen tief und immer noch verführerisch im Hirn - die festen Arbeitsverträge, die bezahlten Urlaube und Krankheitstage, die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung, der Kündigungsschutz und die Abfindung bei Jobverlust. Auch ich als unverdrossen Selbstständige bin da mal schwach geworden und habe mich auf einen festen Job beworben. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ja, bestätigte mir der Personalchef, von allen Bewerbern sei ich am allerbesten geeignet. Das einzige Problem sei meine langjährige Selbständigkeit. Auf meine verdutzte Frage, warum ausgerechnet das ein Problem ist, antwortete mir der Mann mit entwaffnender Ehrlichkeit: "Erstens werden Sie mir den ganzen Laden aufmischen und zweitens werden Sie so unglücklich mit Ihrer Festanstellung sein, dass Sie sowieso bald wieder kündigen."
Wenn die neue Bewegung des so genannten Prekariats wirklich etwas verbessern will, dann sollte sie schleunigst die Richtung ändern: Raus aus der Rolle der wütenden Opfers und rein in die der entschlossenen Veränderer. In unserer Arbeitsgesellschaft gibt es wichtigere Dinge einzufordern als sichere Arbeitsplätze und bessere Entlohnung. Es gilt, ein System zu stürzen, das in all seinen Facetten immer noch auf das morsche Fundament der regulären Erwerbstätigkeit gebaut ist - vom Sozialsystem über das Steuersystem bis hin zum Bildungssystem, das nach wie vor perfekt zu Unselbständigkeit und Uniformität anstatt zu Selbstverantwortung und kreativem Unternehmergeist erzieht.
Es gilt aber auch, der Gesellschaft die Augen dafür zu öffnen, dass ihre Wertvorstellungen von Arbeit obsolet und kaum mehr mehrheitsfähig sind. Solange sich diese Arbeitsgesellschaft willenlos aufspalten lässt in solche, die als Vollerwerbstätige drinnen sind, und solche, die als "Prekäre" oder Arbeitslose draußen bleiben müssen, solange wird sie ihre Angst und ihre Abhängigkeit nicht loswerden. Wenn der Heilige Prekarius einen guten Job machen will, dann sollte er diesen Wahnsinn aus der Welt schaffen.

Gundula Englisch, Journalistin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.

© changeX [09.05.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.

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