Das Ende der Sesshaftigkeit
Living at Work-Serie | Teil 12 | - Gundula Englisch über Jobnomaden.
Die Jobnomaden der Wissensökonomie bauen sich selbst als Marke auf - und stellen ganz andere Anforderungen: Sie wollen ein hohes Maß an Autonomie, spannende Arbeitsinhalte, Abwechslung, Erlebnisse und Herausforderungen. Sie wollen mit all ihren Bedürfnissen respektiert werden und ihre Gefühle nicht zu Hause lassen müssen.
Als Johannes Gutenberg die Druckpresse erfand, war das eine technische Revolution mit enormen Auswirkungen. Mit dem Buchdruck begann die Massenproduktion von Informationen und Wissen und gleichzeitig endete damit das Wissensmonopol der Kirchen. Die digitale Revolution, die wir erleben, hat - ebenso wie Gutenbergs Erfindung - Monopole aufgelöst und Ideen entfesselt. Wissen und Informationen sind nicht länger an Papier oder Aktenordner gebunden und auch nicht an Firmenzentralen oder andere geschlossene Territorien. Sie sind nicht mehr fest verwurzelt und sesshaft, sondern mobil und nomadisch. Der Strom aus Daten, Bildern und Ideen bewegt sich körper-, schwere- und mühelos über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg und hat das morsche Gerüst des Industriezeitalters unwiderruflich unterspült.
Hyperlinks statt Organigramme - Wirtschaft in Bewegung.
Prognosen gehen davon aus, dass der
künftige Geschäftserfolg zu 80 Prozent aus Ideen und nur noch zu
20 Prozent aus der Kapitalkraft des Unternehmens generiert wird.
Das heißt, dass potenziell jeder Zugriff hat auf die neuen,
immateriellen Rohstoffe und jedermann damit auch unternehmerisch
tätig werden kann. Zum anderen bedeutet der Siegeszug der neuen
Ressourcen aber auch, dass sich die wirtschaftlichen
Erfolgsfaktoren entscheidend verlagern. Die Schlüsselgröße der
Wissensökonomie ist nicht aus Stahl oder Metall, sondern aus
Fleisch und Blut: Es ist der Mensch mit seinen vielfältigen
Fähigkeiten und Fertigkeiten, seinem Bedürfnis nach
Kommunikation, seiner Kreativität, seiner Vorstellungskraft und
seiner leidenschaftlichen Neugier.
Wenn aber die traditionellen Firmenaktiva immer mehr an
Bedeutung verlieren, dann ist es nur konsequent, dass Firmen auf
Sachwerte, Büroräume und Lagerhäuser verzichten. Dass sie sich
sozusagen dematerialisieren, die Anzahl der Hierarchieebenen, der
Schreibtische und der Büros reduzieren und auch die Größe der
Belegschaft. Stattdessen vernetzen sie ihre Betriebsabläufe,
kooperieren mit selbstständigen Partnern und arbeiten mit
Hyperlinks statt mit Organigrammen. Solche Firmen folgen
nomadischen Organisationsformen: wenig materieller Ballast,
flache Hierarchien, kaum Verwaltung und geringe Arbeitsteilung.
Nomadischen Unternehmen verstehen sich als überaus bewegliche
"Problemlösungsaggregate": Sie können sich entsprechend der
jeweiligen Aufgaben permanent verändern und auf die Anforderungen
des Marktes flexibel reagieren. Für neue Projekte finden sich
temporäre Teams zusammen, maßgeschneidert und bunt gemischt,
entsprechend der jeweiligen Aufgabe. Oft sind die einzelnen
Mitglieder dieser Teams rund um den Globus verteilt und nur per
Datenautobahn miteinander verbunden. "Work follows the sun" -
rund um die Uhr - über Zeitzonen und Landesgrenzen hinweg.
Die Technik macht's möglich - aber sie allein schafft noch
lange kein funktionierendes Netzwerk. Die Zukunftsforscherin
Betty Zucker hat es so formuliert: Der Fluss der Informationen
und des Wissens wird am empfindlichsten gehemmt von den Dämmen
der starren Strukturen und des rigiden Managements, das meint,
alles kontrollieren zu müssen. Dafür strömt er umso kraftvoller
im lockeren Geflecht von vielfältigen Beziehungen - hinweg über
Abteilungsgrenzen, Hierarchiestufen und Anordnungen. Damit werden
Offenheit, Vertrauen und Verantwortung zum Lebensquell
nomadischer Unternehmen. Vorgesetzte werden zu Dienstleistern,
deren oberste Aufgabe es ist, Bedingungen zu schaffen, unter
denen sich alle Beteiligten optimal entfalten und frei
miteinander kommunizieren können. Führungskräfte, die immer noch
glauben, sie könnten Menschen wie Maschinen einfach im Takt der
Produktion laufen lassen, verspielen ihr wichtigstes
Kapital.
Die Arbeitswelt der Jobnomaden.
Arbeit - das hat heute immer
weniger mit messbaren Einheiten oder kontrollierbaren Leistungen
zu tun. Arbeit ist auch längst nicht mehr das Synonym für den
regulären Vollzeitjob auf Lebenszeit. Aber viele tun sich schwer
damit, unsere durch und durch sesshafte Beziehung zur Arbeit zu
überdenken oder gar grundsätzlich in Frage zu stellen. Immer noch
wird Arbeit reguliert, gesteuert und in Zeiteinheiten entlohnt.
Immer noch wird sie verwaltet und verteilt von Institutionen, die
so tun, als ob es ohne sie keine Arbeit gäbe. Aber die Dinge
verändern sich. In den Köpfen vieler Menschen reift eine neue
Idee von Arbeit, die mit den alten Vorstellungen nur noch wenig
zu tun hat. Dieser Begriff von Arbeit ist nomadisch. Arbeit ist
nicht mehr das, wo man hingeht, sondern das, was man tut - und
zwar aus sich selbst heraus. Nomadische Arbeit braucht weder
Sicherheitsversprechen noch Vorschriften - die Jobnomaden der
Wissensökonomie stellen ganz andere Anforderungen: Sie wollen ein
hohes Maß an Autonomie, spannende Arbeitsinhalte, Abwechslung,
Erlebnisse und Herausforderungen. Sie wollen mit all ihren
Bedürfnissen respektiert werden und ihre Gefühle nicht zu Hause
lassen müssen. Sie wollen eingebunden sein in ein gutes Team,
Zeit für Gespräche haben und Freiräume für ihre physische und
geistige Beweglichkeit. Wird ihnen das verwehrt, wird etwa das
Arbeitsklima von Intrigen, Machtkämpfen, Führungsschwächen,
Monotonie oder sinnlosen Anordnungen verdorben, wechseln mutige
Mitarbeiter über Nacht den Job - und die weniger mutigen ziehen
sich zurück in die innere Kündigung und fahren ihre
Leistungsbereitschaft auf ein Minimum herunter.
Loyalität - so heißt der kritische Faktor in der
nomadischen Arbeitswelt. Damit kippen die Kräfteverhältnisse auf
dem Arbeitsmarkt. Wirklich gute Leute langfristig an das
Unternehmen zu binden ist in vielen Branchen nahezu unmöglich -
trotz Wirtschaftskrise und Entlassungswellen. Für Jobnomaden ist
die Identifikation mit einzelnen Aufgaben und Teams wichtiger als
die Zugehörigkeit zu einem altehrwürdigen Firmennamen. Der
Begriff "Karriere" hat für sie andere Dimensionen: Die dauerhafte
Sesshaftigkeit in einem Unternehmen oder der gradlinige Aufstieg
entlang der Hierarchieleiter bringt ihnen keinen Nutzen - so gut
er auch bezahlt sein mag. Zum einen haben sie kapiert, dass sich
Firmen auch nicht gerade loyal gegenüber ihren Mitarbeitern
verhalten - und sie entlassen, wann immer die Bilanzen es
verlangen. Zum anderen aber folgen diese nomadischen Laufbahnen
ganz anderen Zielen. Sie streben nicht nach oben, sondern in die
Breite. Jobnomaden geht es um die Zusammenstellung eines
möglichst vielfältigen individuellen Tätigkeitsportfolios, das
ihnen nicht nur Einzigartigkeit verleiht, sondern auch
ermöglicht, auf unterschiedliche Marktsituationen flexibel zu
reagieren. Die (vermeintliche) Sicherheit des festen
Arbeitsverhältnisses wird abgelöst von der persönlichen
Zielvorgabe, die eigene Existenz auf ein breites und variables
Fundament zu stellen.
Das Lebensprojekt Ich & Co.
Diese existenzsichernde Verteilung
der eigenen Arbeitskraft auf mehrere Quellen ist eine wichtige,
aber nicht die einzige Karrierestrategie der Jobnomaden. Auf
ihren Wanderungen kreuz und quer durch die Weidegründe der
Arbeitswelt erkunden sie auch sich selbst - also das große
Terrain der eigenen Potenziale und Talente. Wo sind meine
Stärken? Wie gehe ich mit meinen Schwächen um? Wie kann ich mich
von anderen Anbietern unterscheiden? Worin bin ich einzigartig?
Damit verhalten sich die neuen Mitarbeiter ähnlich wie
erfolgreiche Unternehmen: Sie steigern ihren Marktwert durch
Diversifizierung, entwickeln eine starke Vision und bemühen sich
um ein interessantes Alleinstellungsmerkmal. Das Unternehmen Ich
& Co. wird zum Lebensprojekt, die eigene Persönlichkeit zur
Marke.
Spätestens hier schleicht sich ein gewisses Unbehagen ein:
Sind diese Jobnomaden durch und durch ökonomisiert? Sind Arbeit
und Karriere der alles bestimmende Leitstern ihrer Existenz? Oder
gibt es für sie auch ein Privatleben, das frei ist von
Strategien, Wirtschaftlichkeitsrechnungen und Bilanzen? Die
Antwort heißt Jein.
Jobnomaden sehen Berufsweg und Lebensplanung als Einheit.
Wer über seine Arbeitskraft in eigenem Ermessen und eigener
Verantwortung verfügt, wird ihr hohe Aufmerksamkeit zollen,
seinen Job ständig auf den Prüfstand stellen und penibel abwägen:
Was arbeite ich und warum arbeite ich? Macht diese Tätigkeit Sinn
für mich? Schlägt mein Herz dabei höher? Arbeit ist für
Jobnomaden etwas sehr Persönliches, sie muss etwas bedeuten, denn
nur dann kann sie produktiv und sinnvoll sein.
Damit rücken aber auch das Berufs- und Privatleben enger
zusammen als jemals zuvor. Wenn die räumlichen und zeitlichen
Grenzen der Arbeit fallen, macht die Trennung dieser beiden
Sphären - die ohnehin nur im Industriezeitalter existierte - auch
gar keinen rechten Sinn mehr. Doch die Befürchtung, dass die
Arbeit nun hemmungslos ins Private drängt, es gar verdrängt, ist
nur zum Teil berechtigt. Auch in der Arbeitswelt der Jobnomaden
gibt es Ausbeutung und Selbstausbeutung. Doch diese neue
Arbeitswelt birgt mehr denn je zuvor die Chance, Leben und
Arbeiten miteinander in Balance zu bringen. Denn im Gegensatz zum
grauen Heer der Lohnempfänger entscheiden Jobnomaden selbst, wie
sie mit ihrer kostbaren Ressource Arbeitskraft umgehen - und sie
werden sich ganz gewiss auch die Freiheit nehmen, nein zu sagen -
wenn der Sinn und der Spaß verloren geht, wenn der Druck zu hoch
wird und die Freiräume zu eng, wenn man funktionieren soll wie
eine Maschine und die Batterien leer zu laufen drohen. Dann kann
es passieren, dass Jobnomaden ihrer noch so gut bezahlten
Tätigkeit den Rücken kehren, um fruchtbarere Weidegründe zu
suchen.
Das erfordert allerdings einen Lebensstil, der flexibel
genug ist, um "Durststrecken" zu überbrücken. Wer mobil ist,
reist wohlweislich mit leichtem Gepäck: Langfristige finanzielle
Verpflichtungen, teuere Statussymbole, materieller Ballast - all
das hat im Alltag der Jobnomaden keinen Platz. Besitz und Konsum
verlieren an Bedeutung. Dafür werden persönliche Beziehungen
immer wichtiger. Nehme dir viel Zeit für dich selbst und deine
Mitmenschen - ein Credo, das für Leute mit prall gefülltem
Terminkalender einer Zumutung gleicht - für Jobnomaden ist es ein
Muss. Die Einbindung der eigenen Person oder der eigenen Firma in
ein "Wir" war noch niemals so wichtig wie heute. "Community" -
die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und die Pflege von
Beziehungen - ist der Schlüssel für Erfolg geworden, im Privaten
und im Berufsleben gleichermaßen. Denn in einer Welt der eng
verwobenen Netzwerke haben Einzelkämpfer genauso wenig Chancen
wie selbstverliebte Egozentriker, deren soziale Muskeln im
ständigen Kreisen um sich selbst erschlafft sind.
Mobile Lebensführung - ein Balanceakt.
Die neue Kultur der Beweglichkeit
reicht weit über die Wirtschafts- und Arbeitswelt hinaus - sie
wirkt tief in die Gesellschaft und ins Private hinein und wirbelt
auch dort bislang fest gefügte Strukturen und Werte heftig
durcheinander. Das häufige Wechseln von Arbeitsplätzen, Berufen
und Wohnorten geht auch einher mit dem permanenten Lösen und
Neuknüpfen von Freundschaften, Partnerschaften und anderen
Bindungen. Damit wird die mobile Lebensführung zum lebenslangen
Lernprozess - nicht nur in fachlicher Hinsicht. Mobilität
bedeutet auch mental, sozial und emotional beweglich zu sein -
Toleranz, Offenheit, Empathie und Mut an den Tag zu legen, nach
neuen Erfahrungen zu suchen und zu neuen gedanklichen Horizonten
aufzubrechen. Wir werden sie brauchen, weil nichts bleibt, wie es
war.
Noch ringt die Schwerkraft des Bestehenden mit der
Mobilisierungskraft des Wandels. Noch fühlen sich viele Menschen
überrollt von den dramatischen Veränderungen und bedroht von
einer Zukunft, die immer schneller auf uns zukommt. Noch ist das
Ende der Sesshaftigkeit für viele kaum vorstellbar. Aber für
andere hat es längst stattgefunden, ist die nomadische Lebens-
und Arbeitswelt schon Wirklichkeit. Eine Welt, die den Verzicht
auf Besitzstände, Gewohnheitsrechte und überflüssigen Ballast
fordert. Die Sicherheit nicht hinter Mauern, Gesetzen oder
Verträgen bietet, sondern in vielfältigem Wissen, Selbstvertrauen
und Beweglichkeit. Die fest gefügte Regeln und Beziehungen
aufbricht, zum Loslassen und zum ständigen Aufbruch auffordert
und uns jeden Tag aufs Neue mit Unsicherheit konfrontiert. Aus
der einen Sicht hat diese Zukunft unberechenbare Risiken - aus
der anderen Sicht verlockende Chancen. Wir werden uns auf beides
einstellen müssen. Und wir werden lernen müssen, dehnbar und fest
zu sein, frei und gebunden, ständig in Bewegung und dennoch in
Ruhe, beides zu haben: Wurzeln und Flügel. Diese Widersprüche
sind die große Herausforderung der nomadischen Arbeitswelt von
morgen. Auch wenn wir sie nicht auflösen können - wir können sie
annehmen und lernen, damit umzugehen, genauso, wie es vor zehn
Jahrtausenden geschah, als die Jäger und Sammler ihr Leben
wandelten und die Sesshaftigkeit ihren Anfang nahm.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Gundula Englisch ist Journalistin und Filmemacherin sowie Geschäftsführerin der VIA-Media GmbH in München-Unterföhring.
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [26.03.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 26.03.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Autorin
Gundula EnglischGundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.