Märkte von morgen
Antizyklisch denken, das heißt auch, in wirtschaftlichen Abschwungphasen bereits nach den Ideen, Technologien und Geschäftsmodellen zu suchen, die einen neuen Aufschwung tragen können: den Märkten der Zukunft.
Antizyklisches Denken hat in den Wirtschaftswissenschaften Tradition. Vor allem in der Theorie der antizyklischen Konjunktursteuerung von John Maynard Keynes gewann dieser Gedanke prägende Kraft. Keynes’ Lehre nach kann (muss!) der Staat regulierend in das Auf und Ab der Wirtschaft eingreifen, indem er in wirtschaftlichen Abschwungphasen das staatliche Ausgabevolumen erhöht, um die Wirtschaft anzukurbeln – auch wenn er damit Schulden macht (Deficit Spending), die er in der nächsten Aufschwungphase dann über sprudelnde Steuereinnahmen wieder refinanzieren kann. In seiner Umsetzung als Vision einer wirtschaftspolitischen Globalsteuerung gescheitert, gewinnt der Gedanke eines antizyklischen staatlichen Eingreifens in das Wirtschaftsgeschehen in jeder Krise neu an Popularität.
Antizyklisch in einem anderen Sinn ist ein Gedanke, der die Wirtschaftstheorie von Nikolai Kondratieff und Joseph Schumpeter trägt. Auch sie denken Wirtschaft in Auf- und Abschwungphasen – mit dem fundamentalen Unterschied allerdings, dass nicht eine Über-Steuerungsinstanz namens Staat die Geschicke bestimmt, sondern die wirtschaftlichen Akteure selbst: die Menschen, die mit ihren Bedürfnissen Märkte schaffen und die als Unternehmer daran arbeiten, die Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Bei Kondratieff ist es die nächste lange Welle, die sich schon vorbereitet, wenn die vorhergehende gerade in den Keller schwappt, bei Schumpeter sind es die Pionierunternehmer, die die alten Geschäftsmodelle in die Tonne hauen und neue erfinden – Schumpeters berühmte „schöpferische Zerstörung“.
Gemeinsam ist diesen beiden Theorien ein Gedanke: Während die Wirtschaftskraft erlahmt und eine Abschwungphase einsetzt, gibt es irgendwo da draußen in dem Universum wirtschaftlich handelnder Menschen bereits die Ideen, Technologien und Geschäftsmodelle, die den nächsten Aufschwung tragen werden: die Zukunftsmärkte.
Die Frage ist nur: Welche werden das sein? Sie rechtzeitig zu erkennen eröffnet Wachstums- und Gestaltungschancen. Zukunftsmärkte, nicht bloße Innovationen, sind das zentrale Thema für die Gestaltung von Zukunft.
„Welche im Entstehen begriffenen Märkte haben Zukunftspotenzial? Welche Märkte leisten einen Beitrag zur Lösung globaler Probleme?“ Das waren die Leitfragen, denen Klaus Burmeister, Andreas Neef und Holger Glockner in ihrer Umfrage Zukunftsmärkte 2020 nachgegangen sind. Denn: „Zukunftsmärkte rechtzeitig zu erkennen ist von zentraler Bedeutung für Unternehmen und Gesellschaft.“ Und nicht zuletzt müssten Zukunftsmärkte auch „entwickelt und gestaltet werden“. Insgesamt 255 Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft haben sich an der Umfrage beteiligt und zwölf Zukunftsmärkte hinsichtlich ihres Wachstumspotenzials und ihres potenziellen Beitrags zur Lösung globaler Herausforderungen bewertet und kommentiert.
Die Ergebnisse liegen nun in einer ersten Auswertung als PDF vor. Hier als Zusammenfassung die beiden Rankings zu Wachstumspotenzial und Problemlösungsbeitrag von zwölf Zukunftsmärkten:
Ranking Wachstumspotenzial
Die Frage nach dem Wachstumspotenzial ergab eine „starke Spitzengruppe von sieben Zukunftsmärkten“, denen 80 Prozent der Teilnehmer ein sehr hohes oder hohes Wachstumspotenzial bescheinigten. Auch dem Bottom-of-the-Pyramid-Markt auf Platz acht wurde von 50 Prozent der Teilnehmer ein hohes oder sehr hohes Wachstumspotenzial zugeschrieben. 52 Prozent der Teilnehmer erwarten von diesem Markt einen hohen Beitrag zur Lösung globaler Probleme. Im Ranking des Problemlösungsbeitrags folgen leistungsfähige Energiespeicher und dezentrale Energieproduktion – für die Autoren „ein deutliches Indiz für die Bedeutung der Suche nach zukunftsfähigen Energieinfrastrukturen“.
Wachstumspotenzial der zwölf Zukunftsmärkte
1 Seniorengerechte Infrastrukturen – Leben und Wohnen im Alter: Neubau von und Umbau zu seniorengerechten Infrastrukturen.
2 Leistungsfähige Energiespeicher – Energieerzeugung und Energienutzung werden zeitlich entkoppelt: Technologien, Systeme und Dienstleistungen zur Speicherung und Nutzung von elektrischer oder thermischer Energie.
3 Intelligente Materialien – Werkstoffe werden smart und umweltfreundlich: Entwicklung und Einsatz neuartiger Werkstoffe mit „intelligenten“ Eigenschaften.
4 Web 3.0 – Netzwelt und Alltagswelt verschmelzen: Verbindung von semantischen Technologien, mobilem Internet, Sensornetzen und neuartigen Displays für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle und neuer Ansätze der Unternehmensorganisation.
5 Elektromobilität – Strom wird zum Benzin von morgen: Entwicklung von Fahrzeugkonzepten, leistungsfähiger Batterie- und Speichersysteme und Aufbau einer Infrastruktur von am Stromnetz aufladbaren Fahrzeugen, eines flächendeckenden Netzes an Stromtankstellen bis hin zu neuen Geschäftsmodellen für Batterietausch, Leasing und Abrechnung.
6 Dezentrale Energieproduktion – Energienutzer werden zu Energieproduzenten: Entwicklung von Komponenten und Systemen zur Stromproduktion in Haushalten und Unternehmen (Fotovoltaik, Mikro-Blockheizkraftwerke, Biomasse, Mini-Windräder und deren Einbindung in intelligente Stromnetze).
7 Individuelle Gesundheitsvorsorge – Gesundheit auf eigene Verantwortung: Produkte, Technologien und Dienstleistungen für eine eigenverantwortliche Gesundheitsprävention.
8 Bottom-of-the-Pyramid – wirtschaftliche Unabhängigkeit ersetzt Entwicklungshilfe: Entwicklung angepasster Produkte, Services und Lösungen für die spezifischen Bedürfnisse von Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern.
9 Neue Bildungsmärkte – Bildung wird flexibler und interaktiver: neue Produkte und Lösungen für den öffentlichen und privaten Bildungsbereich.
10 Nachwachsende Rohstoffe – Pflanzen statt fossiler Ressourcen: Entwicklung, Anbau und Verarbeitung von Pflanzen, die fossile Ressourcen als Energieträger oder Rohstoff ersetzen.
11 Dezentrale Produktion – die Produktion kehrt an den Ort des Konsums zurück: Fertigung von individualisierten Gütern wie auch Aufbau einer regionalisierten Produktion.
12 Urbane Agrarproduktion – Landwirtschaft in der Stadt: Anbau von Nahrungsmitteln in urbanen Ballungsräumen.
Ranking Problemlösungsbeitrag
Beitrag der zwölf Zukunftsmärkte zur Lösung globaler Herausforderungen
1 Bottom-of-the-Pyramid
2 Leistungsfähige Energiespeicher
3 Dezentrale Energieproduktion
4 Dezentrale Produktion
5 Elektromobilität
6 Intelligente Materialien
7 Neue Bildungsmärkte
8 Nachwachsende Rohstoffe
9 Seniorengerechte Infrastrukturen
10 Individuelle Gesundheitsvorsorge
11 Web 3.0
12 Urbane Agrarproduktion
Klaus Burmeister / Andreas Neef / Holger Glockner: Zukunftsmärkte 2020. Umfrage: Welche Märkte haben Zukunftspotenzial? Welche Märkte leisten einen Beitrag zu Lösung globaler Probleme? z_punkt The Foresight Company, Köln 2010, 18 Seiten, Euro.
changeX 11.02.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Wohlstand ist eine kulturelle Leistung – ein Plädoyer für eine umfassendere Sicht auf Wirtschaft. Ein Essay von Erik Händeler. zum Essay
Zukunftskolumne 3: Ein Umsteuern im Energiesystem als Vorbote einer neuen Wirtschaftslogik. zur Zukunftskolumne
Schumpeters Bedeutung. Zur Schumpeter-Biografie von Thomas K. McCraw. zur Rezension
Mit einer Effizienzrevolution kann Deutschland Maßstäbe für die postindustrielle Ära setzen - ein Essay von Ulrike Fokken. zum Essay
Ausgewählte Links zum Thema
-
Klaus Burmeister / Andreas Neef / Holger Glockner: Zukunftsmärkte 2020. Umfrage: Welche Märkte haben Zukunftspotenzial? Welche Märkte leisten einen Beitrag zu Lösung globaler Probleme? z_punkt The Foresight Company, Köln 2010, 18 Seiten.PDF zum Download
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
weitere Artikel des Autors
Max Senges über Peer Learning und Entrepreneurship - ein Interview zum Interview
Hidden Potential von Adam Grant - eine Vertiefung zum Report
"Anerkennen, dass ich mich selbst verändern muss" - Anja Förster im Interview zum Interview