Zukunftsfähige Führung
Lineare Führungsstrukturen können mit den Anforderungen des digitalen Zeitalters nicht mehr mithalten. Eine neue Führungskultur ist nötig - partizipativ, flexibel, Rahmenbedingungen entwickelnd, Eigenständigkeit und Kompetenzen fördernd. Damit sie möglich wird, braucht es aber auch die entsprechenden Strukturen in den Unternehmen. Wie die geschaffen werden können, beschreiben Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann und Heiko Roehl in ihrer Studie Zukunftsfähige Führung.
Die Studie Zukunftsfähige Führung erscheint in drei Teilen.
Teil 1: Herausforderungen
Warum Führung sich verändern muss
Mit dem Begriff der Führung ist ein Versprechen verbunden, das gegenwärtig kaum mehr eingelöst wird. Noch nie war Führung so voraussetzungsvoll wie heute. Die gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Bedingungen des Führens haben sich derart grundlegend gewandelt, dass das Konzept "Führung" selbst inzwischen Erosionserscheinungen aufweist.
Führung als durch Interaktion vermittelte Ausrichtung des Handelns von Individuen und Gruppen auf die Verwirklichung vorgegebener Ziele, die per Definition auf einer asymmetrischen sozialen Beziehung der Über- und Unterordnung basiert,(1) ist in der Praxis vom Aussterben bedroht, weil ihr in den Unternehmen und Organisationen des 21. Jahrhunderts der Lebensraum entzogen wird.
Der Untergang der klassischen Führungskonzepte hinterlässt in Theorie und Praxis eine Lücke. Einerseits sind viele der lange bewährten Konzepte und Verhaltensmuster unwirksam geworden, kritische Auseinandersetzungen mit den heroischen Führungsansätzen(2) haben diese in Theorie und Praxis flächendeckend als unzeitgemäß ausgewiesen. Andererseits bleibt bislang offen, wie die immer komplexeren Führungsaufgaben heute und in Zukunft zu bewältigen sein sollen.
Unsere These ist, dass die Führungslücke in ein Dilemma geführt hat. Die Abkehr von den überkommenen Konzepten resultiert darin, dass in Ermangelung alternativer Modelle und Praktiken trotz steigender Gestaltungsbedarfe in den Organisationen angemessene Führungs- und Steuerungsleistungen immer häufiger ausbleiben.(3) Gleichzeitig wird gegenwärtig in ganz unterschiedlichen Kontexten konzeptuell und praktisch erprobt, wie zukunftsfähige Führung unter den veränderten Rahmenbedingungen konkret aussehen könnte.
Mit dem vorliegenden Papier unternehmen wir den Versuch, die gesellschaftlichen, organisationalen und personenbezogenen Rahmenbedingungen für die Führungsfrage zu umreißen, Konsequenzen für Führungskonzepte und die Praxis abzuleiten und einige Empfehlungen auszusprechen.
1. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Nicht erst die Wirtschafts- und Finanzkrise lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf die Frage, ob unsere vernetzten und ineinander verzahnten Wirtschaftssysteme überhaupt noch führ- und steuerbar sind. Auch innerhalb der Unternehmen beschleicht den Gestaltern sozialer Systeme seit geraumer Zeit ein gewisses Unwohlsein, wenn es um die Formulierung von Zielen und deren Durchsetzung in sozialen Systemen geht: Ist das Ziel richtig gewählt? Produziere ich möglicherweise neue Probleme, wenn ich das Ziel erreiche? Werden die Menschen mitgehen?
In der Öffentlichkeit wächst der Zweifel, ob Wirtschaftsführer überhaupt in der Lage sind, gesellschaftlich relevanten Mehrwert zu schöpfen. Das Verhältnis von Wirtschaft und Politik ist von wachsendem Misstrauen geprägt - zu einseitig seien die jeweils verfolgten Interessen, zu wenig wirksam das gesellschaftliche Engagement. Die Gründe für dieses Zerwürfnis und die abnehmende soziale Akzeptanz der Wirtschaftsführer sind vielfältig.(4) Führung findet heute in einer Gesellschaft statt, die immer unübersichtlicher wird:
♦ Umfelder werden unberechenbarer. Wesentliche gesellschaftliche Rahmenbedingung für Führung ist heute eine Charakterisierung der Organisationsumfelder, die unter dem Kürzel VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity)(5) beschrieben wird. Umfelder und Märkte sind zunehmend volatil, entsprechend müssen Reaktionsmöglichkeiten und -zeiten ausgerichtet sein. Unsicherheit und Komplexität erschweren insbesondere längerfristiges, planvolles Entscheiden. Und schließlich ist die Welt in sich ambivalenter und widersprüchlicher geworden. Wir agieren in einer komplexen Welt, in der die Wirkungen und Zusammenhänge wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns nur sehr begrenzt überschaubar und steuerbar sind - und dennoch und gerade deshalb müssen Organisationen mit einer längerfristigen Perspektive gesteuert werden.
♦ Werte konkurrieren mit Zahlen. Mit den immer dringlicher werdenden Aktionslinien der Weltgemeinschaft (Stichwort: Klimawandel) hat sich der Wertewandel in der Gesellschaft beschleunigt. Der allumfassende Anspruch der Gesellschaft an die Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Handelns lässt sich nicht mehr ignorieren. Wir beobachten eine wachsende Diskrepanz zwischen eigentlichen, sachdienlichen Erfordernissen und einzelbetrieblichen bzw. individualistischen Kosten-Nutzen-Abwägungen und Entscheidungen der Unternehmen.
♦ CSR-Aktivitäten haben häufig nur mehr Feigenblatt-Funktion und sind nicht in zentralen Vorstandsbereichen angesiedelt. Schlüsselfragen der Corporate Social Responsibility bleiben unbeantwortet: Werden die globalen Herausforderungen in zwingend notwendige Entscheidungen und Handlungen umgesetzt? Schlagen sie sich nieder in beobachtbarem Verhalten und in den hierfür notwendigen Steuerungssystemen? Ist Nachhaltigkeit zum Beispiel ein Ziel, das sich in verstärkten Bemühungen um Wiederverwertbarkeit von Produktkomponenten umsetzt und vom Markt honoriert wird? Kreiert ein Unternehmen ernsthaft einen Public Value, der sich beziffern lässt, und ist das ein dezidiertes und gestaltetes Ziel? Der Druck auf die Entscheider in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft steigt.
♦ Bestehende Rollenverteilungen geraten aus den Fugen. Die Netzwerkgesellschaft mischt sich in das Wirtschaften ein. "Prosumenten" lassen die Grenze zwischen Konsumenten und Produzenten verschwimmen. Sie verlangen nach aktiver Teilnahme im Innovationsprozess. Unternehmen und Konsumenten vernetzten sich, Privatpersonen handeln mit Waren auf virtuellen Plattformen. Individuelle Ideenverfechter gründen Start-ups und mobilisieren in kürzester Zeit online private Investoren für ihre Ideen. Wirtschaft und Gesellschaft durchdringen sich, beflügelt durch den einfachen Zugang zu Infrastruktur und Informationen.
♦ Gültige Strukturen lösen sich auf. Die allgemeine Auflösung bisher gültiger Strukturen betrifft nicht nur die Netzwerkökonomie, sondern auch die Gesellschaft in ihrem sozialen Gefüge. Eine inzwischen stark gespaltene Gesellschaft findet in der Vernetzung ihre individuelle Rückversicherung. Interessengruppen bedrängen Solidargemeinschaften, zeitlich begrenzte Verbindungen ersetzen langfristige Verpflichtungen. Das selbstbestimmte Leben als Ziel zieht die eigene Multioptionalität der Loyalität zum Arbeitgeber vor. Gesellschaftlicher und unternehmerischer Kitt sind gemeinsam geteilte Werte, die sich immer wieder neu konfigurieren, und Ziele, die in Bewegung sind. Die Autorität von Institutionen wird hinterfragt. Partikulare Interessengemeinschaften beeinflussen kommunale Entscheidungen. Machtstrukturen bilden sich neu. In der Netzwerkgesellschaft steigen sowohl das Partizipationsbedürfnis als auch der Anspruch an die Gestaltungsfreiheit der eigenen Lebensform.
♦ Die Netzwerkgesellschaft demokratisiert Wissen. Globale und digitale Verfügbarkeit bewirken eine sektorenübergreifend steigende Wissensintensität und weitreichende Demokratisierung des Wissens. Damit entkoppelt sich Wissensakquisition zunehmend von formalen Bildungssystemen. Dank attraktiver Zugänge (sharing, streaming, gaming ...) und erweiterter Kommunikationskanäle (Chat, Social Media, WhatsApp ...) verbinden sich Informationen mit Emotionen und Interessen der Community. Wissen diffundiert über zahlreiche neue Formate in die Gesellschaft und wird zunehmend zur Macht vieler. In der Netzwerkgesellschaft gewinnt derjenige, der sein Wissen mitteilt, gegenüber demjenigen, der es zurückhält. Gleichzeitig führt diese steigende Transparenz der Informationen und des Wissens zu einem erhöhten Legitimationsdruck öffentlich exponierter Personen. Gesellschaftliche Resonanz erfolgt in Echtzeit und ohne Rücksicht auf die publizistischen Gütekriterien institutioneller Absender.
♦ Der Flexibilisierungsdruck steigt. Die rasant wachsende internationale Verflechtung und Arbeitsteiligkeit in der globalen Wertschöpfung führen zu einem raum- und zeitübergreifenden Anpassungsdruck in den Unternehmen und in der Folge in den Privathaushalten. Die Flexibilisierung von Arbeit in ihren räumlichen, zeitlichen und strukturellen Dimensionen steht in enger Interdependenz mit einschneidenden Veränderungen unserer Produktions- und Arbeitstechnologien. Die Formen der Leistungserbringung werden dadurch stark beeinflusst. Arbeitsteilung, Autonomie und Entscheidungsfreiheit des einzelnen Mitarbeiters sowie die erforderliche Ausgestaltung führungsseitiger Entscheidungen und Dispositionen sind im Umbruch. Gleichzeitig bieten sich damit völlig neue Optionen der Stadtgestaltung, zum Beispiel durch urbane Produktionskonzepte und veränderte Mobilitätsströme.
♦ Grundlegend neue Geschäftsmodelle entstehen. In der Netzwerkgesellschaft werden ganz neue und andere Geschäftsmodelle möglich. Diese durch Vernetzung und Digitalisierung geprägten Möglichkeiten verändern große Bereiche unserer Volkswirtschaft und stellen bisherige Branchenkompetenzen, Ertragsmöglichkeiten, Ressourcenkombinationen, Erwerbsbiographien und Leistungsprofile grundlegend infrage. Neue Marktakteure erfinden auf Grundlage der Vernetzung die Spielregeln ganzer Branchen neu.
Generationenkonflikt zum Werteverständnis von Arbeit
Eine junge, medienaffine Generation praktiziert bereits die soziale Vernetzung, die der Forderung nach Informationstransparenz und Wissenswettbewerb entspricht - und prallt im Büro auf zwei Generationen, die noch im Modus der Industrialisierung ausgebildet und unter starkem Wettbewerbsdruck am Arbeitsplatz sozialisiert wurden. Als Konsequenz zeichnet sich ein Generationenkonflikt ab, der sich nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Medienkompetenz, sondern auch entlang eines unterschiedlichen Werteverständnisses abzeichnet.
Der berufliche Erfolg der Generation X und der Babyboomer beruht darauf, dass sie sich und ihr Lebenskonzept häufig den Arbeitsanforderungen untergeordnet haben. Bei Mehrbelastung führt diese Abhängigkeit zu Frustration, was in minderer Leistungsfähigkeit und mangelnder Wertschätzung resultiert und bis zur inneren Kündigung gehen kann.
Die Digital Natives dagegen sind unabhängiger. Sie spüren durch den Fachkräftemangel weniger Anpassungsdruck und fordern Partizipation auf Augenhöhe. Sie beurteilen Arbeitsaufträge nach Sinnhaftigkeit und persönlichem Lerninteresse und verlassen das Unternehmen, wenn sie beides nicht erfüllt sehen. Nicht zuletzt waren ihre eigenen Eltern bestes Vorbild dafür, wie wenig freudvoll und familienvereinbar ein Workaholic-Leben ist. Das Belohnungskonzept für die in der Industrieökonomie sozialisierten Fachkräfte (Babyboomer und Generation X) sind Machtbefugnisse und Privilegien.
Das Belohnungskonzept für die Netzwerk-Generation hingegen ist die aktive Mitwirkung an einem interessanten Projekt und die Wertschätzung der Community. So lehnen viele Digital Natives den Arbeitsethos der älteren Mitarbeiter ab, der auf der Grundlage von Fleiß und Gehorsam steht. Für sie zählen stattdessen Erfahrung und Respekt — auf Augenhöhe. Sie wollen schneller eigenverantwortlich arbeiten, statt kritischer Kontrolle wünschen sie konstruktives Feedback. Die Vorgesetzten der Generation X und älter, die weise genug sind, den jungen Fachkräften das zu ermöglichen, was ihnen selbst bisher im Arbeitsalltag verwehrt war, profitieren am Ende von einer souveränen Belegschaft, bei der es kein Lippenbekenntnis ist, dass Jung und Alt aktiv mitwirken, dass jeder mit seinen individuellen Fähigkeiten für die Gemeinschaft zählt.
2. Organisationale Einflussfaktoren
Der gesellschaftliche Wandel setzt sich in den Unternehmen fort. Organisationen befinden sich auf struktureller, prozessualer, kultureller und personaler Ebene in einem tief greifenden Umbruch. Theoretisch sollten Führung und Führungssysteme diesen wesentlichen Rahmenbedingungen angemessen sein. Praktisch bleiben sie hiervon jedoch häufig seltsam unberührt.
♦ Die Art, wie wir arbeiten und wo wir arbeiten, befindet sich im Wandel. Das Internet und digitale Technologien, allen voran auch die mobile Nutzung von Daten und Informationen, gestalten nicht nur unseren Alltag neu, sie führen auch zu tief greifenden Veränderungen in der Wirtschaft und in der Arbeitswelt: Im Kontext der Digitalisierung entstehen neue Formen der Interaktion von Menschen untereinander, aber auch mit Datenwelten und der physischen Umgebung. Das "Internet der Dinge und Dienste" entsteht, das künftig Versorgungsleistungen im Alltag und Arbeitsprozesse dank einer Mensch-, Maschine- und Umfeldvernetzung kundenindividuell und automatisiert erfolgen lässt, und mit ihm bilden sich neue "smarte" Services. Dies führt zu weitgehend digitalisierten Arbeitskonzepten und -prozessen. Nicht nur in den wissensintensiven Prozessen in Büro und Verwaltung, sondern auch in der Industrie und in vielen Dienstleistungsbereichen verändern sich durch die Digitalisierung Arbeitsinhalte und -formen. Roboter werden mit Menschen kooperieren. Neue Formen der Zusammenarbeit und der besseren Ergonomie werden entstehen, in den Fabriken, in der Logistik, aber auch in den personenorientierten Dienstleistungen. Das "Internet der Dinge" zieht auch zunehmend in produzierende Prozesse ein und realisiert dort auf der Basis sogenannter cyber-physikalischer Systeme ganz neue Möglichkeiten individualisierter Produktionskonzepte und eine verstärkte kooperative Selbstorganisation der Mitarbeiter.6 Was in hoch automatisierten Bereichen wie der Elektronikfertigung schon Standard ist, lässt sich mit den heutigen Möglichkeiten bis auf Losgröße- 1-Bereiche übertragen. Sowohl die räumlich-zeitliche Distanz zwischen Führungsebene und Geführten als auch die Potenziale dieser vernetzten Selbstorganisation stellen präsenz- und kontrollorientierte Führungsmechanismen deutlich infrage.
♦ Die Automatisierung wird einen erheblichen Anteil an Arbeitsplätzen ersetzen. Die zunehmende Vernetzung von Angebot und Nachfrage hinsichtlich Lokalisierbarkeit, Auswertbarkeit und Kombinierbarkeit überall entstehender Kommunikations-, Positions- und Veränderungsdaten bietet nicht nur neue Geschäftsmöglichkeiten, die umfassend unter dem Schlagwort von "Big Data" zusammengefasst werden, sondern sie wird auch die Organisationsprozesse weiter optimieren. Hier lohnt ein kritischer Blick: Es stellt sich die Frage, wer in Zukunft welche Arbeiten überhaupt noch erledigen wird.
Laut einer Studie der University of Oxford wird die Automatisierung bis zu 47 Prozent der Arbeitsplätze in Büro und Verwaltung, Dienstleistung und Verkauf ersetzen. Insbesondere die Algorithmen werden den Büro- und damit auch den Alltag der Führungskräfte verändern, weil sie in naher Zukunft aus sekundenschnellen Analysen Entscheidungen ableiten könnten. Neben Sachbearbeitungsvorgängen geraten insbesondere wissensintensive Tätigkeiten der Analyse, Synthese und Interpretation unter Druck; sie können möglicherweise durch intelligente Algorithmen bereitgestellt werden.
Auf Basis eines Rahmenvertrages können ganze Einkaufsabwicklungen und -entscheidungen automatisiert getroffen werden. Auch Marktbeobachtungen, Erfolgsmessungen und Analysen, heute noch durch das Management erstellt, könnte die intelligente Software aus vernetzten System- und Umfelddaten viel schneller in anschauliche Infographiken übersetzen und den entsprechenden Verantwortlichen in Quasi-Echtzeit aussteuern. Vermeintlich sichere Jobs werden so zunehmend substituier- und verlagerbar. Damit drohen auch Wissensarbeiter zu den Verlierern des technischen Fortschritts zu werden, die in bisherigen Rationalisierungsdiskussionen als weitgehend ungefährdet gelten.
♦ Die menschliche Arbeitsleistung bedarf einer Neudefinition. Die beschriebene Algorithmisierung und Automatisierung führt uns schonungslos vor Augen, wie intelligent inzwischen Sensoren und Softwares kommunizieren und wie wenig sich der Wissensarbeiter dagegen in seinen Fähigkeiten weiterentwickelt hat. Die Herausforderung ist nun, die Arbeitskräfte generell und die Wissensarbeiter im Speziellen mit den Systemen produktiv in Beziehung zu setzen. Welche Fähigkeiten sie dabei als humane Wesen trainieren müssen, um sich gegenüber dem Algorithmus künftig zu qualifizieren, genau diese Definition und Qualifikation ist die zentrale Aufgabe, deren Lösung sich die Führungsriege nun annehmen sollte, um ihrer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern gerecht zu werden. Das bedeutet in Abgrenzung zu den Algorithmen nicht nur eine neue Definition dessen, was als Kompetenzen und Tätigkeit beim Wissensarbeiter verbleibt, sondern auch, welche Aufgaben Führungsorgane nicht mehr und stattdessen zu erfüllen haben.
♦ Das Prinzip der Selbstorganisation könnte viel breiter greifen. Das Konzept der "Industrie 4.0" als Idee der zunehmenden Vernetzung von Mensch und Maschinen sowie unterschiedlichster adressierbarer, kommunikationsfähiger Objekte im Sinne der Cyber Physical Systems birgt für Unternehmen Chancen, die in der zunehmenden Dezentralisierung und kleinräumigeren Abstimmung aller Akteure liegen. Dies ermöglicht den Menschen (im positiven Fall) eine höhere Autonomie und Flexibilität, - ohne dass es klassischer Anweisungen "von oben" bedarf.
Wissensarbeiter in indirekten Bereichen, die aufgrund der Digitalisierbarkeit ihrer Leistungen und Zwischenprodukte zunehmend flexibilisiert arbeiten können, organisieren ihre Arbeit eigenständig und selbstorganisiert, zumal sie als Experten ihres Faches auch keiner disziplinarisch- fachlichen Anweisung mehr bedürfen. Brauchen solche Mitarbeiter überhaupt noch Führungskräfte, oder regeln sie das nicht besser allein unter Zuhilfenahme leistungsfähiger Abstimmungs- und Kommunikationstechnologien? Ermöglicht in vielen Organisationen nicht längst eine steigende Zeitsouveränität von Mitarbeitern und Projektteams den Wechsel von der Anwesenheits- zur ergebnisorientierten Zeitkultur?
♦ Die Entgrenzung der Organisation weitet sich aus. Während die Organisationen des letzten Jahrhunderts noch durch klare zeitliche und räumliche Grenzen gekennzeichnet waren, lassen sich Organisationen der Netzwerkökonomie eher als offene Wertschöpfungsnetzwerke charakterisieren. Diese Netzwerke verbinden unterschiedliche Kompetenzen und ermöglichen den sehr flexibel eingebundenen Kooperationspartnern Win-win-Situationen. Das kann zum Beispiel einen zeitlichen Vorsprung gegenüber Wettbewerbern bei einer produktionstechnischen oder logistischen Herausforderung bedeuten, weil in der Netzwerkökonomie die Erfüllung des Kundenwunsches höher rangiert als die Auslastung der eigenen Fertigungs- oder Mitarbeiterkapazitäten.
Das Netzwerken und die flexible Einbeziehung externer Spezialisten für bestimmte Projekte oder zeitlich befristete Kooperationen hat daher auch Auswirkungen auf die Inhouse-Beschäftigungsverhältnisse, auf Arbeitszeiten und Prozesse, die sich parallel zunehmend flexibilisiert aufstellen werden. Ressourcen werden "aus der Cloud" engagiert. Führungslinien sind in diesen komplexer werdenden Netzwerk- und Organisationsmodellen notwendigerweise immer stärker gesplittet und mehrdeutig.
In vielen modernen Organisationsmodellen sind Weisungsbefugnisse für einzelne Mitarbeiter je nach Rollen auf verschiedene Führungskräfte verteilt. So wird es gerade in immer globaler arbeitenden Unternehmen üblich, ein- und derselben Führungskraft für eine bestimmte (örtlich nähere) Gruppe von Personen disziplinarische Führungsfunktion zu geben und im Sinne der internationalen Virtualisierung von Kompetenzen gleichzeitig weltweit verteilte Experten des Unternehmens fachlich zu steuern, während deren disziplinarische Führung wiederum einer vor Ort agierenden Führungskraft obliegt - eine Situation, die nicht nur die Führungsspannen als solche dramatisch nach oben treibt, sondern - wie alle matrixähnlichen Strukturen - sehr häufig an ungenauen Verantwortlichkeiten und Loyalitätskonflikten zu scheitern droht.
Steuerung erfolgt immer öfter über lateral aufgestellte Einheiten, die häufig Verantwortung für Wertschöpfung übernehmen, auf die sie keinen einfachen disziplinarischen Zugriff haben. Zudem werden anspruchsvolle Aufgaben zunehmend in bereichsübergreifende Projekte verlagert.
♦ Geschwindigkeit zählt. Für die digitale Wertschöpfung sind die bisherigen Organisationsabläufe zu langsam. Die lineare Wertschöpfung der Industriekultur, wonach ein Unternehmen von der Erstellung bis zum Vertrieb seiner Produkte in hoher Fertigungstiefe die gesamte Wertschöpfung abdeckte, erfolgt heute durch IT- und Kommunikationsschnittstellen stärker kundenorientiert, automatisiert und in Partnerschaften verzweigt. Die im digitalen Kontext messbare Marktresonanz bedeutet für Anbieter von Produkten, Services, Informationen und Medien, dass sie die Nähe zum Konsumenten künftig über dessen inhaltlichen, zeitlichen und räumlichen Kontext aufbauen müssen, was eine zunehmende Vernetzung der Unternehmen nach außen bedeutet. Die an Unternehmen herangetragenen Kundenanforderungen verlangen hohe Flexibilität und Innovationskraft. Dies erschwert langfristige Planungen und erfordert einen flexiblen Haushalt an Kompetenzen.
♦ Eine neue Kultur des Teilens entsteht. Kooperation, Offenheit und das Teilen von Ressourcen werden im Zentrum zukünftiger Wertschöpfung stehen. Wenn die Anreize stimmen, kann die digitale Informationstransparenz auch intern helfen: Die Transparenz von Prozessen, Daten und Fakten verhindert Doppelarbeit, sichert Vergleichbarkeit und sensibilisiert dafür, Zusammenhänge zu erkennen und Projektverläufe für eine effizientere Kollaboration nachvollziehbar zu machen.
Die technische Infrastruktur der transparenten Kommunikation gibt es längst. Die Social Business Softwares nutzen Microblogging und firmieren zum Beispiel unter Namen wie Jive, Yammer, Sharepoint oder Communote. Hier ist es vor allem die Verbindung von sozialer/privater und geschäftlicher Kommunikation, die den Unternehmen und Sozialpartnern noch Schwierigkeiten bereitet. Schon längst könnte der Zugang zur technischen Infrastruktur, zu den Arbeitsmaterialien und Kollegen so selbstverständlich und simpel wie eine Google-Suche sein.
Die Schizophrenie des Führens: Das Zwei-Welten-Modell
Das klassische, autoritäre Selbstverständnis versteht Führung als Durchsetzen von Zielen. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass sich Veränderungen gezielt steuern lassen. Grundlage dieser Überzeugung ist die Vorstellung, dass die Beteiligten ein gemeinsames Bild von diesem Ziel haben, dessen Vorstellung sich über Daten und Fakten für alle gleichermaßen als evident und vernünftig erweist. Dieser klassisch-betriebswirtschaftlichen Sichtweise, die unterschiedliche lokale Rationalitäten aufseiten der Beteiligten ausblendet, folgen noch immer die meisten strategischen Berater, viele zahlenfixierte Controller und alle dazugehörigen datengetriebenen Steuerungssoftwares.
Auch der Machbarkeitsglaube von Individuen, die unter dem Druck der Eigenverantwortung für ihr Schicksal stehen, wirkt auf die stringente Zielverfolgung ein. Noch gravierender als der partielle Rückfall in alte Verhaltens- und Hierarchiemuster wird sich im Transformationsprozess jedoch die Zahlen- und Faktengläubigkeit auswirken. Aufgrund der ständigen Reportpflicht großer Aktienkonzerne und der verbesserten Datenerhebung in quasi Echtzeit sind Managemententscheidungen "objektiven" Planungslagen und permanenter Erfolgskontrolle ausgesetzt - sofern nicht bereits die Software und der Algorithmus selbst die Entscheidungen fällen.
Die andere Weltsicht versteht Führung als Diskussionsangebot bei der Suche nach der bestmöglichen Lösung (für alle). Das eine Bild oder den einen Plan gibt es nicht mehr - die Lösung entsteht erst aus den vielen Vorstellungen und Bildern der am kollaborativen Gruppenprozess Beteiligten. Durch die intendierte Partizipation sind alle in der Verantwortung und bleiben auch nach der Lösungsfindung motiviert für die Durchführbarkeit und Realisierung. Die Faktenlage ist der qualitativen Lösungsfindung untergeordnet und bleibt für die Entscheidung, Beibehaltung oder Korrektur des Zielkonsenses relevant.
Dieser zurückgenommene und diskursive Führungsstil entspricht dem Wunsch nach Mitbestimmung und der Absicht, das Eigenengagement der Mitarbeiter zu erhöhen. Die Führungskraft sieht sich dabei bisweilen konträren Erwartungshaltungen gegenüber und muss ggf. selbst so manche eingefahrene Linie (die sie gegenüber den Mitarbeitern berechenbar machte) korrigieren. Das führt unweigerlich zu Unsicherheiten und Kollisionen. Die Führungskraft ist überfordert: Zum einen gilt es die alten Sehnsüchte nach Sicherheit, Status und Entlastung zu bedienen oder zu kompensieren, zum anderen geht es um die Vermittlung einer diskursiven Arbeitsweise samt der Eröffnung neuer Chancen für möglichst jeden Einzelnen.
Wenn alle "mitgenommen" werden sollen, muss sich die Führungsperson quasi "zerreißen" und läuft Gefahr, als Protagonist des Wandels selbst unglaubwürdig zu werden. Schreitet sie dagegen mit überzeugten Pionieren als Vorbild für die neue Arbeitskultur voran und unterstützt nur diejenigen, die willentlich mitziehen, droht die Abspaltung derer, die sich durch die Neuerungen schlechter gestellt oder überfordert fühlen.
Es bleibt sorgfältig zu prüfen, ob dieser konsensuale Führungsstil für alle Abläufe und Wissensarbeiter der geeignetste ist. Wie stark sich der neue Führungsstil zurücknimmt, hängt mit der Organisationsform, ihrer Belegschaft, dem Spezialisierungsgrad, der Kunden- bzw. Marktausrichtung und dem Grad der digitalen Vernetzung zusammen.
Obwohl die Führung mit vorgegebenen Lösungen weder der insgesamt reduzierten Planbarkeit noch dem emanzipierten Gesellschaftsbild entspricht, kann sie für schnelle Entscheidungen in bisher hierarchischen Strukturen ihre Zweckmäßigkeit behalten. Mitarbeiter, die autoritär sozialisiert wurden, fragen nach Zuständigkeiten und eindeutigen Führungsimpulsen. Freude an der Verantwortung ist keine anthropologische Konstante. Das Fehlen vorgegebener Lösungswege oder einer abgesicherten Methode für das Vorgehen bei komplexen Fragestellungen verlangt nach Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, nach fachlicher Erfahrung und kreativer Flexibilität, die sich mit dem Wechsel des Führungsstils nicht einfach einstellen.
Hierarchisch legitimierte Führung, die auf der Durchsetzung von Zielen basiert, kann unter bestimmten Umständen also weiter sinnvoll sein. Noch mehr: Ein plötzlicher Wechsel hin zu einem partizipativ-transformationalen Führungsstil kann in einem autoritär sozialisierten Kontext zu einer erheblichen Verschlechterung der Gesamtperformance führen. Es wird also auch in Zukunft eine - kontextbestimmte - Berechtigung für beide in diesem Papier konturierten Führungswelten geben.
3. Personenbezogene Anforderungen
Die Veränderung von Gesellschaft und Organisationen steht in einer Wechselwirkung mit den Veränderungen der Menschen in den Organisationen. Arbeitsplätze sind vielerorts Lebensräume für Menschen geworden, an denen sie auf ihre gewohnten Freiheiten nicht mehr verzichten wollen. Die Generation Y bietet einen Vorgeschmack auf das, was da kommen wird: Selbstbewusste, zielorientierte Menschen, die sich mit hohen Erwartungen an Gestaltungsfreiheit, Eigenverantwortung und Entlohnung an die Arbeit machen.
Auch die Menschen in den Organisationen haben sich verändert. Der Teil der Belegschaft, der guten Willens am Morgen sein "Gehirn am Werkstor" abgibt, schrumpft. Die Zahl der Menschen, die sich hingegen weigern, Arbeit nicht auch als Teil des Lebens zu sehen, steigt. Dies hat für die Führung von Menschen wesentliche Auswirkungen.
♦ Personalinstrumente unterstützen Partizipationserwartungen. Mit dem Einzug von Aufwärts- und 360-Grad-Feedbacks ist personenbezogene Leistungsbewertung längst keine Einbahnstraße mehr. Der Anspruch an Führung verwirklicht sich in den Partizipationsinstrumenten eines modernen Personalwesens. Mitarbeiterbefragungen, Feedbacks und Teamrunden nivellieren wirksam unliebsame Asymmetrien in den Führungsbeziehungen. Damit ist der Versuch unternommen, Leistungstransparenz auf allen Ebenen zu schaffen.(7) Neben den unternehmensbezogenen haben auch die privaten Handlungsoptionen der Menschen zur Reduzierung der Asymmetrie hierarchischer Führungsbeziehungen zugenommen.
♦ Die Steuerung von Wissensarbeit wird anspruchsvoller. Der Siegeszug der Wissensarbeit hat für die Steuerung der Wertschöpfung eine Reihe unbeantworteter Fragen aufgeworfen. Die Qualifikations- und Tätigkeitsmuster heutiger Wissensarbeit und die technischen Möglichkeiten vernetzter Kommunikation mittels sozialer Medien fördern laterale Koordination und Kooperation, zunehmende Projektorganisation und Temporabilität von Arbeitsbezügen. Die Eigenständigkeit erfolgreicher Wissensarbeiter stellt die klassischen Steuerungsinstrumente auf eine harte Probe. Die kontextuelle Einbettung des Wissens erschwert die Zielsetzung und -überprüfung. Schon Peter Drucker formulierte: "Der Wissensarbeiter ist der, der als einziger in der Organisation weiß (und beurteilen kann), ob er seine Sache gut gemacht hat." Das bedeutet im Umkehrschluss: Nicht die fachliche Beurteilung durch die Führungskraft kann in dieser Führungsbeziehung im Vordergrund stehen, sondern die Orientierung, das Sparring, die Vernetzung der Mitarbeiter untereinander sind hier die wesentlichsten Führungsaufgaben. Und: Die Steuerung von Wissensarbeit ist auf eine angemessene Vertrauensbasis angewiesen.
♦ Es wird wichtiger, Widersprüche auszuhalten und Rollen zu klären. Die komplexer werdenden, entgrenzten Organisationsmodelle führen auf der Personenseite zu mehrdeutigen Rollenzuweisungen, die steigende Anforderungen an die Ambiguitätstoleranz von Führungskräften und Belegschaften stellt. Es wird immer wichtiger, auch in widersprüchlichen Interessenkonstellationen wirksam handeln zu können und je nach Kontext bestimmte Rollenaspekte in den Vordergrund zu stellen. Mitarbeiter eines anspruchsvollen internen Dienstleistungsbetriebes etwa müssen flexibel zwischen Service- und Kontrollrollen wechseln können.
♦ Für den Menschen im Unternehmen steigt der Qualifikationsdruck. Fach- und Führungskräftemangel führen ebenso wie der steigende Qualifikationsdruck zu einem intensivierten internen Wettbewerb des Wissens. Zwar wird die Dokumentation des Wissens mit dem jeweils persönlichen Absender an zentralen Schnittstellen immens wichtig, um das Wissen im Unternehmen zu halten. Doch macht es die sinkende Halbwertszeit des Wissens erforderlich, dass Qualifizierung schnell, dezentral und selbstorganisiert erfolgt. Kompetente Belegschaften sind immer häufiger Belegschaften, die sich selbstständig permanent weiterbilden. Insbesondere in jungen Branchen führt dies zu permanenten Verschiebungen von kompetenzbasierten Machtgefügen. Die Unterstützung der individuellen Befähigung der Mitarbeiter wird zur zentralen Führungsaufgabe.
Dabei ist fraglich, ob die Personalentwicklung oder die "People Manager" in Matrixstrukturen tatsächlich noch über genügend Einblick in die jeweilige Arbeitsweise und inhaltliche Kompetenz verfügen, um eine adäquate Befähigung individuell zu gewährleisten. Top-down-verordnete uniforme Weiterbildungsprogramme erscheinen immer weniger zielführend. Am besten lernen gemischte Kleingruppen bei der gemeinsamen Lösungsfindung voneinander.
Die Feedbackkultur der Digital Natives und die Möglichkeit, Referenzen bis in die sozialen Netzwerke zu kommunizieren, bindet nicht nur die Qualifikation der Wissensarbeiter unweigerlich an das Individuum. Diese Anforderung wird noch unterstrichen durch die immer größere Dringlichkeit einer tatsächlich lebenslangen Mitarbeiterentwicklung, die ebenfalls individualisierte Förderung und Formate benötigt und im täglichen Tun verankert sein muss.
♦ Der Wunsch nach Selbstverwirklichung endet nicht mehr am Werkstor. Die Ansprüche an die Organisation und Führung von Arbeit steigen kontinuierlich, wenn Menschen ganz im Sinne raumgreifender Ideologien der Selbstverbesserung das Lebensglück in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Hierzu gehören auch steigende Erwartungen an die eigene Wirksamkeit in den Organisationen. Die Bewertung von Arbeit nach ihrer Persönlichkeitsförderlichkeit ist kein Privileg von Höchstqualifizierten mehr.
Die selbstbewusste Gestaltung der Work-Life-Balance schließlich geht immer häufiger mit einer Posteriorisierung beruflicher Aspekte des Lebens einher. Insbesondere die Generation der Digital Natives stellt klassische Autoritätsmuster und Werte zunehmend infrage. Teilhabe und Beteiligung sind Forderungen, die auch in anderen gesellschaftspolitischen Ebenen gefordert und praktiziert werden.
Schlüsselherausforderungen für Führung und Führungssysteme
Die Zeiten, in denen Führungskräfte in klar definierten und eng umgrenzten Räumen einer eindeutig mandatierten Weisungsbefugnis anhand eindeutig formulierbarer Ziele agieren konnten, sind endgültig vorbei. Die wesentlichen Bestimmungsstücke des klassischen Führungsmodells stimmen nicht mehr.
♦ Die veränderten Rahmenbedingungen des Führens erschweren eine strategische Gesamtorientierung der Organisation. Auch die Führung der Führung gerät in der VUCA-Welt zunehmend in eine Orientierungskrise. Gleichzeitig wird Führung in dieser Welt wichtiger denn je.
♦ Führungskräfte sind zunehmend mit Aufgaben konfrontiert, in denen sie keine eindeutige Weisungsbefugnis mehr haben, gleichwohl aber für die Leistungen anderer verantwortlich sind. Hierzu gehören insbesondere die bereichsübergreifenden Projektaufgaben, in denen Interessengruppen und deren Handlungen auf ein gemeinsames Projektziel orientiert werden müssen.
♦ Die Krise der strategischen Planung ist auch eine Krise der Zielsysteme in Organisationen - und damit eine Krise der Führung. Organisationales Lernen hat vielerorts aufwendige Planungs- und Zielsetzungssysteme ersetzt.
♦ Die Partizipations- und Steuerungsansprüche von Menschen und Mitarbeitern in Unternehmen erlauben kaum mehr asymmetrische Führungsbeziehungen im klassischen Sinne.
♦ Führung kann kaum mehr im Alleingang stattfinden. Erfolgreiche Führung ist Produkt kollektiver Entscheidungsfindung - allein schon, um angemessene Redundanzen für die Bewältigung der zunehmend komplexen Aufgaben zu schaffen.
♦ Mit der Entgrenzung der Organisations- und Arbeitswelt wird Führung an der Organisationsgrenze zur zentralen Herausforderung. Hierbei geht es zunehmend auch um das Einbeziehen von Interessengruppen von außerhalb der Organisation.
♦ Der Siegeszug der Wissensarbeit stellt asymmetrische Führungsbeziehungen und die damit verbundenen einseitigen Zielsetzungsprozesse auf eine harte Probe.
♦ Die Anreizsysteme sind im Umbruch. Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Verantwortungszuweisung und andere Faktoren werden zur alternativen Währung, mit der Leistungen kompensiert werden.
Vom Sonder- zum Normalfall: Interdisziplinäre Projektarbeit
Interdisziplinäre Projektarbeit in sich selbst organisierenden Teams ist die Arbeitsform der neuen Arbeitskultur.
Der einfachste Weg, seine Belegschaft in die neue Arbeitskultur zu führen, ist eine freiere Form der Projektarbeit. Sie erfolgt jenseits des Tagesgeschäfts, denn sie soll neue Freiheiten in der Arbeitsweise ermöglichen und interessierte Mitarbeiter zu mehr Eigeninitiative und Unternehmergeist führen. Anhand übergeordneter Zielsetzungen werden Teams künftig selbst über Ressourcen, Fachkräfte, Honorare und Urlaubstage entscheiden und damit im offenen Wettbewerb mit anderen Teams stehen. Die Teamkollegen werden anhand ihrer inhaltlichen, strategischen und sozialen Kompetenzen ausgewählt und nach jedem Projekt von allen Mitwirkenden beurteilt.
Die Führungskraft koordiniert die Projektteams, liefert das Briefing, definiert den Rahmen, stellt Ressourcen und Budget. In ihrer Personalverantwortung für das Projekt stellt sie sicher, dass die Teamstruktur hinsichtlich Altersstruktur und Erfahrung gut gemischt ist, diskutiert mit der Gruppe Rahmen und Ziele des Auftrags und erfährt vom Team die persönlichen Leistungsziele des Einzelnen, die er in die Projektarbeit einzubringen plant. Diese Beiträge gleicht sie mit den Mitarbeiterprofilen und darin hinterlegten Zielvereinbarungen ab, sodass die Teammitglieder nicht nur für das Projekt, sondern auch für ihre eigene Entwicklung arbeiten. Die Führungskraft fixiert gemeinsam mit der Gruppe die Zeitplanung und zieht sich dann komplett aus dem Projekt zurück. Sie erstellt weder einen organisatorischen Ablaufplan oder eine inhaltliche Roadmap noch gibt sie eine bestimmte Methodik vor. Dies ist alles Aufgabe des Teams, das sich innerhalb des Rahmens selbst koordiniert und eigenständig Lösungen erarbeitet.
Das Team wählt seine eigene Teamleitung und entscheidet selbstständig, wo die Teammitglieder arbeiten, wann sie sich zu "Schulterblicken" treffen und welche Methoden sie zur Lösungsfindung anwenden möchten. Die koordinierende Führungskraft bleibt als Ansprechpartner bei Rückfragen oder Problemen ansprechbar, sollte aber von sich aus bis zur Abschlusspräsentation nicht mehr einwirken. Eine Kontrolle über Arbeitsfortschritt und Leistungsbeitrag ist über die vernetze Kollaborationsplattform ebenso möglich wie das Kommunizieren wichtiger Ereignisse oder Veränderungen an alle Projektpartner.
Die Führungskraft hat erstmals bei der internen Projektpräsentation des Teams die Möglichkeit, Feedback zu geben. Sie sollte dabei inhaltlich lediglich überprüfen, wie gut das Ergebnis sich mit dem Briefing deckt. Wichtig ist zu erfahren, welche Methoden sich bewährt haben und ob alle Teammitglieder ihren Zielvereinbarungen entsprechen konnten. Auch das offene Eingeständnis von Fehlern sollte seitens der Führungskraft als Lernkurve für alle respektvoll erörtert werden. Abschließend geben sich die Mitarbeiter gegenseitiges Feedback und hinterlegen eine abgestimmte Beurteilung in ihren virtuellen Profilen. Es steht dann der beurteilten Person frei, das Feedback samt Referenz auch in ihr Netzwerkprofil außerhalb des Unternehmens zu übertragen, um ihre Kompetenzen auch für andere Aufträge sichtbar zu machen und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten mit ihrer Person zu verbinden.
Teil 2 erscheint in der kommenden Woche. Das Literaturverzeichnis und eine ausführliche Autorenvorstellung erscheinen als Anhang zu Teil 3. Mit Teil 3 erscheint auch eine Gesamtfassung der Studie als PDF.
Quellennachweise
(1) Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (2014) unter dem Stichwort "Führung".
(2) Dirk Baeckers Werk "Postheroisches Management" (1994) markiert einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Führungsthema in der Organisationssoziologie. Es ist ein beredter Abgesang auf die klassischen Führungstheorien.
(3) Hierfür spricht - stellvertretend für eine Reihe aktueller empirischer Arbeiten - die vom GfK Verein & St. Gallen Symposium publizierte Studie "Global Perspectives Barometer 2014 - Voices of the Leaders of Tomorrow" (2014), im Rahmen des 44. St. Gallen Symposiums "The Clash of Generations".
(4) Konstatiert wird zudem eine mangelnde Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft; stattdessen herrsche wechselseitiges Desinteresse, teilweise sogar Antipathie (vgl. Leipprand et al. 2012: 4).
(5) Vgl. aktuell und zusammenfassend zu dem aus den 1980er Jahren stammenden Konzept VUCA: Probst und Bassi 2014.
(6) Vgl. Bauer und Hofmann 2014: 39.
(7) Thomas Sattelberger hat unlängst postuliert, dass sich Führungskräfte demnächst basisdemokratischen Wahlprinzipien stellen sollten - eine Umkehrung bisheriger Prinzipien der Führungskräfteentwicklung. www.inqa.de/DE/Lernen-Gute-Praxis/Themenwochen/ Personalfuehrung/2014-01.
Zitate
"Die gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Bedingungen des Führens haben sich derart grundlegend gewandelt, dass das Konzept "Führung" selbst inzwischen Erosionserscheinungen aufweist." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Gegenwärtig wird in ganz unterschiedlichen Kontexten konzeptuell und praktisch erprobt, wie zukunftsfähige Führung unter den veränderten Rahmenbedingungen konkret aussehen könnte." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Führung findet heute in einer Gesellschaft statt, die immer unübersichtlicher wird." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Für die digitale Wertschöpfung sind die bisherigen Organisationsabläufe zu langsam." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Führungskräfte sind zunehmend mit Aufgaben konfrontiert, in denen sie keine eindeutige Weisungsbefugnis mehr haben, gleichwohl aber für die Leistungen anderer verantwortlich sind." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Führung kann kaum mehr im Alleingang stattfinden. Erfolgreiche Führung ist Produkt kollektiver Entscheidungsfindung." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
"Mit der Entgrenzung der Organisations- und Arbeitswelt wird Führung an der Organisationsgrenze zur zentralen Herausforderung." Birgit Gebhardt, Josephine Hofmann, Heiko Roehl: Zukunftsfähige Führung
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Die Studie "Zukunftsfähige Führung" kann auf der Website der Bertelsmann Stiftung als PDF heruntergeladen werden:Zukunftsfähige Führung (PDF)
Autorin
Birgit GebhardtBirgit Gebhardt führt Trends zu plausiblen Vorstellungen von Zukunft zusammen. Sie war fünf Jahre lang Geschäftsführerin des Trendbüros. Mit ihrem eigenen Netzwerk berät sie seit Oktober 2012 bekannte und neue Kunden auf ihren Wegen in die vernetzte Arbeitskultur. Sie ist Mitglied der Expertenkommission der Bertelsmann-Stiftung "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland". www.Birgit-Gebhardt.com www.New-Work-Order.net
Autorin
Josephine HofmannDr. Josephine Hofmann leitet seit 10 Jahren das Kompetenzzentrum Business Performance Management am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Daneben ist sie seit vielen Jahren als Dozentin bzw. Lehrbeauftragte an der Universität Konstanz, der Hochschule der Medien in Konstanz sowie der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg tätig. Sie ist Autorin einer Vielzahl von Fachveröffentlichungen und Referentin auf einschlägigen Fachveranstaltungen sowie Mitglied der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann-Stiftung.
Autor
Heiko RoehlProf. Dr. Heiko Roehl war Mitarbeiter des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und berät mit seinem Unternehmen Kessel und Kessel Unternehmen bei ihrer Organisationsentwicklung. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Begleitung von Organisationen, die sich in tiefgreifender Veränderung befinden. Heiko Roehl ist Honorarprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und lehrt Organization Studies an der Universität Hildesheim. Er ist zudem Mitglied der Expertenkommission der Bertelsmann-Stiftung "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland".