Ich in deiner Haut
Kulturen der Empathie. Das neue Buch von Fritz Breithaupt.
Von Anja Dilk
Bestimmten früher Konkurrenz und Kampf das Bild vom Menschen, hat sich längst der Wind gedreht. Längst gilt Empathie als das entscheidende Wesensmerkmal unserer Spezies. Nur, wie wählen wir aus, mit wem wir mitfühlen und mit wem nicht? Ein Literaturwissenschaftler sagt: Wir verstehen, indem wir die Handlungsmöglichkeiten eines anderen für uns nacherzählen, uns in die Haut des anderen denken: so, als würden wir aus dessen Augen schauen. / 09.06.09
Fritz Breithaupt CoverDie Geschichte ist zum Gruseln. Ein Student wohnt in einem kleinen Zimmer. In diesem Zimmer gibt es eine Maus. Nachts kann er sie hören, sie riechen. Er sieht ihre Spuren, fangen kann er sie nicht. Eines Morgens kommt er in die Küche. Und sieht die Maus im Waschbecken. Verzweifelt versucht sie, an den glatten Wänden des Beckens einen Halt zu finden. Der Student starrt die Maus an, die Maus blickt zurück. Dann macht er den Wasserhahn an. Die Maus wird in den elektrischen Müllzerkleinerer gespült. Der Student drückt den Knopf.*
Wer diese Szene einmal gelesen hat, den lässt sie so schnell nicht wieder los. Die Empathie lässt uns einfinden in diese Geschichte, die so befremdlich scheint. Auch denjenigen, der sie erlebt hat, ließ sie nicht wieder los. Als der Student Jahre später in einer Lesegruppe erzählen sollte, wann in seinem Leben er sich am meisten in der Haut eines anderen gefühlt habe, spuckt ihm das Gedächtnis gerade diese Geschichte aus. Einfühlung, verbunden mit Täterbewusstsein. Einfühlung durch eine Vorgeschichte. Denn erst die Geschichte, in der er zum Täter wurde, er der Maus in die Augen schaute und sie trotzdem zerstückelte, führte dazu, dass er seine neutrale Haltung gegenüber einem Tier, das ihn seit Wochen genervt hatte, änderte: Er fühlte mit.

Warum ich fühle, was du fühlst.


Spätestens seit der Entdeckung der Spiegelneuronen in der modernen Neurobiologie ist Empathie zu einem der wichtigsten Themen der Kognitionswissenschaften aufgestiegen. Mit den Spiegelneuronen, deren Funktionsweise Experten wie der Freiburger Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer in seinem Buch Warum ich fühle, was du fühlst anschaulich beschrieben haben, schien das Phänomen des In-die-Haut-Schlüpfens weitgehend verstanden. Auch die Theory-of-Mind-Vordenker und die Überlegungen von Evolutionsbiologen über die soziale Intelligenz von Menschen haben das Verstehen jener Mechanismen verbessert, die es uns erlauben, mit zu lachen, zu leiden, sich hineinzuversetzen in die Gefühle und Gedankengänge des Gegenübers, auch des Konkurrenten, den wir ausschalten wollen. Unklar freilich blieb, wie wir sozialen Wesen uns eigentlich zurechtfinden in der "Welt des empathischen Lärmes", von dem wir permanent umspült werden. Offenbar wird nicht jede quasi-automatische Aktivität der Spiegelneuronen in Mitleid, Mitgefühl und Verständnis übersetzt - wie sich am Beispiel der Maus zeigt. Die Empathie des Studenten kam erst mit der neuen Situation. Wie also wählen wir aus, mit wem wir mitfühlen und mit wem nicht, schon um nicht im empathischen Lärm zu ersticken? Wann und warum springt unsere Einfühlung von einem zum anderen? Wie viel individueller Entscheidungsraum bleibt uns überhaupt im Umgang mit diesen neuronalen Prozessen? Oder, wie Fritz Breithaupt fragt: "Wie wird Empathie gelenkt, kanalisiert, abgezogen, gefiltert und das heißt in einem Wort: blockiert? Worin bestehen derartige Blockade-Mechanismen von Empathie und von wem oder was werden sie gesteuert? Vom Bewusstsein? Von Kultur-Techniken? Wenn ja - welchen? Und unter welchen Umständen wird Empathie dennoch zugelassen?"

Aus den Augen eines anderen schauen.


Fritz Breithaupt hat sich auf die Suche gemacht. Er hat Theorien zur Empathie reflektiert, psychologische Studien ausgewertet und sich ins Versuchslabor begeben. Und natürlich hat der Literaturwissenschaftler - er ist Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Indiana University in Bloomington - die Literatur in den Blick genommen. Denn wenn nicht hier, wo sonst fühlen Menschen mit: im Raum der Fiktion. Und hier liegt auch die Antwort des Wissenschaftlers, die er auf knapp 200 Seiten zu einem differenzierten Modell verdichtet: Wir verstehen, indem wir erzählen. Indem wir andere in "kleine gedankliche Erzählungen verwickeln. ... Indem wir in unseren Gedanken, bewusst oder nicht-bewusst, das zeitliche Nacheinander der Handlungen und Situationen eines anderen ausspinnen, sind wir ihm verbunden. ... Der Beobachter schlüpft dabei nicht direkt in die Haut des anderen, sondern kalkuliert oder erträumt die Handlungsmöglichkeiten des anderen. Dies hat den Effekt, dass er aus dessen Augen zu schauen scheint." "Narrative Empathie" nennt Breithaupt seinen Ansatz. Und weil Geschichten erst dann an Schlagkraft gewinnen, wenn es etwas vorherzusagen oder rückwirkend zu erklären gibt, klinkt sich nur dann auch die Empathie ein. "Vielleicht können wir nicht einmal registrieren oder glauben, dass jemand leidet, wenn wir nicht die Gründe dazu kennen oder erahnen oder wenn diese Gründe nicht aus direkten Handlungen hervorgehen." Was interessieren uns da die notleidenden Menschen in Afrika?
Es ist eine sehr differenzierte Reise, auf die Fritz Breithaupt den Leser mitnimmt. Die Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Ähnlichkeit, mit der durch Gewalt erzwungenen Empathie (die Geisel fühlt mit dem Geiselnehmer mit, um sich ihn gewogen zu machen, Empathie wird zum Mittel der Kommunikation) oder mit den Konstruktionsmodellen von Empathie. Was Breithaupts Modell von den anderer unterscheidet, ist unter anderem, dass er davon ausgeht, dass es nicht zweier, sondern dreier Personen bedarf, um Empathie auszulösen: Indem eine Person Beobachter beispielsweise des Konfliktes zwischen anderen wird, über dessen Ursachen, Motivationen oder Folgen sie zu spekulieren beginnt, schließlich Partei ergreift und dann mitfühlen kann. Letztlich sei auch unser Interesse an der Fiktion nur die Lust an der Beobachtung, an Strafe und Lob der erfundenen Helden, so der Literaturwissenschaftler William Flesch. Menschen als soziale Wesen können kooperieren, weil diejenigen, die nicht kooperieren, bestraft werden - und mit ihnen auch jene, die es versäumen, die Nichtkooperierenden zu bestrafen. Oder, ein wenig abgewandelt in der Lesart von Breithaupt: Die Menschen dürsten nach Parteinahme, aber immer für jemanden, mit dem sie sich identifizieren, dem sie nachempfinden können. Insofern antwortet Fiktion auf die Suche nach Parteinahme bei ihren Lesern, Zuschauern oder Hörern. Und insofern ist "Empathie ein abgeleiteter Akt der Parteinahme".

Partei ergreifen.


Kulturen der Empathie jongliert mit einem weit gespannten Denkmodell, das das Phänomen Empathie besser verstehen hilft und darauf aufmerksam macht, wie wenig wir trotz aller neurobiologischen Erkenntnisse bisher darüber wissen, davon verstanden haben. Leider bewegt sich Breithaupt zum größten Teil auf sehr theoretischem Terrain; eine Anreicherung seiner Thesen durch mehr anschauliche Beispiele hätte das Buch noch lesenswerter gemacht. Zu Recht lässt er zum Schluss die Frage nach der Beziehung von Moral und Empathie anklingen: Macht uns Empathie zu besseren Menschen? Wohl kaum, denn wir nutzen sie auch, um den Konkurrenten durchzuchecken, um ihn ausschalten zu können. Und wenn Breithaupt recht hat, indem er Empathie als abgeleiteten Akt der Parteinahme versteht, bedeutet das auch immer Parteinahme gegen jemanden. Dieser Jemand muss nicht gleich Feind, aber wird zumindest nach außen die "schlechtere Wahl" sein. Insofern gilt für die narrative, parteiliche Empathie dasselbe, das auch für die Literatur gilt: "Narrative Fiktion erhöht ... das Verständnis für die anderen und schürt Mitleid. Zugleich aber gelingt der Literatur dies nur, indem sie die Prinzipien von Gut und Böse verabsolutiert und dadurch zu einer massiven Abwertung der Dritten führt." Von der Empathie können wir in dieser Lesart keine Verbesserung des Menschen erwarten, eben weil ihr die Tendenz zur Parteilichkeit, damit zur Ausgrenzung innewohnt. Die Menschenrechte etwa in erster Linie auf Empathie zu gründen, wäre insofern verfehlt. Nur als positives Recht, das nicht unter dem Legitimationsdruck einer wie auch immer gearteten Menschlichkeit oder Empathie steht, ist sie dauerhaft wirksam. Da hat Breithaupt sicher recht: "Wir ergreifen die Partei des Schwächeren, um diesen gleich auf seine Position ... festzuschreiben wie Effi Briest. Wir haben Mitleid mit einer Maus ... wenn es zu spät ist."

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin und Autorin bei changeX.

* Der garbage disposal, ein elektrischer Müllzerkleinerer, gehört zur Standardausrüstung in amerikanischen Küchen:
http://usaerklaert.wordpress.com/2007/03/28/warum-amerikaner-ihre-bananenschalen-in-den-abfluss-werfen/;
http://en.wikipedia.org/wiki/Garbage_disposal

Fritz Breithaupt:
Kulturen der Empathie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009,
204 Seiten, 10 Euro.
ISBN 978-3-518-29506-9
www.suhrkamp.de

© changeX [09.06.2009] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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: Kulturen der Empathie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 204 Seiten, ISBN 978-3-518-29506-9

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Anja Dilk
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Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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