Stevie alias Cynthia kennt weder Filmproduzenten noch Starregisseure. Sie drehte nie in Hollywood und schaffte es doch bis ganz nach oben. Über YouTube. Und auch wenn der Oscar aus einer Kneipe geklaut ist - das Symbol des Ruhmes, das sie schwer in ihrer Hand wiegt, wird ihrer Bedeutung gerecht. Denn sie ist Teil einer Online-Kultur, geprägt, gestaltet, gelebt von einer Generation, die nie ohne die virtuelle Welt gelebt hat: den Digital Natives.
Das Mädchen mit dem iPod in der Tram. Der Fashionboy auf Klubtour, der ein SMS-Feuer von seinem Handy abschießt. Der Praktikant, der den Firmenserver auf Vordermann bringt. Der Schuljunge, der seinen Eltern die Website einrichtet. Die Digital Natives sind überall. Menschen, nach 1980 geboren, als Technologien wie Usenet und Bulletin-Board-Systeme online gingen. Sie sind in dieser vernetzten, digitalen, virtuellen Welt aufgewachsen, in der die Technik ihre Fühler bis in die letzten Winkel des Privatlebens ausstreckt - und das ganz normal ist. Sie erleben die wachsende Digitalisierung und ihre Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Familie ganz anders als die früher Geborenen, die sich als Digital Immigrants in diese Welt nach und nach einfuchsen und zuweilen unsicher, zuweilen spöttisch auf die Eingeborenen der digitalen Welt schauen.
Generation mit gewaltigem Potenzial.
Der Amerikaner John Palfrey,
Professor an der Harvard Law School, und sein Schweizer Kollege
Urs Gasser, Professor an der Universität St. Gallen, haben diese
Generation genauer in den Blick genommen. Wie leben die Digital
Natives? Was unterscheidet sie von anderen Generationen, wie
gehen sie mit Informationen, mit Identität, mit Originalität um?
Wie wird sich durch sie unsere Gesellschaft verändern? Die
Internetexperten, Jahrgang 1972, schreiben die Geschichte fort,
die vor gut zehn Jahren der Kanadier Don Tapscott mit seinem Buch
Netkids begonnen hatte - im Jahr der Google-Gründung.
Kritisch setzte er den kulturpessimistischen Unkenrufen des
damaligen Mainstreams einen reflektierten Umgang und eine
differenzierte Sicht auf die Computer- und Internet-Generation
entgegen, deren Potenzial er weit jenseits geistiger und sozialer
Verarmung sah. Längst hat sich das Rad weitergedreht, ist das
Internet zum sozialen Netzwerk, zum interaktiven, omnipräsenten
Informations- und Wirtschaftsmarktplatz geworden, auf dem die
Digital Natives einen Gutteil ihres Lebens verbringen. Wie einst
Tapscott wollen Palfrey und Gasser nicht unken und urteilen,
sondern aufklären und genauer hinschauen. Auf das, was diese
digitale Generation verbindet - wie "die Zeit, die sie mit
Digitaltechnik verbringen, ihren Hang zum Multitasking, ihre Art,
sich auszudrücken und digital miteinander Kontakt zu halten,
sowie die Anwendung dieser Technologien, um auf Informationen
zuzugreifen und diese zur Schaffung neuer Formen von Wissen und
Kunst zu nutzen". Auf das, was sie prägt, begleitet, gefährdet.
Denn natürlich hat diese Generation gewaltiges Potenzial.
In puncto Kreativität etwa. Wenn sie Musikvorlagen sampelt,
Videos zu Neuem vermischt, Kunstformen schafft, deren Bedeutung
heute noch nicht einmal zu erkennen sein mag, ebenso wie vor 20
Jahren noch die künstlerische Leistung der Fotografie, vor zehn
Jahren noch die künstlerische Gestaltungskraft des Hobbyvideos
unterschätzt wurde.
In puncto Innovationen zum Beispiel. Unternehmen, die
Digital Natives als Kunden haben, spüren das. Denn die User sind
anspruchsvoll, werden schnell aktiv und bringen so eine
Innovationsspirale in Gang, die Produkte oder Dienstleistungen
rasch optimiert und langfristige Kundenbeziehungen aufbaut. Was
durchaus auch zu Konflikten führen kann. Wie bei Facebook. Als
die Bosse des größten Social Network 2006 "News-Feed", also eine
automatische Informationsfunktion über Aktivitäten und Neuerungen
von Facebook-Mitgliedern, einführen wollten, lief die Community
Sturm: Das ist eine Verletzung unserer Privatsphäre. Facebook tat
das einzig Richtige. Es entschuldigte sich bei seinen Usern, nahm
sie ernst, fragte nach ihrer Meinung und launchte etwas später
dann ein geändertes News-Feed-Programm doch noch erfolgreich.
Auch in der Arbeitswelt können die Erfahrungen der Digital
Natives zum Gewinn werden. Zwar mögen sie zuweilen arg flapsige
Mails an Kunden schicken, andererseits sind Menschen, die von
klein auf in Netzwerken arbeiten, es einfach gewohnt, Hierarchien
infrage zu stellen, mehrgleisig zu arbeiten und in
stressintensiven Arbeitsphasen den Überblick zu bewahren. Und
schließlich sind die Digital Natives prädestiniert für jene
digitale Netzwerkökonomie, die Don Tapscott in seinem jüngsten
Buch
Wikinomics nannte. Eine Open-Source-Wirtschaft nach
Wikipedia-Modell.
Mit der Identität in der Realität vereinbar.
Es ist wohltuend, dass sich die
Autoren nicht in gewohnten Bildern verlieren, sondern genauer
hinschauen. Zum Beispiel in Sachen Identitätsbildung. Denn sicher
bietet das Internet mit seinen Foren, Blogs und virtuellen Welten
den Digital Natives die Möglichkeit, sich multiple, komplexe,
vielfältige Identitäten zu schaffen. Doch letztlich sind sie
nicht freier in der wiederholten Neuerschaffung von Identitäten,
weil alte Identitäten überall sichtbar und nicht mehr loszuwerden
sind, man also die Wahrnehmung seiner Identität weniger als
früher beeinflussen kann. Zum Zweiten läuft die ausdifferenzierte
Vielfalt letztlich meist wieder in einem mehr oder weniger
einheitlichen Selbstkonstrukt zusammen. "Die persönliche
Identität einer 16-Jährigen im digitalen Zeitalter unterscheidet
sich in mancherlei Hinsicht nicht grundlegend von ihrem Pendant
in früheren Zeiten. Nach wie vor drückt sie sich durch ihre
Charaktereigenschaften, Interessen und Tätigkeiten in ihrem
realen Umfeld aus - zumindest mittlerweile. ... Der Umstand, dass
ein Teil ihres Lebens in digital vermittelten Formen stattfindet,
hat selbst keinen großen Einfluss auf ihre persönliche Identität.
... Untersuchungen zur Herausbildung von Online-Identitäten
verweisen immer wieder darauf, dass junge Leute, ob sie nun
Digital Natives sind oder nicht, ihre persönliche oder soziale
Identität trotz der beschriebenen Veränderungen online eher so
zum Ausdruck bringen, wie sie es bisher getan haben, das heißt
auf eine Weise, die mit ihrer Identität in der Realität vereinbar
ist."
Gleichzeitig spricht einiges dafür, dass die Digital
Natives in mancher Hinsicht ungut von der virtuellen Welt geprägt
sind, in der sie sich so häufig tummeln. Wenn sie reichlich naiv
Details über sich und die ihren in die Online-Welt werfen, aus
denen sich leicht gewaltige Dossiers fertigen lassen. Wenn sie
sich im Information Overload verhaken, ohne sorgfältig
erarbeitete Bewältigungs-, Analyse- und Einordnungsstrategien
erlernt zu haben. Oder wenn sie vorschnell Online-Quellen
glauben. In Hunderten von Interviews mit Digital Natives machten
die Autoren die Erfahrung: "Die Mehrheit der im digitalen
Zeitalter Geborenen hält die Qualität von Informationen offenbar
nicht für ein besonders wichtiges Thema. Die folgende Aussage
einer Digital Native, die wir interviewten, ist symptomatisch:
'Google, na ja, das benutzen doch viele Leute, also benutze ich
es eben auch.' Woher sie wisse, ob sie den Inhalten trauen könne?
'Daran habe ich noch gar nicht gedacht.'" Gleichzeitig ist ihnen
die Zuverlässigkeit der Informationen in anderen Fällen wichtig,
zum Beispiel, wenn es um die Richtigkeit von Hausarbeiten aus dem
Netz geht, um Informationen über Online-Kumpel oder über
interessante Arbeitgeber.
Was bleibt, ist Aufklärung. "Wir sollten unbedingt dazu in
der Lage sein, gute von schlechten Informationen zu trennen",
schreiben Palfrey und Gasser. Eine Bildungsaufgabe, die umso
wichtiger ist, als "es für Kinder schwieriger ist als für
Erwachsene, qualitativ hochwertige von qualitativ minderwertigen
Informationen zu unterscheiden", weil ihre Gehirne noch nicht
fertig und ihre Aufmerksamkeitsspannen noch kürzer sind. "In den
Schulen sollten also vielfältigere Lernmöglichkeiten angeboten
werden, die berücksichtigen, wie entwickelt die kognitiven
Fähigkeiten der Kinder sind, wofür sie sich interessieren, was
sie gewohnt sind und welche intuitiven Methoden sie verwenden.
Nur so kann eine umfassende Ausbildungsstrategie garantiert
werden, die die Fähigkeiten der Digital Natives stärkt,
Online-Informationen kritisch zu evaluieren."
Kritisches Denken lernen.
Wenn Palfrey und Gasser darüber
nachdenken, inwieweit die Digital Natives anders ticken als
andere, inwieweit die voranschreitende Digitalisierung unsere
Gesellschaft verändern, bedrohen, bereichern wird, und was
Eltern, Lehrer und der Staat dazu beitragen können, die Gefahren
zu beherrschen und die Potenziale zu erschließen, geht es im
Grunde also um wenig Neues: Kritisches Denken lernen. Begründete
Kriterien entwickeln. Offenheit für andere Menschen, ihre
Sichtweisen, ihre Erfahrungen bewahren. Neue Verbindungslinien
entdecken zwischen Menschen und Digital Natives der Generation
Digital Immigrants.
Es ist ein wohltuendes Buch, das John Palfrey und Urs
Gasser da geschrieben haben, wunderbar lesbar obendrein.
Wohltuend, weil es sich vor schnellen Urteilen hütet und sich
bemüht, gestützt auf viele Studien und Interviews, genauer
hinzuschauen. Wohltuend, weil es versucht, die Gedanken- und
Erlebenswelt der Digital Natives auch für jene aufzuschließen,
die nicht mit dem Alltag im Cyberspace groß geworden sind und ihn
vielleicht vor allem beruflich erleben. Wohltuend auch, weil es
die Gefahren und Chancen der digitalen Welt ausdifferenziert und
darauf aufmerksam macht: Ob es uns im Detail interessiert oder
nicht, wir haben eh keine Alternative, als uns hineinzustürzen,
weil diese Welt immer mehr auch über uns selbst bestimmt. Eines
allerdings kommt zuweilen zu kurz: dass längst nicht alle
Menschen aus der Generation der Digital Natives zu ihr gehören.
Und zwar nicht nur jene, die zu arm sind, um sich einklinken zu
können. Nicht nur jene, die in digital verödeten Ländern leben,
wo sie kaum Zugang haben. Fremde in der digitalen Welt gibt es
auch unter jenen, die formal dieser Generation angehören, aber
nicht mit Haut und Haaren auf den Zug von Internet & Co.
aufspringen. Wer sich bei Jugendlichen umhört, selbst im urbanen
Raum, findet davon manchmal mehr, als solche Analysen eines neuen
Zeitalters erwarten lassen.
Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin und Autorin bei changeX.
John Palfrey / Urs Gasser:
Generation Internet.
Die Digital Natives: Wie sie leben. Was sie denken. Wie sie
arbeiten.
Carl Hanser Verlag, München 2008,
440 Seiten, 19.90 Euro.
ISBN 978-3-446-41484-6
www.hanser.de
© changeX [27.01.2009] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zu den Büchern
John Palfrey / Urs Gasser: Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben, was sie denken, wie sie arbeiten. Carl Hanser Verlag, München 2008, 440 Seiten, ISBN 978-3-446-41484-6
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John Palfrey / Urs Gasser: Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben. Was sie denken. Wie sie arbeiten.. Carl Hanser Verlag, München 2008, 440 Seiten, ISBN 978-3-446-41484-6
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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