Wirtschaft wird von Menschen gemacht
Wunder, Pleiten und Visionen. Ein Streifzug durch 60 Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte - das neue Buch von Jörg Lichter, Christoph Neßhöver und Katharina Slodczyk.
Von Florian Michl
Wirtschaftsgeschichte, das geht auch anders. Man muss sie nicht in dürren Zahlen, Daten und Fakten präsentieren, sondern man kann sie erzählen. Als Geschichte von Menschen und ihren Entscheidungen, von Höhenflügen und Niederlagen, von Visionen und deren Zusammenprall mit der Wirklichkeit. Dann nämlich zeigt sich: Es sind die Menschen, die Wirtschaft machen. / 14.11.07
Lichter CoverZum Beispiel Wunder: 1954 gewinnt Deutschland in Bern die Fußballweltmeisterschaft. Gleichzeitig beginnt der Aufstieg von Adidas. Oder Pleiten, zum Beispiel 1994: Die Treuhandanstalt war der größte Staatskonzern, den es je auf deutschem Boden gab. Und er hinterließ das größte Defizit, das je ein Konzern produzierte: 110 Milliarden Euro. Und Visionen, 1979: Die taz versteht Neutralität als Parteinahme für die Starken und lehnt sie ab.
Das sind drei Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte, wie sie Handelsblatt-Reporter sehen: nicht aus volkswirtschaftlicher Vogelperspektive, sondern aus Sicht derer, die dabei waren. Wunder, Pleiten und Visionen heißt das von Jörg Lichter, Christoph Neßhöver und Katharina Slodczyk herausgegebene Buch. Es behandelt 60 Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte, von 1945 bis 2006, komprimiert in 60 Buchkapiteln. Jedes davon beschreibt ein zentrales Jahresereignis. Die Bandbreite reicht von politischen Entscheidungen, wie der Einführung der D-Mark (1948) und der Mehrwertsteuer (1968), bis zu Unternehmensschicksalen, die sich zahlreich in dem Buch versammelt finden. Etwa von Bayer und BMW über Borgward und Adidas bis hin zu Salamander oder SAP.
60 Jahre Wirtschaftsgeschichte, das sind auch sechs Dekaden großer Männer und Frauen, die etwas bewegt haben. Die das Wirtschaftswunder Deutschland erlebten, davon profitierten oder mit ihrem Leben dafür bezahlten, wie der ehemalige Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen (1989) oder der Manager Detlev Carsten Rohwedder von der Treuhandanstalt (1990). Sie und andere Entscheidungsträger stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Dazu sprachen Handelsblatt-Reporter mit Managern, Ministern, Bankiers, Betriebsräten - oder einfach nur mit Leuten, die dabei waren.

Facetten der deutschen Wirtschaft.


Zum Beispiel mit Karl Heinz Lang. Der 64-Jährige arbeitet seit 31 Jahren für Adidas und ist so etwas wie der Archivar des Sportkonzerns. Er glaubt nicht an das Wunder von Bern - vielmehr an den Schuh und dessen Stollen, die schnell und einfach ausgetauscht werden konnten. Sie gaben dem verregneten Spiel am 4. Juli 1954 den entscheidenden Dreh, ist er überzeugt: indem sie sich in den nassen Boden gruben und den Spielern damit einen sicheren Tritt gaben. Zudem seien die neuen Adidas-Treter fast halb so schwer wie die damals üblichen Schuhmodelle gewesen - ein weiterer Vorteil, denn im Dauerregen saugt sich das Leder voll. "Da kann sich das Gewicht schnell einmal verdoppeln", sagt Lang. Das Wunder von Bern als Innovationsstory? Wie wichtig die neuen Stollen tatsächlich für den Sieg waren, darüber lässt sich nur mutmaßen. Für Adidas aber legte er den Grundstein für den Aufstieg zu einem der führenden Sportkonzerne der Welt: Zehn Milliarden Euro Jahresumsatz macht das Unternehmen weltweit zur Nummer zwei der Branche.
14.000 Unternehmen, vier Millionen Beschäftigte und ein Defizit von 110 Milliarden Euro. So beschreibt Handelsblatt-Reporter Dieter Fockenbrock den ehemals größten deutschen Staatskonzern. Dessen Aufgabe war die "Privatisierung und Verwertung volkseigenen Vermögens nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft" - die Abwicklung der wirtschaftlichen Überreste der DDR. Das Ergebnis: Tausende Firmen gingen in Konkurs und Hunderttausende Menschen wurden arbeitslos. Entsprechend groß war der Hass auf die Treuhand. "Für die Ossis war die Behörde der 'Plattmacher', für die Wessis ein Fass ohne Boden", sagt Fockenbrock. Als acht Monate nach der Wiedervereinigung Unbekannte den Manager Detlev Carsten Rohwedder ermordeten, geriet der marktwirtschaftliche Umbau der DDR-Wirtschaft in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. "Trotzdem blieb die Treuhand auch unter der Regie von Rohwedders Nachfolgerin Birgit Breuel bei dem Prinzip 'Privatisierung vor Sanierung'", so der Handelsblatt-Reporter. Vier Jahre später ist die Mission beendet: Das hohe Tempo schuf die Voraussetzung dafür, dass die Treuhand 1994 offiziell geschlossen werden konnte - es war aber, so der Autor, auch der Grund dafür, dass die Anstalt mehrfach über den Tisch gezogen wurde. Auf Kosten der Bürger.
Ein anderes Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte schlägt der Handelsblatt-Reporter Rüdiger Scheidges auf: Im Jahr 1979 startet die "chaotischste" und "kapitalismuskritischste" Unternehmensgründung des Landes - die tageszeitung erscheint seit dem 17. April täglich. Und kämpft Tag für Tag ums Überleben. Doch bis heute schreibt sie an gegen "Imperialismus und Faschismus" und bezieht Stellung gegen "Atomenergie, Krieg, Ausbeutung, Ausländerfeindlichkeit, Amerikanismus und männlichen Chauvinismus", sagt Scheidges. Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutet das Gutsein jedoch eine tagtägliche Selbstausbeutung: "Anfangs gibt es nur 1.500 D-Mark Einheitsgehalt für alle taz-Macher", beschreibt der Reporter die Situation. Und heute? Die tageszeitung fährt Verluste ein. Trotzdem werde sie überleben, prophezeit der Mitbegründer und Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele: "Mindestens so lange, wie sich Springer die Welt leistet, werden sich die Alternativen die taz leisten."

Menschen mit Visionen.


Der Streifzug durch die bundesrepublikanische Wirtschaftsgeschichte, den dieses Buch unternimmt, ist abwechslungsreich und kurzweilig. Dabei entsteht ein vielschichtiges und facettenreiches Bild der deutschen Wirtschaft. Die Handelsblatt-Reporter zeigen, dass Wirtschaftsgeschichte vor allem aus der Summe vieler unternehmerischer Entscheidungen entsteht: Die wichtigsten der vergangenen 60 Jahre sind hier angeführt. Damit zeigt das Buch auch, was Wirtschaft antreibt: Menschen mit Visionen. Jenseits wolkiger Managerreden macht es deutlich, dass Menschen wirklich das wichtigste Kapital eines jeden Unternehmens sind. Es hat nicht nur das Wirtschaftswunder ermöglicht- es garantiert auch das Überleben unter verschärften Wettbewerbsbedingungen im 21. Jahrhundert. Schon deshalb ist das Buch lesenswert.

Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Jörg Lichter / Christoph Neßhöver / Katharina Slodczyk (Hrsg.):
Wunder, Pleiten und Visionen.
Ein Streifzug durch 60 Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte.
Econ Verlag, Berlin 2007,
430 Seiten, 24.90 Euro.
ISBN 978-3-430-20036-3
www.econ.de

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Zum Buch

: Wunder, Pleiten und Visionen. . Ein Streifzug durch 60 Jahre deutsche Wirtschaftsgeschichte. . Econ Verlag, Berlin 1900, 430 Seiten, ISBN 978-3-430-20036-3

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Florian Michl
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Florian Michl schreibt als freier Autor für changeX.

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