Mit der Peitsche knallen.
Ein Samstagmorgen in der Hauptstadt. Im Spreebogenpark, direkt zwischen Kanzleramt und Abgeordnetenhaus, ist eine gewaltige Aktion im Gang. Arbeiter mit orangenfarbenen Westen und weißen Helmen rollen Absperrbänder aus, die Kollegen stemmen ein Loch aus dem gleichmäßig gewachsenen Rasen mitten im Regierungsviertel, Pressemenschen, Radio- und TV-Reporter rennen mit Block, Mikro und Kamera durch die Reihen. Was passiert hier? Wer ist verantwortlich? Wie finden Sie diese Aktion? Bumm, bumm. "Euphorie! Leidenschaft!" Der Himmel reißt auf. Die Strahlen der Wintersonne fallen auf die Bühne. Der Chor ist dran. "Froh zu sein bedarf es wenig." Aus den Mündern der Sänger schweben weiße Atemwolken in den Himmel. "Wenn wir der deutschen Depression beikommen wollen", ruft der Mann hinter dem Rednerpult, der sich als Psychiater des Sigmund-Freud-Instituts in Wien vorstellt, "müssen wir aktiv werden. Wenn jemand depressiv wird, weil sein Wunsch nicht in Erfüllung geht, soll ihm die Weide hier eins drübergeben. Lassen Sie uns eine peitschende Trauerweide für Deutschland pflanzen. Schluss mit der Depression im Land." 250 Zuschauer in roten, blauen und gelben Überwürfen mit den goldenen Sternen applaudieren. Hurraaa.
Überfall auf die nationale Depression.
Die Deutschen sind depressiv. Das
hatte die Universität Witten-Herdecke bereits im September in
ihrem Depressionsbarometer amtlich erfasst. Die Auswertung einer
bundesweiten Onlineumfrage enthüllt die Stimmung des Landes:
Mittelwert 33,7 Punkte, das ist kurz vor der Couch. Ab 35 muss
definitiv der Experte ran. Deutschland, armes Depriland. Das darf
nicht so bleiben, sagten sich die Managementexperten der
Privathochschule und dachten nach. Ergebnis: Ein Überfall muss
her. Ein Überfall auf die nationale Depression. Aber wie
überfällt man eine Depression?
Ganz einfach. Im Prinzip wie eine Bank: Eine Gruppe gräbt
sich nach unten, die andre steht Schmiere, eine dritte setzt die
Alarmanlage außer Kraft, öffnet den Tresor und draußen warten
bereits Fahrer mit angelassenem Motor. Die nötigen Zutaten: eine
Gang und ein Plan. Wie bitte?
Der Kongress im Spiegel seiner Inszenierung.
Wie so oft sind die Wissenschaftler
von Witten-Herdecke gut für Überraschungen und Querdenkertum. So
wundert es wenig, dass die Experten vom Managementzentrum auf
ihrem Kongress x-Organisationen mit den 250 Teilnehmern
keinesfalls nur sittsam über die neueren Entwicklungen des
systemischen Denkens, über das unklare Schicksal, das
Organisationen in der doppelten Anpassung an gesellschaftliche
Veränderungen und individuelle Ansprüche heute bevorsteht,
sinnieren wollten. Mehr musste her. Eine Attacke auf das
Grundsätzliche: die Stimmung in unserem Land. Wie Berater in
Unternehmen inszenieren, wie sich Organisationen in Geschichten
über sich selbst neu erfinden und Manager mit paradoxen
Entscheidungsmöglichkeiten jonglieren, so mussten die Akteure des
Überfalls auf diesem Kongress den Angriff auf das Kernmerkmal der
Organisation Deutschland inszenieren: die depressive Stimmung.
Was dem Bankräuber die Pistole, das ist dem
Überfallkommando die Einbildung. "Geist und Witz, Phantasie und
ein guter Schuss an Mut - aus diesen Ingredienzien braut sich die
Attacke auf den Code der nationalen Depression; diese Quadriga an
Eigenschaften gilt es, in die herrschende Stimmung
einzupflanzen", schreibt Chef-Inszenierungsberater Hans
Geisslinger von der Story Dealing Company Expedere in seiner
Projektskizze zum Überfall auf die deutsche Depression. Welches
Pflanzobjekt würde sich da mehr anbieten als die Trauerweide, die
einst schon die Kelten pflanzten und in ihre weichen, neuen
Triebe Knoten machten, um dort ihre Wünsche zu verankern? Nur wo
und wie sie einpflanzen, damit die Aktion auch wahrgenommen und
der Angriff auf die Depression erfolgreich wird?
Proben, planen, dichten.
Erster Kongresstag. Pause. Dschubi, dschubi duuu. Hans Geisslinger schlägt die Gitarre. Überfall Schritt eins: Wer macht mit? Gelächter im Auditorium, sieben Leute kommen nach vorn. Unter ihnen ein Berater für social design, ein Wiener, der den deutschen Nachbarn helfen möchte, eine Tunesierin, die Lust auf Depression nach deutscher Art hat. Sie sind es, die in den nächsten eineinhalb Tagen die ernsten Kongressgespräche durch subversives Tun aufheitern werden, Trommler rekrutieren und einen Chor zusammenstellen, die Geld sammeln für das Equipment des Überfalls, die Busse der Berliner Verkehrsbetriebe mieten, um die Kongressteilnehmer zum Ort des Geschehens zu transportieren. Sie sind es, die proben und planen und dichten. Die entscheiden, dass, wo Großes attackiert werden soll, die Attacke an großer Stelle stattfindet: im Zentrum der Macht. Die erdenken, wie sie den Fragen der Staatsgewalt, wenn sie denn naht, eine glaubwürdige Geschichte auftischen, damit die Staatsgewalt sich zufrieden trollt. "Was machen Sie denn hier?" "... einen Pflanzüberfall auf die nationale Depression." Haha, wer so eine Antwort gibt, würde von der Polizei sofort misstrauisch beäugt. Schon gar nicht ließe sie sich davon abhalten, nach einer Genehmigung zu fragen. Der Ausweg: Sich geschickt der Zeichensprache des öffentlichen Raumes, der ungeschriebenen Kommunikationscodices der Gesellschaft bedienen.
Alles ist möglich.
Die Trauerweide im Kanzlerpark ist
im Boden versenkt. Stramm an zwei stützende Pfähle rechts und
links gebunden, ragt sie in den Berliner Morgenhimmel. Die als
Stadtgärtner verkleideten Pflanzer sind zur Seite getreten. Die
Plakette vor der Weide ist feierlich enthüllt: "Wünsche dir etwas
und dein Wunsch wird wahr."
"Entschuldigung, was machen Sie denn hier?" Die beiden
Polizisten schauen sich fragend um. Der Chef der Gang, im
gestriegelten Zwirn, eilt herbei. Eine europäische Initiative ...
ein völkerverbindendes Kulturprojekt ... ja, ja, gleichzeitig
werden im Moment in London, Madrid und Wien Bäume an zentralen
Orten gepflanzt ... Darf ich vorstellen, der offizielle
Vertreter, EU-Kommissar Jonathan Richhowe ... guten Tag ...
"Haben Sie denn eine Genehmigung, mitten im Regierungsviertel
einen Baum zu pflanzen?" Oh, ja, eine mündliche Zusage von Herrn
Blablabla vom Grünflächenamt, hier, bitteschön, ist unser
Faxantrag, der ihm gestern zuging ... nein, die schriftliche
Bestätigung war uns bis abends versprochen, sie hat uns leider
noch nicht erreicht, Sie wissen ja, wie Verwaltungen sind ... Sie
können gern am Montag nachfragen ... ganz bestimmt ... und Sie
dürfen sich etwas wünschen, meine Herren, an unserem Zauberbaum.
"Wie nett", sagt der Polizist. "Dann werde ich jeden Tag vor
Dienstantritt schauen, ob es der Weide gut geht." "In Ordnung",
sagt sein Kollege und nimmt noch schnell ein paar Weidensetzlinge
für seine Kinder mit. Dann gehen Sie, den Faxantrag in den
Händen, zurück zum Kanzleramt.
Erstaunlich, was alles möglich ist, einfach so und für
jeden und mitten im Zentrum der Macht in Deutschland. Haben wir
da noch Grund, depressiv zu sein?
www.depressionsbarometer.de
www.x-organisationen.de
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
© changeX Partnerforum [01.12.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.