Einfache Regeln, komplexe Spiele.
In seinem gerade erschienenen Buch
Blink berichtet Malcolm Gladwell von einer dieser Gruppen,
der in New York auftretenden Gruppe
Mother, und stellt die Frage, worin das Geheimnis des
Erfolgs dieses Theaters besteht [1]. Wie schaffen es
Schauspieler, aus einem beliebig zugeworfenen Stichwort eine
Geschichte zu entwickeln, die überzeugend ist und in der ein Wort
ohne Zögern das nächste gibt, obwohl doch alles unbestreitbar
on the spot erfunden ist? Einer der Begründer des
Improvisationstheaters, Keith Johnstone, hat diese Frage in
seinem 1979 geschriebenen Buch <í>Impro beantwortet, indem
er darauf hinweist, dass dieses Theater mit einer einzigen Regel
steht und fällt: "Accept everything that happens to you" [2]. Wer
ein Thema, einen Vorschlag, eine Geste, einen Zuruf ablehnt,
zerstört das Spiel. Wer all das, was andere tun, aufgreift und
dann daraus etwas macht, was der andere wiederum akzeptiert,
trägt zu einem Spiel bei, das in Windeseile einen Schwung und
eine Kraft entwickelt, die von niemandem beabsichtigt war und
doch von allen kontrolliert wird. Komisch ist dies nicht nur
wegen der Einfälle, auf die man kommt, wenn man den Zuruf des
anderen aufgreift und daraus etwas Eigenes macht, sondern komisch
ist dies auch, weil man sich wie ein Dieb darüber freut, dass
alle Beteiligten es immer wieder schaffen, der Geschichte ihre
jeweils eigene und höchst eigenwillige Wendung zu geben, obwohl
und während der Wille aller zum Zuge kommt.
Für den aktuellen Streit um den Kapitalismus und die
Depression in Deutschland erhält diese Geschichte zwei wichtige
Lehren. Die erste Lehre ist, dass überraschendes, vielfältiges
und anspruchsvolles Geschehen zuweilen auf ein, zwei einfache
Regeln zurückzuführen ist, die nicht immer leicht zu entdecken
sind, deren Befolgung jedoch ein Verhalten hervorbringen, das man
andernfalls nur auf jahrelange Erfahrung, höchste Könnerschaft
und seltene Begabung zurückführen könnte. Und die andere Lehre
ist, dass man Spiele auch dann mit eigenen Absichten und eigenen
Zielen mitspielen kann, wenn man die Absichten und Ziele der
anderen akzeptiert. Vor allem Letzteres kann man sich hierzulande
offensichtlich nur schwer vorstellen.
Wenn wir uns klar machen, wie wir spontan innerlich
ablehnend auf die Geschichte des Improvisationstheaters
reagieren, und wenn wir beschreiben, welche Motive diese
Ablehnung hat und welche Formen sie annimmt, haben wir bereits
ein komplettes Psycho- und Soziogramm der deutschen Misere. Hand
aufs Herz, fällt uns nicht sofort Goethes Zauberlehrling ein, der
die Geister nicht mehr loswird, die er rief? Haben wir nicht den
Eindruck, dass den Schauspielern auf der Bühne das wichtigste
Vermögen von Vernunft und Verstand fehlt, die Kritikfähigkeit?
Glauben wir nicht mit allem, was wir haben, dass die Fähigkeit
der Ablehnung, des korrigierenden, zurechtweisenden Eingriffs,
eine der unverzichtbarsten Konstanten, wenn nicht sogar Tugenden
unseres Lebens ist? Wo kämen wir denn da hin, wenn wir zu allem
und jedem erst einmal Ja sagen würden! Und wie frivol wäre es,
dann, wenn wir Ja gesagt haben, doch etwas Eigenes aus der Sache
zu machen!
Ich will dieses Psycho- und Soziogramm des deutschen Gemüts
hier nicht weiter ausführen. Ich möchte nur die These aufstellen,
dass wir gut daran täten, einmal ein anderes Spiel
auszuprobieren. Und ich möchte zeigen, dass sowohl der aktuelle
Streit über den Kapitalismus als auch die Suche nach den Gründen
unserer Depression davon profitieren würden, wenn es gelänge, die
fälligen Fragen etwas anders zu stellen als bislang. Was würde
daraus folgen, wenn wir das Spiel mit unseren eigenen Absichten
mitspielen würden, statt ihm ohne jede Aussicht auf Erfolg immer
nur unseren eigenen konträren Willen entgegenzusetzen?
An zwei Punkten kann man zeigen, worum es geht, an der
Debatte um die Gehälter des Topmanagements und an der
schleichenden Revolution der Organisationskulturen in Unternehmen
und Behörden, Kirchen und Armeen, Orchestern und Krankenhäusern,
die wir seit einigen Jahrzehnten erleben. Der erste Punkt ist ein
gutes Exempel für die Suche nach einfachen Regeln, die ein
komplexes Spiel ermöglichen, der zweite Punkt macht deutlich,
dass Management mehr mit Improvisation gemeinsam hat, als uns
hierzulande lieb ist.
Fat cats oder riskante Märkte?
Kevin J. Murphy und Ján Zábojník,
zwei Ökonomen an der Marshall School of Business der University
of Southern California, haben sich auf dem Jahrestreffen der
American Economic Association vor zwei Jahren mit der Frage
beschäftigt, ob hohe Managergehälter eher nach der Regel zu
verstehen sind, dass
fat cats mit Hilfe der von ihnen bestochenen Aufsichtsräte
an sich raffen, was sie kriegen können, oder nach der Regel, dass
sich in den vergangenen Jahrzehnten das Kompetenzprofil der
Manager verschoben hat, so dass jetzt nach anderen Maßstäben
bewertet und auch bezahlt wird, was sie können müssen, wenn sie
für Topjobs in Frage kommen sollen [3]. Gut, wenn sich zwei
Ökonomen mit dieser Frage beschäftigen, kann man sich schon
denken, dass die
fat-cats-Hypothese ziemlich schnell vom Tisch ist. Dennoch
ist interessant, wie die Alternativhypothese begründet wird. Für
Unternehmen, so die Überlegung, ist es in den vergangenen Jahren
wichtig geworden, Topmanagementkompetenzen zu rekrutieren, die
sich eher auf allgemeine Kenntnisse der ökonomischen Theorie, der
Managementlehre, der Buchführung und Finanzierung sowie nicht
zuletzt des Marketings beziehen als auf spezifische Kenntnisse
der Produktpalette, der Produktionsverfahren und der
Organisationskultur des jeweiligen Unternehmens.
Die These ist nun nicht, dass allgemeine Kenntnisse zehn-
bis 20-mal mehr wert sind als spezifische Kenntnisse und dass
deswegen die Gehälter entsprechend gestiegen sind. Und die These
ist erst recht nicht, dass es auf Kenntnisse des jeweiligen
Unternehmens nicht mehr ankommt, weil es nur noch darum geht,
Gewinnregeln mit Blick auf den
shareholder value gnadenlos zum Durchbruch zu verhelfen.
Sondern die These ist, dass in dem Moment, in dem sich die
Bedeutung dieser allgemeinen Kompetenzen durchsetzt, jeder
einzelne Manager seine Karriere nicht mehr nur gegen die
Konkurrenz im eigenen Unternehmen, sondern gegen die Konkurrenz
eines ganzen Marktes für Managementleistungen durchsetzen muss.
Das Spiel wird heiß, zumindest in den angelsächsischen Ländern,
in denen die Konkurrenzdynamik der Märkte ungebremster zum Zuge
kommt als in Ländern, in denen der Ausschluss dieser Dynamik
durch den Schulterschluss zwischen Unternehmen, Banken und
Behörden als das Maß aller Dinge gilt. Die Managementgehälter
steigen, weil nur die Höhe des Gehalts das Risiko kommunizieren
kann, das darin besteht, einen Managementjob zu übernehmen. Und
worin besteht dieses Risiko? Es besteht darin, wieder entlassen
zu werden, wenn sich herausstellt, dass es nicht gelingt, die
Ökonomie der Märkte in eine erfolgreiche Strategie des
Unternehmens umzusetzen. Wir können auch sagen: Es besteht darin,
wieder entlassen zu werden, wenn es nicht gelingt, sich mit
eigenen Improvisationen erfolgreich am Spiel der anderen zu
beteiligen.
Die Regel, die exorbitanten und moralisch zweifelhaften
Managergehältern zugrunde liegt, ist nicht der rücksichtslose
Egoismus (der kommt allenfalls dazu, damit die Leute durchhalten,
was von ihnen verlangt wird), sondern die rücksichtslose
Unterwerfung unter die Vergleichsprinzipien des Marktes. Es käme
eher darauf an, Auffangsanatorien für Gescheiterte, aber auch für
erfolgreiche Topmanager zu bauen, in denen diese wieder abgekühlt
werden können, als ihnen medial ausgebeutet die Wut der
Bevölkerung auf den Leib zu hetzen. Natürlich wird auch dieses
Prinzip der Marktbewertung von Topmanagementleistungen von
ausgeschlafenen Managern zu ihren Gunsten ausgenutzt. Aber dann
sollten wir uns lieber wie der deswegen eher unbeliebte New
Yorker Staatsanwalt Eliot Spitzer anschauen, welche Defizite in
der Organisation von Unternehmen dies möglich machen, anstatt
hilflos die moralische Keule zu schwingen.
Ökonomie + Strategie = postheroisches Management.
Beziehen wir das eine auf das
andere und schauen wir, ob ein anderes Verständnis der
Spitzengehälter vieler Topmanager nicht vielleicht auch ein
anderes Verständnis des kapitalistischen Spiels ermöglicht. Was
spielt sich hier ab? Das Spitzengehalt eines Topmanagers
signalisiert, dass ein Unternehmen dessen allgemeine ökonomische
Kenntnisse für erforderlich hält, um ein spezifisches Unternehmen
strategisch auszurichten. Der Stanforder Ökonom D. John Roberts
hat in seinem Buch
The Modern Firm gezeigt, dass dieses Kalkül strategischer
Optionen nicht mehr nach technologischen, sondern nach
ökonomischen Prinzipien für die meisten Unternehmen trotz aller
betriebswirtschaftlichen Kenntnisse nach wie vor ungewohnt und
herausfordernd ist, aber das einzige ist, das den Erfolg von
Unternehmen erklären kann [4]. Auch deswegen sind MBA-Abschlüsse
und betriebswirtschaftlich orientierte Unternehmensberatungen in
vielen Unternehmen gegenwärtig so beliebt. Sie setzen durch, was
der Organisation nach wie vor extrem gegen den Strich geht.
Wir sind in Deutschland nicht nur in Politik und
Gewerkschaften, in den Massenmedien und in der Wissenschaft,
sondern auch in den meisten Unternehmen gewohnt, diesen Siegeszug
ökonomischer Prinzipien als endgültigen Sieg der Ökonomie über
alles andere, die Politik, das Leben und die Menschlichkeit, zu
interpretieren und dementsprechend alles dagegen zu mobilisieren,
was wir aufbieten können. Wie wäre es jedoch, wenn wir
ausnahmsweise einmal mitspielten (das tun wir ja auch, und mit
großem Erfolg und meist ohne mediale Aufmerksamkeit) und das
ökonomische Prinzip nicht als Selbstzweck, sondern als
Improvisationsregel für offene Spiele aller Art verstünden?
Dann müssten wir allmählich verstehen können, dass sich
unser klassisches Managementverständnis einer linearen und
kausalen Kontrolle unserer Möglichkeiten allmählich in ein
postheroisches Managementverständnis verschiebt, in dem eine
einzige Frage den Ton angibt: Wie gehen wir mit unentscheidbaren
Situationen um, in denen es nicht mehr darauf ankommt, dass
"Helden" so tun, als hätten sie den Überblick und das Wissen, was
jeweils zu tun ist? Postheroisches Management ist im Umgang mit
dieser Frage ein Ableger so genannter postklassischer Theorien,
die, so haben es nicht zufällig ausgerechnet
Literaturwissenschaftler, nämlich die beiden Anglisten Barbara
Herrnstein Smith von der Brown University und Arkady Plotnitsky
von der University of Pennsylvania, auf den Punkt gebracht, die
die Lehren aus der Evolutionstheorie und der Quantenmechanik
ernst nehmen und endlich anfangen, Instabilität und
Unbestimmtheit, Interpretation und Virtualität als Chance und
nicht mehr nur als Gefahr zu begreifen [5].
Die Spitzengehälter der Topmanager zeigen, ob man es glaubt
oder nicht, dass wir einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem
postheroischen Managementverständnis geschafft haben. Denn der
entscheidende Punkt besteht nicht darin, dem Primat der
Wirtschaft oder gar des Gewinns zum Durchbruch zu verhelfen.
Sondern der entscheidende Punkt besteht darin, die Organisation
eines Unternehmens, ihre Strategie und ihr Management mit
ausreichender Unbestimmtheit zu versorgen, um sie zu befähigen,
an einem Spiel teilzunehmen, das nicht mehr nach den Regeln
technologischer Eindeutigkeit, einheitlicher Zielvorgaben und
klarer Entscheidungen gespielt wird, sondern nach den Regeln
einer Improvisationsfähigkeit, die Instabilität auf der Sachebene
mit Stabilität auf der Prozessebene kombiniert. Weder aus der
Technologie von Produktionsverfahren oder den hehren Prinzipien
bewährter Organisationsroutinen noch aus der scheinbaren
Eindeutigkeit der Ideen der Gewinnmaximierung und der
Kundenorientierung können erfolgreiche Unternehmensstrategien
abgeleitet werden, sondern nur aus dem in jedem einzelnen Moment
offenen Bezug des einen auf das andere.
X-Organisationen.
Deswegen gilt auf der
Mitarbeiterseite das Prinzip einer Qualifikation, die
Sachkompetenz mit Persönlichkeit und Sozialkompetenz kombiniert,
auf der Abteilungsebene das Prinzip einer weitgehenden
Autonomisierung der Geschäftsführung, auf der technologischen
Ebene das Prinzip einer laufend neuen Abstimmung mit
Netzwerkpartnern, auf der Produktebene das Prinzip eines eher
kundengesteuerten Marketings und auf der Leitungsebene eines
Unternehmens das Prinzip der laufenden Abstimmung mit
Marktbewertungen des Unternehmens insgesamt und jeder einzelnen
seiner Managementleistungen. Es geht um die Einführung von
Freiheitsgraden, von Spielräumen, die laufend neu bestimmt werden
können. "A desire to play, and a desire to win", mehr braucht es
mit einem Wort des Kybernetikers Warren McCulloch nicht, um ein
menschliches Verhalten mit Rückkopplungsprinzipien auszustatten,
das wegen der mitlaufenden Orientierung an anderen nicht zuletzt
auch moralischen, ja ethischen Prinzipien genügt [6].
Mit einem Begriff des Biophysikers Kunihiko Kaneko von der
Tokyo University könnte man von einem "Homöochaos" sprechen [7],
das der Evolutionsfähigkeit von Unternehmen zugrunde liegt und
das sich nicht etwa daran zeigt, dass es im Unternehmen drunter
und drüber geht, sondern daran, dass es auf allen
Entscheidungsebenen vom kleinsten Mitarbeiter bis zum
bedeutendsten Vorstandsmitglied über exakt so viel Unbestimmtheit
verfügt, dass es sich laufend neu und präzise auf Umstände und
Chancen einstellen kann, die sich laufend ändern. Wenn man weiß,
dass diese Unbestimmtheit nur die Regel eines Spiels ist, in dem
jeder einzelne Schritt sich gerade deswegen hochgradig genau
bestimmen lässt, sollte es möglich sein, den rheinischen
Kapitalismus so zu reformieren, dass er mit dem angelsächsischen
Schritt halten kann. Allerdings wird diese Reform nicht im
Handumdrehen und nicht nur auf der Grundlage
betriebswirtschaftlicher Kenntnisse möglich sein. Wir brauchen
eine Theorie des postheroischen Managements, eine Therapie der
sich immer wieder in ihre eigene Misere verstrickenden
Unternehmen und eine Unternehmensberatung, die etwas von den
Prozessen versteht, mit denen Organisationen lernen können, sich
auf allen Ebenen selbst zu führen und nicht laufend auf Führung
durch andere zu warten [8].
Und wir brauchen ein dazu passendes
Organisationsverständnis. Auf der Suche danach hilft uns ein
weiteres Mal das Theater. Als im Juni 2002 in Duisburg im Rahmen
des Theaterfestivals "Theater der Welt: Western West Germany"
einige Theaterbesucher Karten für eine Vorstellung namens
X Wohnungen erwerben, wissen sie noch nicht, worauf sie
sich einlassen, und wissen erst recht nicht, dass sie Teil einer
neuen und viel versprechenden Form des Theaters sein würden, die
sich bis heute am Hebbel Theater Berlin großer Beliebtheit
erfreut. Paar- und allenfalls trüppchenweise werden sie durch
Duisburg geschickt, in der Hand einen Plan, der sie von Adresse
zu Adresse, von einer Wohnung zu einer anderen leitet. In jeder
Wohnung, mal eine Geschosswohnung, mal eine Villa, mal ein Zimmer
in einem Wohnheim, erleben sie eine Installation oder eine
Inszenierung, die von Künstlern aus aller Welt gestaltet wurde
und nicht mehr als vielleicht zehn oder 15 Minuten dauert. In
jeder Wohnung wird das Theater neu erfunden, mal in den
klassischsten Formen, mal ganz und gar ungewohnt, mal aufregend,
mal ganz entspannt, immer jedoch kurz und pointiert [9].
Was hier geschehen ist, kennt man in dieser Form sonst nur
aus der Quantenmechanik:
Schwache Voraussetzungen, hier ein allgemeiner Rahmen, der
aus nicht viel mehr besteht als aus dem Titel
X Wohnungen, einem nicht allzu üppigen Budget sowie der
Einladung an namhafte Künstler, sich zu beteiligen, werden durch
die Künstler in der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der
jeweiligen Wohnung in
starke Restriktionen umgesetzt, die ein Projekt als das
definieren, was es jeweils ist und als was es durch das Publikum
dann auch erlebt werden kann [10]. Die Pointe daran ist, dass die
Restriktionen nur daraus ihre Qualität gewinnen, dass die
Voraussetzungen schwacher Natur sind. Wären die Voraussetzungen
ihrerseits stark, könnte jedes einzelne Projekt sich nur daran
messen, ob es ihm gelingt, sie umzusetzen, oder ob es sie
verfehlt.
Diese Falsch/Richtig-Mentalität, diese Kultur der
Fehlervermeidung lassen X-Organisationen ebenso wie
X Wohnungen hinter sich. Es gibt keine Vorgaben, die man
verfehlen könnte, sondern nur das Risiko, ein Projekt, eine
Wohnung, eine Organisation zu gestalten, die niemanden
interessiert und zu keinerlei Anschlussaufträgen führt. Dieses
Risiko führt genauer als jede Vorgabe. Sie erlaubt es und
erzwingt es, in jedem Moment eigener Entscheidung zuzurechnen,
was passiert und was nicht passiert. Und dies ist das Gegenteil
der Möglichkeit, sich auf Ideen und Entscheidungen anderen und
"höheren" Orts herauszureden. Wenn man mit eigenen Entscheidungen
ins Risiko geht, kann man es nicht vermeiden, laufend aus allem
zu lernen, was geschieht und nicht geschieht. Und das ist die
operative Grundlage jeden denkbaren Erfolgs, sieht man einmal von
tayloristischen Organisationen ab, deren Programme andernorts auf
Effizienz und Effektivität durchgerechnet worden sind und die
dann vor Ort nur noch routiniert exekutiert werden müssen, ohne
sich davon irritieren zu lassen, dass Störungen auftreten, aus
denen man etwas über die Umwelt lernen müsste oder könnte. Solche
tayloristischen Organisationen gibt es auch und nach wie vor,
aber sie sind Produkt und Gegenstand weniger von Management und
Führung als vielmehr von Planung und müssen uns deswegen in
unserem Zusammenhang nicht interessieren.
Wir interessieren uns für X-Organisationen, das heißt für
Organisationen, die in allen ihren Stellen und Abteilungen
Freiheitsspielräume der Unbestimmtheit aufweisen und durch
schwache Rahmenbedingungen dazu gezwungen werden, sich auf eine
Art und Weise an ihrer Umwelt zu orientieren, die an keiner
Spitze und in keinem Zentrum vorweggenommen werden kann. Und wir
interessieren uns damit für Organisationen, die, das mag
überraschen, im Schnittpunkt bislang miteinander als unvereinbar
angenommener Managementlehre liegen, nämlich im Schnittpunkt der
Betriebswirtschaftslehre und
management science auf der einen Seite und der
Organisationstheorie und der Organisationsentwicklung auf der
anderen Seite. Hatte man und hatte auch ich bisher angenommen,
dass die Organisationstheorie vor allem darin ihre Leistung hat,
dass sie den blinden Fleck der Betriebswirtschaftslehre, die
Organisation als soziales System ausleuchtet [11], so würde ich
jetzt sagen, dass die Betriebswirtschaftslehre und die
Organisationstheorie zueinander in einem Komplementverhältnis
stehen, das wiederum an die von der Quantenmechanik beschriebene
Komplementarität von Beschreibungen erinnert [12]. Erich
Gutenbergs Geniestreich war es, die Organisation als
gegebene und unbekannte Größe X einzuklammern und damit
aus der BWL auszuklammern, um sie so einem technischen
Effektivitäts- und wirtschaftlichen Effizienzkalkül (oder war es
umgekehrt?) zu unterwerfen, das umso schärfer auf Ursachen und
Wirkungen sowie Kosten und Nutzen achten konnte, als es den
hierfür wie dafür vorauszusetzenden Realitätsunterbau nicht zu
verstehen und, angenehmer Nebeneffekt, sich dementsprechend auch
nicht an ihn gebunden zu fühlen brauchte [13].
Die Organisationstheorie seit Herbert A. Simon korrigiert
dies nicht etwa, sondern sie liefert dazu das passende
Komplement, indem sie in der Begrifflichkeit von
Entscheidungsprämissen, Ungewissheitsabsorption und loser
Kopplung nicht etwa bestimmt, was eine Organisation "ist",
sondern bei genauerer Betrachtung jene Prinzipien der
Organisation zweiter Ordnung angibt, die eine Organisation
befähigen, sich auf der Grundlage von Entscheidungen, die sich
mit der jeweiligen Umwelt auseinander setzen, sie sogar
gestalten, wie Weick sagt ("enactment"), selbst zu organisieren
[14]. Kongenial dazu sind Lehrbücher wie etwa jenes zur
Organisationsentwicklung, das eine Vielfalt von
Interventionsmöglichkeiten in Organisationen vorstellt und
diskutiert, ohne auch nur den Versuch zu machen, zu definieren,
was eine Organisation ist [15].
Niklas Luhmann hat die Grundidee, ohne sich erkennbar an
postklassischen Theorien oder an Praktiken des postheroischen
Managements zu orientieren, bereits sehr früh auf den Punkt
gebracht und über alle Etappen der Entwicklung seiner
Organisationstheorie an ihr festgehalten. Für ihn kulminiert die
soziale Bestimmtheit der Organisation in der Formalisierung von
Mitgliedschaftsrollen, das heißt in der Möglichkeit, Adressaten
für Entscheidungen zu finden und daran Versuche anschließen zu
können, immer wieder neu festzulegen, wie diese Adressaten,
Mitarbeiter wie Vorstände, Produktentwickler wie
Marketingexperten, Controller wie Personalentwickler, mit
Entscheidungen umgehen [16]. Die Mitgliedschaftsrolle jedoch ist
trotz aller technischen und bürokratischen Versuche, sie auf ganz
bestimmte Verhaltensmuster und Handlungsreichweiten festzulegen,
grundsätzlich und systematisch mit nicht komplett zu
inhibierenden Unbestimmtheitsspielräumen ausgestattet. Sie ist
Gegenstand einer Indifferenzzone, deren Grenzen nicht immer
scharf gezogen sind, und sie ist Ansatzpunkt für die Emergenz
"informeller" Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer
Organisation, in die alle formalen Rollen auf eine Art und Weise
eingebettet sind, die diese sowohl zu tragen als auch zu
blockieren, in jedem Fall jedoch vielfältig zu moderieren
erlauben [17]. Und sie ist in jeder ihrer Dimensionen, von der
Arbeitsmotivation über Qualifikation und professionelles
Selbstverständnis bis zu den Lohnerwartungen, durch vielfältige
Erwartungen des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds
jederzeit so tangierbar, dass keine Organisation eine Chance hat,
ihre eigenen "organisationskulturellen" Vorstellungen gegen eine
Gesellschaft durchzusetzen, die nicht bereit ist, diese zu
akzeptieren.
Nicht zuletzt jedoch bringt die Mitgliedschaftsrolle es mit
sich, solange sie von Menschen ausgefüllt wird, dass körperliche
und mentale Eigenschaften der Menschen, die sie ausfüllen, eine
Rolle spielen, die über die formalen Mitgliedschaftsdefinitionen
hinausreichen und nicht schlicht am Werktor oder an der Bürotür
abgeben werden. Klassische Organisationen haben lange genug
Formen der Arbeitsdisziplin (man denke an Max Webers Beschreibung
des "Gehorsams" als unverzichtbarer Bedingung bürokratischer
Organisationen [18]) gepflegt, in denen unterstellt werden
konnte, dass von Mitgliedern der Organisation keine
Unbestimmtheit zu befürchten ist. Moderne Organisationstheorien
stellen in genau diesem Punkt radikal um. Sie verlangen von und
konzedieren ihren Mitgliedern eine
mindfulness, eine Form der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit,
der über Wahrnehmung und nicht nur über Kommunikation gesteuerten
Kooperation, die diese Mitarbeiter mit Haut und Haar in Anspruch
nimmt und die interessanterweise nicht über Ausbildung und
Weiterbildung, das heißt intellektuell, sondern nur über
Training, das heißt in allen kognitiven Dimensionen, emotional
wie intellektuell, willkürlich wie unwillkürlich, vermittelt
werden kann [19].
X-Organisationen sind Organisationen, die ihre eigene
Nichttrivialität nicht nur akzeptieren, sondern fördern und die
dazu auf der Suche nach Ideen und Regeln eines postheroischen
Managements sind, die sich ganz allmählich herauszuschälen
beginnen und die umso erkennbarer und formulierbarer werden, je
mehr das Ordnungsprinzip der Organisation umgestellt wird von
Hierarchie auf Heterarchie, von vertikalem Durchgriff auf
horizontale und laterale Netzwerke [20]. Hierfür werden wir
Theorien, Therapien und Beratungsleistungen bereitstellen müssen.
Dann darf man gespannt sein, wie ein Wort das andere gibt und
alle Beteiligten aushandeln, wie sie ihr eigenes Spiel im Spiel
der anderen zur Geltung bringen.
Prof. Dr. Dirk Baecker lehrt Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Er ist Mitveranstalter der Konferenz "X-Organisationen: 1. Berliner Biennale für Management und Beratung im System", die vom 17. bis 19. November 2005 in Berlin stattfinden wird.
[1] Siehe Malcolm Gladwell:
Blink: The Power of Thinking Without Thinking. Little,
Brown & Co., New York 2005, S. 111 ff.
[2] Siehe Keith Johnstone:
Impro: Improvisation and the Theatre. Theatre Art Books,
New York 1979, zit. Gladwell, a. a. O., S. 114.
[3] Siehe Kevin J. Murphy / Ján Zábojník: "CEO Pay and
Appointment: A Market-Based Explanation for Recent Trends", in:
American Economic Review (Papers & Proceedings) 94
(May 2004), S. 192-196.
[4] Siehe John Roberts:
The Modern Firm: Organizational Design for Performance and
Growth. Oxford UP, Oxford 2004.
[5] Vgl. Barbara Herrnstein Smith / Arkady Plotnitsky:
"Networks and Symmetries, Decidable and Undecidable", in:
South Atlantic Quarterly 94, no. 2: Special Issue on
Mathematics, Science, and Postclassical Theory, hrsg. von Barbara
Herrnstein Smith / Arkady Plotnitsky, Duke UP, Durham, NC, 1995,
S. 371-388.
[6] So in Warren S. McCulloch: "Toward Some Circuitry of
Ethical Robots or An Observational Science of the Genesis of
Social Evaluation in the Mind-Like Behavior of Artifacts", in:
ders.:
Embodiments of Mind. 2. Aufl., MIT Pr., Cambridge, Mass,
1989, 194-202, hier: S. 200.
[7] Vgl. Kunihiko Kaneko: "Chaos as a Source of Complexity
and Diversity in Evolution", in: Artificial Life 1, 1994, S.
163-177.
[8] Ansätze dazu gibt es längst. Siehe Dirk Baecker:
Postheroisches Management: Ein Vademecum. Merve, Berlin 1993;
ders.:
Organisation als System: Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt am
Main 1999; ders.:
Organisation und Management: Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt
am Main 2003; Fritz B. Simon:
Meine Psychose, mein Fahrrad und ich: Zur Selbstorganisation
der Verrücktheit. Auer, Heidelberg 1991; ders.:
Gemeinsam sind wir blöd!? Die Intelligenz von Unternehmen,
Managern und Märkten. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2004;
Reinhart Nagel / Rudolf Wimmer:
Systemische Strategieentwicklung: Modelle und Instrumente für
Berater und Entscheider, Klett-Cotta, Stuttgart 2002; Rudolf
Wimmer:
Organisation und Beratung: Systemtheoretische Perspektiven für
die Praxis. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2004.
[9] Siehe Arved Schultze / Steffi Wurster (Hrsg.):
X Wohnungen: Duisburg 2002. Mit einer Einführung von
Matthias Lilienthal, Alexander Verlag, Berlin 2003.
[10] Siehe in diesem Sinne Peter Mittelstaedt: "Universell
und inkonsistent? Quantenmechanik am Ende des 20. Jahrhunderts",
in: Physikalische Blätter 56, Nr. 12 (2002), S. 65 ff.
[11] Siehe insbesondere meine Einleitung in:
Organisation und Management, a. a. O., S. 9 ff.
[12] Siehe etwa Niels Bohr:
Atomic Theory and the Description of Nature. Macmillan,
New York 1934.
[13] Siehe vor allem Erich Gutenberg:
Die Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher
Theorie. Spaeth & Linde, Berlin 1929, explizit etwa S.
26.
[14] Siehe nur die Klassiker Herbert A. Simon:
Administrative Behavior: A Study of Decision-Making Processes
in Administrative Organization. 4. Aufl., Free Pr., New York
1997; James G. March / Herbert A. Simon:
Organizations. 2. Aufl., Blackwell, Cambridge, Mass, 1993;
Richard M. Cyert / James G. March:
A Behavioral Theory of the Firm. 2. Aufl., Blackwell,
Cambridge, Mass, 1992; Karl E. Weick:
The Social Psychology of Organizing. 2. Aufl.,
Addison-Wesley, Reading, Mass, 1979.
[15] So Thomas G. Cummings / Christopher G. Worley:
Organization Development and Change. 5. Aufl., West Publ.,
St. Paul, Minn, 1993.
[16] Siehe zuerst Niklas Luhmann:
Funktionen und Folgen formaler Organisation [1964]. 4.
Aufl., Duncker & Humblot, 1995, S. 39 ff.; und zuletzt ders.:
Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verl.,
Opladen 2000, S. 80 ff.
[17] So schon Chester I. Barnard:
The Functions of the Executive. Reprint Harvard UP,
Cambridge, Mass, 1968.
[18] Siehe Max Weber:
Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden
Soziologie. 5., rev. Auflage, Studienausgabe, Mohr, Tübingen
1990, S. 126 ff.
[19] So vor allem Karl E. Weick / Kathleen M. Sutcliffe:
Managing the Unexpected: Assuring High-Performance in an Age
of Complexity. Jossey-Bass, San Francisco 2001.
[20] Ausgangspunkte formuliert einmal mehr Heinz von
Foerster: "Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und
betriebswirtschaftlichen Bereich", in: ders.:
Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1993, S. 233-268.
www.mz-witten.de
www.x-organisationen.de
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Dirk BaeckerDirk Baecker ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Er ist einer der prominentesten Vertreter der Soziologischen Systemtheorie.