Wie depressiv ist Deutschland?
Drei Tage vor der Wahl lud das
Management Zentrum Witten der Universität Witten/Herdecke in den
grünen Salon der Berliner Volksbühne. Wo sonst die Swinger mit
den Beinen schlackern, präsentierten die Erfinder des
Depressionsbarometers Deutschlands ihre ersten Ergebnisse. Seit
Jahren wird über die Jammer-Republik, Wirtschaftsmisere und
deutsches Selbstmitleid schwadroniert. Jetzt wollten die Forscher
wissen: Wie depressiv ist Deutschland wirklich? Nicht zuletzt,
weil zwar viel erhoben und erfasst wird, doch noch nie die
Wechselwirkung zwischen Volkswirtschaft und Volkspsychologie
systematisch analysiert wurde. Dabei ist die Bedeutung der
Gemütslage kaum zu überschätzen: Sie bestimmt zu einem
wesentlichen Teil die wirtschaftliche Lage, entscheidet über
Investitionen, Kauflust und Arbeitseifer. Die Gemütslage wird
ihrerseits von der wirtschaftlichen Lage beeinflusst. Deshalb
sollte ein Depressionsbarometerwert neben dem Geschäftsklimaindex
künftig zu den wichtigsten Indikatoren der wirtschaftlichen
Entwicklung der Bundesrepublik zählen.
77.000 Menschen haben seit Projektstart vor zweieinhalb
Monaten an der Online-Umfrage teilgenommen und Auskunft über
ihren Seelenzustand gegeben. Dafür mussten sie sieben Fragen aus
der klinischen Psychiatrie beantworten. Das Ergebnis: Männer über
60 sind die glücklichsten Deutschen, Frauen über 60 die
unglücklichsten. Guten Mutes dagegen sind Frauen zwischen 20 und
30 Jahren. Generell steigt die Stimmung mit höherem
Bildungsstand, die Depressionswerte nehmen ab. Und, irgendwo
macht Geld eben doch glücklich: je höher das Einkommen, desto
geringer der Depriindex.
Eine Art Todstellreflex.
Das Depressionsbarometer wird
täglich weitererhoben. Selten ist es so spannend wie jetzt, in
den Tagen vor der Wahl. Es sagt einiges über die
Funktionsmechanismen von Depressionen, dass es seit einigen Tag
bergauf geht. Aktueller Depriwert: 18,1. Fritz B. Simon hat eine
Erklärung aus psychiatrischer Sicht: "Depressionen haben etwas
mit Zukunftserwartungen zu tun. Man sieht keine
Handlungsmöglichkeiten mehr und verharrt, unfähig zu Flucht oder
Kampf, in einer Art Todstellreflex." Das beste Mittel gegen
Depressionen: Fremdaggression. "Wenn ich jemand anderem eines
auswische, geht es mir gleich besser. Und diese Aussicht könnte
die depressiven Wähler vor dem Wahlwochenende beflügeln."
Sicher, eine repräsentative Umfrage ist das
Depressionsbarometer nicht. Mit 64 Prozent sind überproportional
Männer vertreten, 44 Prozent haben Abitur oder einen
Hochschulabschluss. Wer nicht die Website
www.depressionsbarometer.de selbst kannte,
fand über die Online-Auftritte bei n-tv und das Internetportal
Lycos dahin. Das ist bereits eine Vorauswahl. Und doch, so
Marktforschungsexperte Malte Friedrich-Freska, sei die Menge der
ausgewerteten Fragebögen so groß, dass sich zumindest Tendenzen
in der Stimmungslage des Landes durchaus ausmachen lassen.
In der Gründerzeit war's schlimmer.
Der Ökonom Stefan Jansen von der Zeppelin-Universität am Bodensee hob hervor, dass Depressionen aus wirtschaftlicher Perspektive nicht nur als Verlust gedeutet werden müssen. Schließlich bringe die Kompensation der Depressionen ganze Branchen zum Erblühen: die Schönheitschirurgie, die Wellnessveranstalter, Therapeuten, Sicherheitsdienstleister. Alles treffliche Antidepressiva. Andererseits: 43 Milliarden Dollar im Jahr gehen laut dem Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft der US-Ökonomie durch depressive Arbeitnehmer verloren. Und schon jetzt leiden in Europa 37 Millionen Europäer an "beschäftigungsbedingten Depressionen", kein Zufall, dass bei jenen, die noch Arbeit haben, die Fehlzeiten um 52,5 Prozent (Deutschland) gestiegen sind. "Dennoch: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass wir noch längst nicht die Verzweiflungsstadien wie in Zeiten der schlimmsten Wirtschaftskrisen erreicht haben", sagte Jansen. "1874, nach dem Gründerkrach, als 61 Banken und Hunderte von Fabriken Pleite gingen, rief man nach dem Staat - er sollte eingreifen, um die Zahl der Selbstmorde zu verhindern."
Überfällig: der ambivalente Blick.
Und heute? Muss man sich Sorgen
machen? "Manchmal frage ich mich schon, wie wir das schaffen
wollen angesichts solcher Werte", sagt Simon. "Wir haben es mit
einem kulturellen, sozialpsychologischen Problem großer
Ratlosigkeit zu tun. Und sicher waren wir Deutschen schon immer
schwermütiger als andere. Aber hinter unserer depressiven Haltung
tut sich eine zentrale Frage auf: Wie kommunizieren wir in
Deutschland über Deutschland? Wie beobachten wir uns selbst, wenn
uns die anderen immer optimistischer sehen, als wir uns selbst?
Es geht nicht um 'positive thinking'. Aber wir müssen endlich
lernen, ambivalent auf Deutschland zu schauen: auf die guten und
die schwierigen Seiten."
Die Stimmungsforschung geht weiter. Abend für Abend um 18
Uhr wird am veritablen Depressionsbarometer vor der Berliner
Volksbühne noch bis drei Tage nach der Bundestagswahl die
Stimmung verlesen. Vielleicht geht's in Vorfreude auf die Wahl ja
weiter bergauf mit dem Volksgemüt. Damit die holländische
Schauspielerin Pia Douwes, die in Berlin das Depressionsbarometer
enthüllte, nie wieder wird dichten müssen: "Die Depression ist
nicht sehr nett, wer depressiv ist, bleibt im Bett; so manches
geht in Deutschland schief, weil so viele sind depressiv."
www.mz-witten.de
www.depressionsbarometer.de
www.x-organisationen.de
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
© changeX Partnerforum [16.09.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.