Was brauchen Virtuelle Unternehmen?
Neue Forschungsergebnisse und Instrumente zur Unterstützung virtueller Zusammenarbeit.
Von Peter Steiner
Welche Prozesse, Organisationsstrukturen und Kompetenzen sind für Virtuelle Unternehmen heute wichtig? Eine Vico-Tagung in Dortmund gab Einblicke in Grundlagenforschung und unternehmerische Praxis. Ein Tagungsbericht von Peter Steiner.
Vico TagungVirtuelle Unternehmen zeichnen sich ihrer Definition nach aus durch hohe Flexibilität, Konzentration auf Kernkompetenzen, Verzicht auf Institutionalisierung zentraler Managementfunktionen, Vertrauen, gemeinsames Geschäftsverständnis, Kundenorientierung, Einsatz von IuK-Technologie, Unternehmensnetzwerken als Basis und schließlich einer zeitlich begrenzten Lebensdauer. In Reinform wird man Virtuelle Unternehmen, selbst wenn sie sich selbst so bezeichnen, kaum finden. Inzwischen existieren jedoch Hybride und Spielarten virtueller Zusammenarbeit, die mehrere oder sogar die meisten der oben aufgezählten Merkmale besitzen.
Derartige Unternehmen bewegen sich in den unterschiedlichsten Branchen, von der Luft- und Raumfahrtindustrie über den Medienbereich bis hin zur Biotechnologiebranche. Sie schließen Produktionsprozesse mit ein und bewegen sich stark im Dienstleistungssektor. Dabei geht es um Projekte und Aufträge, die für Kunden und Auftraggeber letztlich zu deren Zufriedenheit in individualisierter Weise abgewickelt werden sollen. Und dies soll virtuell, über IT und Telekommunikation, wenn möglich auf bloßer Vertrauensbasis unter den zusammengeschlossenen Mitarbeitern, temporär und ohne Hierarchien funktionieren. Welche Prozesse, welche Organisationsstrukturen und welche Kompetenzen müssen dabei für eine erfolgreiche Abwicklung zusammenkommen?

Grundlagenforschung.


Die Tagung "Unternehmensübergreifende Prozesse und ganzheitliche Kompetenzentwicklung: Neue Forschungsergebnisse und visionäre Instrumente zur Unterstützung virtueller Zusammenarbeit", die am 3. und 4. März 2005 im Campus-Treff der Universität Dortmund stattfand, hat sich diesem Themenkomplex gewidmet. In drei Plenarvorträgen und 19 weiteren Vorträgen, die in zwei parallele Panels: "Prozesse und Organisation" und "Kompetenzen" eingeteilt waren, wurden Grundlagen und neueste Entwicklungen vorgestellt und diskutiert. Veranstaltet wurde der Workshop von den beiden BMBF-Projekten ViCO und NErVUM, angesiedelt am Lehrstuhl Technik und ihre Didaktik und dem Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Dortmund.
In den Plenarvorträgen stellten Experten die Grundlagen aus der Sicht der beruflichen Weiterbildung und der Betriebswirtschaft dar. Prof. Dr. John Erpenbeck, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e.V. in Berlin, hat im Wesentlichen das Thema der Kompetenzentwicklung vor dem Hintergrund selbstorganisierender Modelle thematisiert. Kompetenzen sind ihm zufolge evolutionär entstandene Dispositionen, die Pfade zur Lösung von Problemen entdecken und beschreiten. Im Falle Virtueller Unternehmen bilden sich insbesondere durch die Nutzung von IT- und Kommunikationstechnologien Formen der Zusammenarbeit aus, die neue sozial-kommunikative Kompetenzen erfordern.
Prof. Dr. Michael Reiss von der Universität Stuttgart identifizierte Netzwerkkompetenz als organisatorische Herausforderung für Virtuelle Unternehmen, vor allem, weil sie existentiell wichtige Infrastrukturen importieren müssen. Die Geschäftstätigkeiten Virtueller Unternehmen sind darüber hinaus durch "Koopkurrenz", die Überlagerung von Kooperation und Konkurrenz, geprägt. Netzwerkkompetenz umfasst daher neben der Konfigurations- und der Veränderungskompetenz auch die Vernetzungskompetenz, die aufgabenbezogene und mitgliederbezogene Interaktionen bewirken muss, sowie die Infrastrukturkompetenz, die integrative Rahmenbedingungen schaffen soll, zum Beispiel Spielregeln und Koordination.
Prof. Dr. Gerhard Zimmer von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg führte aus, dass die Entwicklung und Unterstützung virtueller Zusammenarbeit zunächst der Konzeptualisierung einer neuen informations- und kommunikationstechnologischen Infrastruktur bedarf, in der die unterstützenden Angebote für die erforderliche fortlaufende Personal- und Organisationsentwicklung bereitgestellt werden können.

Mitarbeiterförderung in Virtuellen Unternehmen.


Welche Prozess- und Organisationsstrukturen im einzelnen vorliegen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Instrumente zur Entwicklung von Kompetenzen für Virtuelle Unternehmen entwickelt werden können, das haben mehr als ein Dutzend Projekte aus dem Programm "Innovative Arbeitsgestaltung - Zukunft der Arbeit" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gezeigt.
Seit eineinhalb Jahren arbeitet ViCO als Verbundprojekt von sechs Kooperationspartnern aus der Wissenschaft und zwei Unternehmen aus der Wirtschaft an einem "virtuellen Qualifizierungscoach", der die Mitarbeitenden in Unternehmensnetzwerken künftig bei der Weiterbildung unterstützen soll. In der ersten Projektphase, die jetzt abgeschlossen ist, wurde untersucht, wie virtuelle Organisationen beziehungsweise Netzwerke arbeiten, welche Schlüsselkompetenzen man braucht, um darin erfolgreich zu sein, und wie man diese Mitarbeiter mit Personal- und Organisationsentwicklungstools dabei unterstützen kann. Als Ziel von ViCO soll Mitarbeitenden in virtuellen Unternehmen ein Instrument medialer Interaktion angeboten werden können, das sie in ihrer persönlichen Kompetenzentwicklung begleitet und die Identifizierung geeigneter Qualifizierungsangebote ermöglicht. Zentrales Element ist ein auf Kommunikation aufbauendes didaktisches Metamodell, das explizit Lernende in ihrer Sprechweise bei ihren Entscheidungen über das Was, Wie, Wann etc. ihrer Qualifizierung unterstützt.
Im Rahmen qualitativer und quantitativer Forschungen untersuchte das Projekt NErVUM, Neue Erwerbsbiografien in virtuellen Unternehmen der Medienwirtschaft, über welche Kompetenzen "Quereinsteiger" und "Job-Nomaden" verfügen und wie die Personalentwicklung eines solchen Personenkreises, auch und vor allem im Kontext virtueller Arbeitsstrukturen, verbessert werden kann. Dazu hat NErVUM ein internetgestütztes Profilingtool entwickelt. Das System arbeitet mit Referenzprofilen, die typische "Rollen" von Mitarbeitenden in unterschiedlichen Projekten beschreiben. Anhand dieser Referenzprofile werden adaptierte Profile für die Mitarbeiter erstellt, die sich hoch individuell aus Kompetenzen verschiedener Rollen, Schlüsselqualifikationen und weitergehenden Qualifikationen zusammensetzen. Ausgelöst vor allem durch den Preisverfall und die Umstrukturierungen, die Globalisierung, Rationalisierungen und Computerisierung mit sich gebracht haben, ist die Medienbranche einem enorm raschen Wandel unterworfen. Dr. Hafkesbrink von der Aröw GmbH, einem Cross-Media-Produzenten, hat diese Umstrukturierungen am Beispiel der inzwischen benötigten vielfältigen Kompetenzen in der Branche und an der Schnittstelle zur Forschung von NErVUM aufgezeigt.

Die Projekte stellen sich vor.


Ungeführte Netzwerke, insbesondere im Produktionsbereich, haben sich als grundsätzlich undurchschaubar und nicht lebensfähig erwiesen, wie Dr.-Ing. Wegehaupt und ein Forschungsteam der RWTH Aachen herausgefunden haben. Organisationsmodelle haben sich für dieses Forschungsfeld als unzureichendes Instrument herausgestellt, der wirtschaftliche Nutzen hat sich insbesondere für ungeführte Netzwerke als zweifelhaft erwiesen und Führungsprinzipien, die im Managementbereich allgemein anerkannt sind, haben sich als Desiderat ergeben.
Der Aufbau einer Prozessorganisation Virtueller Unternehmen für die Luftfahrtindustrie, den das Projekt Aervico in Aussicht stellt, wird dadurch erleichtert, dass verteiltes Arbeiten in diesem Industriezweig schon seit langem praktiziert wird und sich Interessensvertretungen der Zulieferer und kleiner beteiligter Unternehmen herausgebildet haben, welche die geplante Arbeitsweise unterstützen.
Arbeit@VU ist ein Karlsruher Projekt, das den Gestaltungsrahmen für die Zusammenarbeit Virtueller Unternehmen in einer Art Handbuch zusammenfassen will, während das Projekt KOVIUS, an der Universität Bamberg angesiedelt, das Modell Virtueller Unternehmen auf den Bereich der Kommunen anwenden will.
Die Beraterin Heike Arnold hob in ihrem Beitrag "Vergessen Sie, was Sie wissen" vor allem auf die Flexibilitätskompetenz von Virtuellen Unternehmen beziehungsweise deren Mitgliedern ab. In virtuellen Organisationen liegt ein hoher Anspruch darin, für jeden Kunden die beste und gleichzeitig eine individuelle Lösung für ein Problem zu entwickeln. Daher besteht eine wesentliche Kompetenz von Menschen, die in solchen Projekten arbeiten, in der "Kunst des Vergessens", das heißt in der Fähigkeit und dem Willen, die Dinge immer wieder neu zu denken. Hierbei spielt die Bereitschaft eine wichtige Rolle, sich die Arbeit nicht durch den Rückgriff auf Bewährtes zu erleichtern und auf Selbstverwirklichung in einem Projekt zu verzichten.
"Lifestyle-Management in virtualisierten Arbeitskontexten" war das Thema des Projekts Vilma. Die Balance zwischen Belastungen und Ressourcen ist bei Mitarbeitern Virtueller Unternehmen ein besonderes Thema, weil es hierbei zu Beanspruchungssituationen kommen kann, die kein Betriebsrat und keine innerbetrieblich vorhandene Ressource auszugleichen imstande sind. Ein gesundheitsorientiertes Lifestyle-Management im Sinne einer eigenverantwortlichen Strukturierung des Lebensstils, das die körperlichen und seelischen Selbstheilungskräfte fördern hilft, wird daher notwendig. Dazu zählen der gesundheitsfördernde Umgang mit Ernährung und Bewegung sowie die Regulation von An- und Entspannung.
Das Projekt Vipnet hat einerseits beobachtet, dass Netzwerke in der Abwicklung ihrer Projekte das Selbstständigmachen von Projektmitarbeitern fördern, die sich eher als Generalisten ausweisen. Während Spezialisten, insbesondere im Softwarebereich, eher an eine Unternehmung durch Verträge und Anstellung dauerhaft gebunden werden. Die Beobachtungen gehen andererseits dahin, dass das Wissen über die Strukturen innerhalb projektartiger Netzwerke zu erheblichen Anteilen subjektive Merkmale aufweist. Das Wissen über das "eigene Netzwerk" bleibt dadurch vielfach unausgesprochen und es fehlt eine Systematik von organisationalen Lernprozessen. Aus diesen Untersuchungen sollen Empfehlungen für ein besseres Wissensmanagement entwickelt werden.
Teamtraining wird im Rahmen des Projektes InVirtO erstellt und evaluiert. Dabei wird die Anbahnung und Gestaltung virtueller Kooperationen in der Biotechnologiebranche betrachtet mit dem Ziel, geeignete Instrumente zur Unterstützung der Unternehmens- und Kompetenzentwicklung zu generieren.
Die Entwicklung der Branche Biotechnologie untersucht auch das Projekt VirtoWeB. Kleinere Unternehmen aus dem Life-Science-Bereich werden zunehmend zu strategischen Kooperationen und Allianzen gezwungen, um so vernetzt das eigene Leistungs- und Produktportfolio zu erweitern und als Komplettanbieter am Markt agieren zu können. Die daraus entstehenden virtuellen Unternehmen unterliegen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Für VirtoWeB hat auch Herr Zoche vom Fraunhofer-Institut ISI virtuelle Unternehmen untersucht. Ein souveräner Umgang mit IT- und Telekommunikationslösungen zeigt sich dabei in der täglichen Arbeit als unerlässlich. Virtuelle Unternehmen erproben nicht nur neue Kommunikations- und Interaktionsmuster, sondern sind auch in besonderer Weise Prozessen der Virtualisierung ausgesetzt und entwickeln diese weiter.
Aus dem Forschungsvorhaben " vertikult - Entwicklung eines vertikalen Portals für kulturelle Aufgaben" liegen erste Forschungsergebnisse vor. Sie zeigen, unter welchen Voraussetzungen virtuelle Arbeitsformen in einem traditionell konservativ agierenden Umfeld entstehen und unter welchen Bedingungen diese akzeptiert werden.
Spiko dagegen entwickelt ein simulationsbasiertes Planspiel, welches in hinreichender Weise die Darstellung und das Verständnis komplexer Zusammenhänge einer Kooperation erlaubt.
Frau Posor, Doktorandin an der Uni Hamburg, untersuchte den Einsatz von Moderationstechniken in virtuellen Umgebungen, die sich bislang nur im E-Learning durchgesetzt haben. Ihren Untersuchungen zufolge bietet es sich durchaus an, Kommunikationsprozesse, die erfolgreich in der Gruppenarbeit im E-Learning eingesetzt werden, auch auf virtuelle Unternehmen zu übertragen.
Insgesamt wurde bei der Tagung von ViCO und NErVUM ein Kaleidoskop der Forschung zu Virtuellen Unternehmen und Beispiele für die Ermöglichung von Kompetenzentwicklungen und die Optimierung von Prozessen und Organisation aufgezeigt. Wir sind gespannt auf die weitere Entwicklung, wenn es darum geht, Forschungsergebnisse aufzuzeigen, die an der Schwelle zur Umsetzung in die Praxis stehen.

E-Mail des Autors:
steiner@global-lectures.de

Weitere Informationen über die Tagung
und die beteiligten Projekte:

Martina Kunzendorf
Projekt ViCO, Lehrstuhl Technik und ihre Didaktik
Universität Dortmund
Tel: 0231 7554125
martina.kunzendorf@uni-dortmund.de

www.virtueller-coach.de

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Autor

Peter M. Steiner

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