Reengineering Europe
Am Rand einer neuen Epoche: Europa und die Suche nach einem zukunftsfähigen Selbstverständnis.
Von Klaus Burmeister und Holger Glockner
Asiens Aufschwung verändert die Strukturen der Weltwirtschaft. Die ökonomischen Gewichte verschieben sich. Für Europa bedeutet das, dass es seine Rolle neu definieren muss, wenn es beim "Shift to Asia" nicht der Verlierer sein will.
Gab es Ende der 60er Jahre eine politisch determinierte Debatte um die so genannte "gelbe Gefahr", erleben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine durch klare ökonomische Fakten getragene Diskussion um den Bedeutungszuwachs Chinas und von Asien überhaupt. China schickt sich an, zu einem Global Player der weltweit führenden Industrienationen aufzusteigen. Spätestens zu Beginn der zweiten Dekade, so die Prognosen namhafter Wirtschaftsinstitute, wird Deutschland von China auf Platz vier in der Hitliste der Weltökonomien verwiesen. Was wir derzeit erleben, ist ein "Shift to Asia", eine nachhaltige Verschiebung in der Gewichtung der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen in der Triade zwischen Europa, den USA und Asien. In einem Jahr, in dem das globale Wachstum laut IWF höher ist als in den letzten 25 Jahren, droht Europa langsam den Anschluss zu verpassen. Eine durch Ängste inspirierte Debatte führt allerdings nicht weiter. Im Gegenteil muss Europa proaktiv seine Rolle in einer neuen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Weltordnung definieren.

Asiens Aufschwung verändert die Strukturen der Weltwirtschaft.


Was passiert? Europa und die USA haben bislang den Welthandel mit ihrem intra- und interregionalen Waren- und Dienstleistungsaustausch dominiert. Sie haben der Weltwirtschaft ihren ökonomischen und kulturellen Stempel aufgedrückt. "Go west" wurde - und ist es sicher noch - das Synonym für individuelle und ökonomische Freiheit, Wohlstand und Lebensgefühl. Die ökonomische und kulturelle Hegemonie zeigt allerdings deutliche Verfallserscheinungen. Der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital zwischen den USA und Asien entwickelt sich zur dominanten globalen Transaktionsachse in der Triade, dagegen verlieren die Austauschbeziehungen zwischen den USA und Europa ihre traditionelle Führungsrolle.
Europa steht an einem sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Scheidepunkt. Die Vorzeichen für eine vorausschauende Gestaltung des tief greifenden Wandels sind eher bescheiden. Europa ist neben Japan weltweit die einzige Region, deren Bevölkerung, bedingt durch den demografischen Wandel, altert und schrumpft. Alternde Industrienationen, das hat die OECD nachgewiesen, besitzen weniger Innovationsdynamik, was die Wettbewerbsbedingungen insgesamt weiter verschlechtert. Die europäische Branchenstruktur trägt immer noch den Stempel des Industriezeitalters: Auto, Chemie, Maschinenbau und Energie. Im Sektor Telekommunikations- und Computerindustrie zeigt sich zwar ein gemischtes Bild, aber die technologischen und sozialen Impulse sowohl in der Unterhaltungsindustrie als auch bei Chips und Software gehen in der Regel nicht von Europa aus. Die Pharmaindustrie, die Kernbranche der Life Sciences, die laut Kondratieff rund um das Thema Gesundheit die nächste lange Welle der Basisinnovationen prägen wird, ist in Europa - abgesehen von Schweizer Unternehmen - stark durch nordamerikanische Konzerne geprägt.
Angesichts geringerer regulatorischer staatlicher Eingriffe und einer insgesamt größeren auch kulturellen Offenheit auf dem weiten Feld der Lebenswissenschaften sitzen die südostasiatischen Staaten in den Startlöchern, um an dem erwarteten Boom in vorderster Reihe teilzuhaben. Das rohstoffarme und energiefressende China sucht darüber hinaus notwendigerweise den Einstieg in eigenständige Energiepfade, sowohl auf dem klassischen Feld der Kernkraft, aber auch beim Einstieg in eine solare Wasserstoffwirtschaft. Die Europäische Union hat es bisher bei gut gemeinten programmatischen Aussagen (Lissabonner Konferenz) und einer aktiven Forschungsförderung auf dem Gebiet der Brennstoffzellen und solarem Wasserstoff belassen, konkrete Schritte zum gemeinsamen Einstieg in eine solare Wasserstoffwirtschaft stehen noch aus. Die betroffenen europäischen Branchen Energie und Automobil entwickeln zwar alle eigenständige Wege, investieren in eigene Lösungen, aber ein gemeinsames europäisches Großprojekt im Verein mit der EU, weiteren Industrien und Akteuren der Zivilgesellschaft zum Aufbau einer entsprechenden solaren Infrastruktur zeichnet sich nicht ab. Dies ist deshalb von herausragender Relevanz, weil durch den Aufbau einer neuen Infrastruktur erhebliche und zwar qualitative Wachstumsimpulse zu erwarten sind und es kaum vergleichbare Investitionsfelder mit ähnlichem Potenzial gibt.

Droht Europa eine Deindustrialisierung?


Die Konsequenzen der bisherigen Analyse spiegeln sich bisher nicht angemessen in den Diskussionen der politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in Europa wider. Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen und darauf hinweisen, dass erste Befunde auch auf Deindustrialisierungstendenzen in Europa deuten. Damit ist nicht gemeint, dass Europa dabei ist, den Übergang in eine wissensbasierte Gesellschaft erfolgreich zu meistern. Vielmehr spricht einiges dafür, dass insbesondere Unternehmen in den Kernbranchen Auto und Chemie den europäischen Markt sukzessive abschreiben. Die Wachstumsmärkte liegen anderswo. "Go east" lautet die Maxime in den entsprechenden Konzernzentralen, wenn es darum geht, Investitionsentscheidungen für den Aufbau neuer Fabrikationsstätten zu treffen.
Zugespitzt geht es gar noch einen Schritt weiter. Galt es lange als ausgemacht, dass die europäische Industrie die Blaupausen liefert und die Massenproduktion dann in den Billiglohnländern, beispielsweise in Südostasien, erfolgt, deuten erste Analysen auf ein grundsätzlich anderes Muster hin. Eine sich mit dem "Shift to Asia" abzeichnende neue internationale Arbeitsteilung wird nicht zwangsläufig dazu führen, dass die "dummen" Produkte abwandern und die "intelligenten" in Europa bleiben. Schon heute wandert die Produktion von Komponenten beispielsweise der Handyelektronik in den asiatischen Wirtschaftsraum. In Europa verbleibt nur die massenhafte Produktion der Handyschalen. Solche strategischen Unternehmensentscheidungen wiegen umso schwerer, wenn man die Folgewirkungen mit bedenkt. Das Produktwissen wandert mit aus, und vor Ort entstehen Produktionscluster mit entsprechenden Forschungs- und Entwicklungslabors. Europas Chancen, in den wissensintensiven Sektoren auch im globalen Wettbewerb zur Spitze zu zählen, werden dadurch weiter unterminiert. Die Arbeitskosten sind darüber hinaus in Asien insgesamt günstiger, es bestehen oft weniger bürokratische Hindernisse, der Zugriff auf junge, gut ausgebildete und hoch motivierte Fachkräfte ist fast grenzenlos und die Absatzmärkte liegen vor der Haustür.
Mit einer Verschiebung der ökonomischen Gewichte einher geht auch eine Neubestimmung der kulturellen Ausstrahlungskraft. Das Selbstverständnis Europas als Region der Dichter und Denker, der Dirigenten und Tenöre, der Modedesigner und Architekten und auch der Sportler wird schon mittelfristig seine kulturelle Hegemonie einbüßen. Es ist keine Larmoyanz, die bei der Feststellung mitschwingt, dort, wo ökonomisch die Musik spielt, dorthin richtet sich zukünftig auch die Aufmerksamkeit.

Europa benötigt eine ganzheitliche Innovationsperspektive.


Der "Shift to Asia" weist auf eine grundsätzliche und langfristig angelegte Neuorientierung in der Weltgesellschaft hin. Wir befinden uns in der Phase einer epochalen Neuverteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht auf dem Blauen Planeten. Die führende westliche Macht, die USA, ringt um ihren weltpolitischen Einfluss und ihre Geltung, 9/11, die politischen Folgen und die Umbrüche in der Weltökonomie sind die Begleitmusik.
Aus Sicht der europäischen Wirtschaft stellen sich sehr unterschiedliche Herausforderungen. Kurzfristig gedacht ergeben sich vielfältige Chancen, neue Märkte zu erobern und zu bedienen. Bereits mittelfristig wird es schwieriger für die Unternehmen werden. Erstens, das zeigt die Wirtschaftspolitik Chinas deutlich, will die selbstbewusste chinesische Industrie den Status eines Juniorpartners dauerhaft hinter sich lassen. Wir werden neue strategische Allianzen erleben, die keine europäische oder westliche Vorherrschaft mehr beinhalten.
Zweitens, die Innovationsdynamik und deren Inhalte und Leitbilder werden verstärkt von den Wachstumsmärkten ausgehen. Drittens entstehen neue Strukturen der internationalen Arbeitsteilung, die nicht mehr durch das Muster - hier in Europa werden Spezialprodukte gefertigt und dort findet als verlängerte Werkbank Massenproduktion statt - gekennzeichnet sein wird, als vielmehr durch eine verschärfte Konkurrenzsituation in allen Wertschöpfungsphasen, auch auf den einheimischen Märkten selbst. Langfristig gedacht kann es so werden, dass nach den Produktionsstätten auch die Forschungszentren und selbst Headquarter ihren Sitz dorthin verlagern, wo die Märkte sind. Es scheint deshalb durchaus, auch im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Logik, sinnvoll zu sein, sehr genau und vorausschauend zu prüfen, welche politischen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen sich aus einem "Shift to Asia" ergeben.
Deutlich wird, dass eine reine Orientierung auf die Anforderungen der asiatischen Märkte zu kurz greift und die europäische Industrie und deren Produkte ohne eine klare Innovationsorientierung nicht auskommen. Dabei fehlt es aber oftmals gerade an der wirtschaftlich erfolgreichen Umsetzung innovativer Produkte und Lösungen. Eine sinnvolle europäische Forschungsförderung muss dazu auch gezielt auf wachstumsträchtige Zukunftsmärkte ausgerichtet werden.
Die europäische Industrie hat ihre strukturpolitischen Lektionen zum Teil sehr schmerzlich verkraftet. Keine dynamische Entwicklung verläuft ohne Friktionen, das zeigt die ökonomische Entwicklung und das zeigen stellvertretend die aktuellen Krisenerscheinungen in China, wie zum Beispiel bei der Energieerzeugung, den ökologischen Problemen, bedingt durch die Massenmotorisierung, der Verknappung der Ressource Wasser, der unzureichenden Infrastrukturen in den Ballungsräumen und nicht zuletzt auch bei der Suche nach passfähigen sozialen Sicherungssystemen.
Auf all diesen Feldern kann die europäische Wirtschaft und Politik in den Wettbewerb eintreten. Nicht hochnäsig oder siegesgewiss, aber mit Know-how, Erfahrungen und flexiblen Innovationsstrategien. Erfolgreich werden Länder, Regionen und Unternehmen sein, die ihr Wissenspotenzial entfalten und es dauerhaft pflegen und ausbauen. Die europäische Infrastruktur birgt auf vielen Feldern durchaus positive Ansätze. Es kommt darauf an, den sozialen und wirtschaftlichen Wandel aktiv und vorausschauend mitzugestalten. Unternehmen werden dort besser aufgestellt sein, wo es gelingt, Innovationen auch durch neue Arrangements zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft dauerhaft zu ermöglichen.

Klaus Burmeister ist Zukunftsforscher und Gesellschafter von Z_punkt GmbH The Foresight Company.
Holger Glockner ist verantwortlicher Projektleiter der Z_trenddatenbank.

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Klaus Burmeister
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Klaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.

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Holger Glockner ist Director Foresight Consulting / Member of the Management von Z_punkt.

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