Es ist hohe Zeit für ein kleine Inventur. Wie fing eigentlich alles an mit Web 2.0? Dale Dougherty von O'Reilly Media war auf der Suche nach einem passenden Titel für eine Entwicklerkonferenz für das Jahr 2004. Es braute sich etwas zusammen - die Veränderungen im Web waren vielschichtig und kaum auf einen Nenner zu bringen. Der Begriff "Web 2.0" wurde geboren. Seitdem tobt die Debatte um den Wesenskern dieser webtechnologischen Epoche. Die Definitionsversuche kommen selten über eine wolkige Zusammenstellung von visionären Zielbegriffen einerseits und Technikvokabeln der Webentwickler andererseits hinaus. Wer nicht weiß, was Abkürzungen wie API, AJAX, SVG und XUL bedeuten, kann mit den Definitionen wenig anfangen.
Seit 2004, als die erste Web 2.0-Konferenz stattfand, hat sich Einiges getan. Die Konturen jenes neuen Web treten klarer hervor, Schlüsseltrends, Funktionsprinzipien und Geschäftsmodelle lassen sich erkennen. Wir lassen das Gestrüpp aus unverständlichem Technik-Slang auf der einen und "prophetischem Marketing" auf der anderen Seite hinter uns und werden das unbekannte Wesen Web 2.0 aus drei Perspektiven beleuchten: aus der Technologie-, der User- und der Business-Sicht. Technologie und User stehen in Folge 1 im Vordergrund, Folge 2, die im Juni erscheint, widmet sich den Business-Implikationen.
Web 2.0 als Technologie
Web 1.0 - Die Basisinnovation.
Offensichtlich grenzt das Web 2.0 sich selbstbewusst gegen das "alte" Web 1.0 ab und erhebt den Anspruch, dieses zu beerben. Hier lohnt es, kurz innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, worin das "alte Web" besteht. Die Situation "vor dem Web" war zunächst diese: Jahrzehntelang war das Internet ein Verbund vernetzter Server, das lediglich als weltweites Forschungsnetz genutzt wurde - von Forschern, für Forscher. Gleichzeitig existierten bereits sogenannte Hypertext-Syteme als lokale Anwendungen. Tim Berners-Lee zündete Anfang der 90er Jahre am Genfer CERN den Big Bang des Web 1.0, indem er beide Welten kurzschloss. Er baute den ersten Browser und entwickelte die HTML-Syntax mit dem Hyperlink-Prinzip, wobei mit Links jedes beliebige HTML-Dokument auf jedem beliebigen Server weltweit aufgerufen werden kann. Seitdem surft der User durch das "worldwide" Web. Das "Web 1.0" ist demnach ursprünglich eine Gesamtheit von Milliarden statischer Webseiten, die via Hyperlinks angesteuert werden.
Web 2.0 - Die Vernetzung zweiter Ordnung.
Während Berners-Lee als "Gutenberg
des Web" berühmt wurde und das Web 1.0 eine Basisinnovation
ersten Ranges darstellt, finden wir beim Web 2.0 weder einen
Urvater noch eine zentrale Innovation. Es handelt sich vielmehr
um eine Vielzahl von Beiträgen und Verbesserungen. Die neuen
offenen Webtechnologien und Standards (AJAX, XML, RSS etc.)
erzeugen im Zusammenspiel einen neuen Möglichkeitsraum für die
Programmierung und damit neue Formen und Qualitäten der
Informationsbereitstellung. Überdies wird mittels sogenannter
Mashups die beschleunigte Programmierung von Websites möglich,
die die Datenströme aus verschiedenen Quellen kombinieren. So
kann etwa der gigantische Geo-Datenbestand von
Google oder der Warenbestand von
amazon für die eigene Website "im Handumdrehen" nutzbar
gemacht werden, alles kann mit allem vernetzt werden - dank
offener Webtechnologien in kurzer Zeit.
Es resultiert eine Art von "Vernetzung zweiter Ordnung",
die in der User-Erfahrung mehr Dynamik und Interaktivität
bedeutet. Insbesondere kann diese Basis genutzt werden, um die
soziale Dimension auf neuem Niveau nutzbar zu machen. Eine
zentrale Rolle kommt hier dem Leitbegriff von einer "Architektur
der Partizipation" zu. Im Web 1.0 gab es zwar auch jede Menge
Foren, Chats und Communities, aber die Technologien des Web 2.0
haben geradezu eine eingebaute Tendenz Inhalte, Orte, Menschen,
Meinungen, Ereignisse zu vernetzen und so einen ganz neuen Raum
von Produktivität, Interaktion und Miteinander
aufzuspannen.
Die User-Perspektive auf Web 2.0
Die neuen Webtechnologien erzeugen
vielfältige Möglichkeiten für die User. Wie sich
Benutzerschnittstelle, Informationsqualitäten und
Informationsverteilung verändern, demonstrieren Websites wie
YouTube,
Flickr,
Digg oder
MySpace. Mittlereile ist der Überblick schwierig geworden
und täglich kommen weitere Websites und Mashups hinzu. Fünf
Trends bringen Ordnung in den Dschungel.
Das Web wird zur Service-Plattform.> Websites bekommen
Eigenschaften, die wir bisher nur vom Rechner kannten. So werden
Anwendungen wie beispielsweise Organizer oder eine
Textverarbeitung im Web bereitgestellt. Das Web wird zur globalen
Plattform für Daten und Dienste. Der Vorteil dieser Verschiebung
liegt auf der Hand. Viele Nutzer plagen sich mit dem Aufwand für
die Pflege der Software (Updates, Virenschutz) und für die
Synchronisierung der Daten - sie wünschen sich unkomplizierte
Werkzeuge, die sie geräteunabhängig aufrufen und nutzen können -
zuhause, im Büro, überall auf der Welt. Mit webbasierten
Anwendungen kann dieses Bedürfnis eingelöst werden. Inzwischen
gibt es zahllose Services, die in dieser Weise abrufbar sind, von
Kalendern über Projektsoftware bis zur Textverarbeitung (
Writely). Für den User bedeutet das: Das Web wird
umfassender und zugleich bequemer. Web 2.0 reduziert damit
technische Komplexität, da es geräte- und ortsunabhängig Dienste
bereitstellt.
Das Web wird zum "Live Space". Daten werden automatisch
aktualisiert, indem APIs (Programmierschnittstellen) genutzt
werden und automatisch aktuelle Informationen auf die Websites
der Nutzer holen. So können etwa Freunde auf
Google Maps lokalisiert werden (
Frappr), Temperaturwerte erscheinen "wie von Geisterhand"
sekundenaktuell auf der lokalen Landkarte oder die neuesten
Blogeinträge zu ausgewählten Themen werden gelistet
(technorati.com). Das "Echtzeit-Feeling" ist hierbei
charakteristisch für viele Webanwendungen - wobei die Aktualität
der Daten sich auch auf die physische Realität beziehen kann -
Web und Wirklichkeit treten stärker als bisher in Wechselwirkung.
Dadurch wird das Web im Alltag nützlicher, etwa, wenn es darum
geht in einer Gegend eine Immobilie, ein Hotel oder ein
Restaurant zu finden. Statt immer wieder neue Suchanfragen zu
starten wird die Information komfortabel in die Landkarte
eingeblendet ("Reality Tagging"). Das Web und die physische
Realität gehen eine intimere Verbindung ein, indem beispielsweise
die aktuellen Wetterdaten oder der Aufenthaltsort von Freunden
"live" abgebildet werden. Für den User macht diese Dynamisierung
das Web aktueller und lebendiger.
Das Web wird zum Mitmach-Web. Der User ist heute nicht
mehr nur Konsument, er wird zunehmend zum Produzenten. Die
bekanntesten Formen für sogenannten User-Generated Content sind
Weblogs, Wikis, Sharing-Portale für Bilder und Videos. Derzeit
werden 35 Millionen aktive Blogs gezählt,
Flickr hat 5.000 Seitenzugriffe pro Minute, auf das
populäre Video-Portal
YouTube werden täglich 30.000 Videos hochgeladen, und die
Wikipedia umfasst mittlerweile 3,8 Millionen Artikel in
200 Sprachen. Auf Community-Plattformen werden zunehmend auch die
verschiedenen Medienformate zusammengeführt - so bilden auf dem
erfolgreichen Portal
MySpace.com die Blogs, Videos, Chats, Events etc. eine
funktionierende Einheit. Am Beispiel des Portals
Flickr wird schnell klar, was User an Web 2.0-Portalen
schätzen. Es ist eine Möglichkeit, die generierten Inhalte - wie
hier digitale Bilder - einfach und intuitiv zu verwalten und für
andere bereitzustellen. Der Slogan "Alle machen mit" wäre
überzogen, doch eine kritische Masse an aktiven "Web-Prosumenten"
ist längst erreicht. Für den User wird das Web zunehmend zum
Aktiv- und Kreativraum - statt passivem Medienkonsum zählt das
Einbringen von Können und Wissen.
Das Web wird zum sozialen Über-Raum. Unter dem Stichwort
"Social Web" und der programmatischen Devise "Wir sind das Web"
wurde bereits vor Jahren die Sozialisierung des Internet
postuliert. Dank sogenannter "Sozialer Software" kann der Prozess
der sozialen Vernetzung regelrecht katalysiert werden. Auf den
Social-Networking-Portalen wird die eigene Reichweite für soziale
oder Business-Kontakte gigantisch gesteigert, da diese erlauben,
Kontakte zweiten oder höheren Grades aufzurufen. Auf diesem Wege
ist es möglich, Gleichgesinnte für Beruf oder Freizeit im
sozialen Nahraum anzusprechen. Derartige Spezialplattformen
stellen eine wichtige Komponente der veränderten Web-Landschaft
dar. Da Online-Communities wie
Friendster.com ein "alter Hut" sind, werden sie oft nicht
zur authentischen Web 2.0-Welt gerechnet. Allerdings durchzieht
"das Soziale" die neuen Webanwendungen wie ein Geflecht. Viele
Dienste sind als soziale Spielräume anzusehen, da es dort darum
geht, sich auszudrücken, Inhalte mit anderen zu teilen,
Kommentare abzugeben. Auf den zweiten Blick geht es bei den
erfolgreichsten Portalen und Services ganz offensichtlich darum,
lebendige Gemeinschaften zu schaffen, die sich in regem Austausch
befinden. Man bewegt sich dort mühelos im Dreieck aus
Selbstdarstellung, Kommunikation und Kollaboration. Das Web wird
also sozialer. Interaktionen wie Kommentieren-im-Blog,
Austauschen-im-Chat, Empfehlungen-Abgeben werden
selbstverständlich. Revolutionär ist dabei, dass dank der
passenden "Mashups" praktisch jede Webanwendung "sozialisiert"
werden kann. In wenigen Minuten werden Applikationen um eine
soziale Dimension bereichert. Die eigene Homepage verliert ihren
insularen Charakter und ist über Kommentierungsfunktionen,
Ranking- und Votingmechanismen in einen Communityrahmen
eingebettet.
Das Web wird intelligenter. Web 2.0-Dienste mit
Sharing-Charakter funktionieren nur durch das clevere
Zusammenspiel verschiedener Komponenten. Das Geheimnis des
Erfolgs: Eine Plattform wie
Flickr muss User motivieren, mit ein paar Klicks ihren
Beitrag zu leisten und sie muss umgekehrt die gigantische
Summierung der zugeführten Beiträge für den User attraktiv
aufbereiten. Im Fall von
Flickr heißt dies, dass der User selbst die Schlüsselworte
vergibt, um nachher die Auffindbarkeit der Bilder für andere User
zu gewährleisten. Gerade bei einer Foto-Community wird sehr
deutlich, wie wichtig diese Kategorisierung ("Tagging") ist -
ohne derartige Tags wären die Bilderwelten nicht durchsuchbar,
also unzugänglich und nutzlos für die anderen User. Das "Tagging"
begegnet uns auf vielen Web 2.0-Portalen, bisweilen ergänzt um
Bewertungs-Mechanismen. Such- und Ranking-Algorithmen sorgen dann
dafür, dass der User bevorzugt diejenigen Inhalte zu sehen oder
hören bekommt, die von anderen bereits positiv selektiert wurden.
Bekannt ist das Prinzip auch in Online-Shops wie
amazon: Durch Auswertung der Clickstreams ist es möglich,
die Kaufentscheidungen und Interessen "gleichgesinnter" Käufer an
den User weiterzugeben und auf diese Weise vernünftige Vorschläge
zu unterbreiten. All diese Mechanismen zapfen gewissermaßen die
Hirne und das wertvolle Wissen der User an. Die resultierende
kollektive Intelligenz wird direkt in die Strukturen des Web
eingespeist. Das Web wird also intelligenter - und zwar durch die
"Weisheit der Massen" (James Surowiecki). Dank der Effekte
kollektiver Intelligenz profitieren alle Nutzer von dem
millionenfachen Input von Wissen und Wertung. Dank Tagging
verbessert sich die Semantik und Auffindbarkeit. An die Stelle
einer neuen und aufwändigen Architektur, die von oben über das
Web gestülpt wird ("Semantic Web Project"), wachsen jetzt
verteilt viele semantikfähige Webs "von unten".
Schönes neues Web
Das klingt alles gut, jedoch sollte
es nicht zu vorschneller Euphorie führen. Damit Web 2.0
tatsächlich zum "schönen neuen Web" wird, ist noch Einiges zu
tun. Drei zentrale Herausforderungen lassen sich aus der
User-Perspektive identifizieren.
Konvergenz. Jede der genannten Trendaussagen kann auch als
ein Versprechen der Web 2.0-Evangelisten betrachtet werden,
dessen Einlösung kritisch zu prüfen ist. Erinnern wir uns an die
einfache Rollenverteilung des Web 1.0: Der User sitzt am Rechner
und surft von Seite zu Seite. Im Gegensatz dazu wird das
Medienverhalten eines typischen jugendlichen Web-Nutzers unserer
Tage ein ganz anderes Bild zeigen: Es wird in schneller Abfolge
und oft auch gleichzeitig gegoogelt, gechattet, ein Bild auf das
Blog hoch- und ein mp3-File irgendwo heruntergeladen,
zwischendurch wird noch gevoipt, gesimst und MTV geschaut. Der
User erlebt also gewissermaßen bereits die mediale Konvergenz -
mal mühelos und spielerisch, mal als medialen Overkill. Die
Konvergenzleistungen von heute muss allerdings der User
erbringen, die Frage, wie die Medien tatsächlich sinnvoll
zusammenwachsen können, bleibt vorerst offen.
Komplexität. Wenn Web 2.0 etwas taugen soll, soviel ist
klar, dann muss es den User vor überflüssiger Komplexität
bewahren. Die neuen Webtechnologen sollten die User dabei
unterstützen, im medialen Kosmos zu navigieren und die Übersicht
zu behalten. In diesem Sinn kommt ein Portal wie
MySpace dem Channel-Hopping und Social-Zapping des Users
entgegen und ist mit 60 Millionen Usern zweifellos eines der
erfolgreichsten Portale.
Radikalität. So pfiffig Websites wie
MySpace oder
Flickr auch ausgestaltet sind, sie bleiben in der
Konzeption relativ konventionell, wenn man die technischen
Möglichkeitsräume einmal etwas mutiger auslotet. Zu den
avancierteren Projekten sind Versuche zu rechnen, dem Browser
selbst ein Update zu verpassen, also die Schnittstelle User/Web
an die veränderten Verhältnisse im Web 2.0 anzupassen. Browser
sind trotz respektabler Fortschritte in der Grundstruktur immer
noch die alten Vehikel, sind angesichts des Web Change zum
Sozialen längst zu Oldtimern geworden. Bei "Social Browsern" wie
Flock sind die Community-Funktionen wie Blogposting, Bookmark-
und Photosharing konsequenterweise schon eingebaut. Mit einem
sozialdimensionierten Browser wird es immer einfacher mit den
Optionen des Web 2.0 umzugehen - mit Wirkungen, die weit über ein
verbessertes Surf-Erlebnis und eine nahtlose Nutzererfahrung
hinausreichen werden.
Zu Folge 2 >>
Leserservice (erwähnte Websites):
del.icio.us
- Portal/Anwendung für Bookmark-Sharing
- Mit dem Einblick in die Favoritenlisten der Mitglieder
findet der Nutzer leichter zu relevanten Websites
Digg.com
- Selbstorganisiertes Portal für Technologie-News
- Mitglieder-Voten steuern das Ranking von News
Flickr.com
- Plattform für den Austausch von digitalen Fotos
- 5.000 Seitenzugriffe pro Minute
- Im März erreichte die Anzahl der hochgeladenen Fotos 100
Millionen
- Übernommen von
Yahoo
Frappr
- Macht die Aufenthaltsorte von Freunden auf einer
Landkarte sichtbar
- Nutzt die Programmierschnittstelle von
Google Maps
Google Maps
- Ermöglicht es, Orte, Hotels und andere Objekte zu suchen,
welche dann auf der Landkarte oder dem Satellitenbild angezeigt
werden
MySpace
- Social-Networking Website mit starkem Community-Aspekt
- Populärste englischsprachige Site mit 75 Millionen Usern
- Akquiriert von Rupert Murdoch News Corporation
Wikipedia
- Freie Online-Enzyklopädie, bekannteste Wiki-Plattform
- Mittlerweile 3,8 Millionen Artikel in 200 Sprachen
Writely
- Web-basierte Textverarbeitung
- Beispiel für die Leistungsfähigkeit der offenen
Technologien und des Prinzips "Web als Service-Plattform"
YouTube
- Plattform für den Austausch von Video-Clips
- Auf
YouTube werden täglich 30.000 Videos hochgeladen
- Bestand: 30 Millionen Clips
Andreas Neef ist Geschäftsführer, Willi Schroll Future Analyst bei Z _punkt GmbH The Foresight Company.
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Andreas NeefAndreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.