Die reine Form gibt es noch nicht
Für das Projekt VICO erforscht das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) die Geschäftsprozesse in virtuellen Unternehmen.
VICO - das ist die Abkürzung für "virtueller Qualifizierungscoach", ein internetbasiertes Softwaretool, welches Mitarbeiter virtueller Unternehmen künftig bei ihrer Weiterbildung unterstützen soll. Bis die intelligente Software aber entwickelt ist und zur Verfügung gestellt werden kann, gilt es, noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Weil sich ein solches Projekt nur interdisziplinär realisieren lässt, besteht das Team des Verbundprojektes aus sechs wissenschaftlichen Kooperationspartnern und zwei privatwirtschaftlichen Teilnehmern. Wie in einem Staffellauf arbeiten die Partner größtenteils aufeinander folgend, zwischen den einzelnen Teilprojekten besteht dabei eine Verzahnung und Ergebnisse aus vorherigen Teilschritten werden in die folgenden Arbeitsschritte eingearbeitet. Derzeit aktiv beteiligt sind unter anderem die Experten vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML).
Was gute Logistik ist, lässt sich
stark vereinfacht in den "sechs Rs" ausdrücken: die Sicherung der
Verfügbarkeit des richtigen Produktes, in der richtigen Menge, in
der richtigen Qualität, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, zu
den richtigen Kosten. Anders formuliert, umfasst die Logistik die
ganzheitliche Planung, Steuerung, Durchführung und Kontrolle
aller unternehmensinternen und unternehmensübergreifenden
Material- und Informationsflüsse. Die Beschaffungs-,
Produktions-, Distributions-, Entsorgungs- und Verkehrslogistik
sind dabei wichtige Teilgebiete der Logistik, die in alle
Prozessketten und -kreisläufe einfließen.
Die Herausforderung bei der Optimierung der Logistik ist
die Bereitstellung individueller, prozess- und kundenorientierter
Lösungen für Unternehmen, Konzerne, Netzwerke und sogar für
virtuelle Unternehmen. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss
und Logistik (IML) in Dortmund ist auf diese Herausforderung
spezialisiert.
"Wie alle Fraunhofer-Institute leisten wir dabei angewandte
Forschung und arbeiten dazu eng mit der Industrie zusammen",
erklärt Prof. Dr. Michael ten Hompel, einer der drei
Institutsleiter. "Wir versuchen, eine Brücke zwischen Theorie und
Praxis zu schlagen, um neuste wissenschaftliche Erkenntnisse
schnell und erfolgreich in der Praxis umzusetzen." Als Berater
unterstützen die IML-Mitarbeiter die Kunden bei neuen Aufgaben
und Anforderungen, als Forscher arbeiten sie gemeinsam mit den
Kunden an neuen Lösungen, als Planer helfen sie bei der
Optimierung der Logistik, als Entwickler realisieren sie Lösungen
in Soft- und Hardware. Zahlreiche Produkte, vom Palettierroboter
über Lagersysteme bis zur Simulationssoftware, hatten ihre
Geburtsstätte in Dortmund und werden heute weltweit eingesetzt.
Auch in der Lehre ist das Fraunhofer IML aktiv, die
Institutsleiter Axel Kuhn, Michael ten Hompel und Uwe Clausen
lehren als Lehrstuhlinhaber an der Universität Dortmund in den
Bereichen Verkehrssysteme und -logistik sowie Förder- und
Lagerwesen.
Geschäftsprozesse und Informationsflüsse.
Auf den ersten Blick erscheint es
rätselhaft, dass Logistiker im Projekt VICO mitwirken, welches
die Qualifizierung von Angestellten virtueller Unternehmen zum
Ziel hat, auf den zweiten Blick jedoch ist es logisch: Das
Fraunhofer IML beschäftigt sich schließlich nicht nur mit dem
physischen Warentransport von A nach B, sondern auch mit der
Optimierung des nicht weniger wichtigen Informationsflusses.
Für ihre Kunden strukturieren die Experten vom IML
Geschäftsprozesse, identifizieren ineffiziente Abläufe und
bestimmen Kosten- und Leistungspotenziale. Mit dieser
Kernkompetenz ist das Institut prädestiniert für den nächsten
Schritt des Projektes VICO - die detaillierte Darstellung von
Strukturen und Arbeitsprozessen in virtuellen Unternehmen.
Das "Arbeitspaket" des Fraunhofer IML baut zum Teil auf
Vorarbeiten des Lehrstuhls für Organisationspsychologie der
Universität Dortmund auf. Deren Aufgabe bestand darin, nach einer
Literaturrecherche zunächst eine Arbeitsdefinition dessen
aufzustellen, was ein virtuelles Unternehmen ausmacht. Im
Anschluss daran führte das Fraunhofer IML abgrenzend zur Theorie
eine Praxisrecherche durch. Wo gibt es diese virtuellen
Unternehmen, und wie sehen sie aus? Dieser Frage ging man nach,
nicht zuletzt auch um potenzielle Partner für eine Zusammenarbeit
zu finden. Ziel von VICO ist es schließlich, einen tatsächlich
bestehenden und nicht einen theoretisch möglichen Bedarf nach
Weiterbildung zu bedienen.
"Nach unserer ersten Einschätzung hatten wir zunächst
angenommen, dass auch weltweit agierende Logistikdienstleister
wie DHL, FedEx oder UPS zu den virtuellen Unternehmen zählen
könnten. Diese arbeiten allenfalls auch stark räumlich verteilt
in einem globalen Netzwerk", berichtet Projektmitarbeiterin
Christiane Auffermann. "Doch es stellte sich heraus, dass sich
Arbeitsweise und Organisationsstruktur dieser Unternehmen nicht
für die Beantwortung der Fragestellungen des Projektes VICO
eignen."
Nach einer umfassenden Recherche fand man stattdessen eine
Vielzahl weiterer potenzieller Kandidaten. Diese galt es nun in
Telefoninterviews genauer kennen zu lernen. Mit Hilfe eines
Fragebogens wurden in Gesprächen sämtliche Merkmale einer
virtuellen Organisationsform abgefragt und anschließend ein
Schema erarbeitet, mit dessen Hilfe man den
"Virtualisierungsgrad" des jeweiligen Unternehmens einschätzen
konnte. Danach musste ein Großteil der rund 30 Kandidaten
ausscheiden, weil sich Organisationsstrukturen bei genauer
Betrachtung als zu traditionell erwiesen. Zehn Unternehmen kamen
in die engere Wahl - neun von ihnen erklärten sich zur Mitarbeit
für VICO bereit.
Der nächste Schritt der IML-Mitarbeiter bestand darin, die
neuen Praxispartner zu besuchen und ausführliche Interviews
durchzuführen. Nachdem Christiane Auffermann und ihre Kollegen
umfassende Befragungen zu strukturellen Besonderheiten und
Organisation der virtuellen Unternehmen geführt hatten, kamen sie
zu einem unerwarteten Ergebnis: Die reine Form des virtuellen
Unternehmens, wie es in der Definition beschrieben war, existiert
(noch) nicht.
Mischformen sind vorteilhafter.
Virtuelle Unternehmen sind,
zumindest in der theoretischen Definition, sehr fluide. In ihrer
Reinform finden sie sich nur für einen bestimmten Auftrag
zusammen, ohne dass vertraglich fixierte Strukturen entstehen,
und lösen sich nach erledigter Arbeit wieder auf. Doch das
Fraunhofer IML stellte fest, dass die Teams nicht wieder völlig
auseinander gehen. Der Grund dafür leuchtet ein: Jedes Mal mit
neuen Partnern zusammenzuarbeiten bedeutet, immer wieder Fremden
einen Vertrauensvorschuss geben zu müssen. Das ist gerade dann,
wenn viel Geld oder ein wichtiger Auftrag auf dem Spiel steht,
keine sehr erfolgversprechende Strategie.
Auch die Zusammenarbeit ohne Vertrag stellt sich als die
Ausnahme heraus. "Uns wurde ziemlich schnell klar, dass es eine
lockere Zusammenarbeit auf Vertrauensbasis, ohne Vertrag, in
Deutschland nicht gibt - dafür setzt man hierzulande zu stark auf
gesetzliche Regelungen und vertragliche Absicherung", meint
Christiane Auffermann. "Unserer Erfahrung nach setzen die derzeit
existierenden virtuellen Unternehmen eher auf einen gewissen Grad
an Stabilität. Die Übergänge zur Netzwerkorganisation sind dabei
fließend." Unternehmen, die als Netzwerk organisiert sind, haben
meist einen größeren "festen Kern", virtuelle Unternehmen
hingegen sind wesentlich freier und flexibler, sie unterhalten
höchstens eine kleine "feste Keimzelle". Dabei gibt es zahlreiche
unterschiedliche Formen virtuellen Zusammenarbeitens: "zentral
initiierte Netze", "kooperationsmotivierte Netzverbünde",
"teilvirtualisierte Ressourcenpools" und "Non-Profit-orientierte
Wissensnetze".
Zentrales Ergebnis der Untersuchung: Viele Unternehmen
suchen sich die Vorteile von verschiedenen
Organisationsstrukturen heraus und bilden eine Mischform, bei der
sie Merkmale je nach ihren Anforderungen variieren. "Es bleibt
abzuwarten, ob in Zukunft ein Entwicklungsbogen hin zu einem
reinen virtuellen Unternehmen stattfindet", meint
Auffermann.
Virtuelles Arbeiten am Beispiel.
Doch wie hat man sich ein
virtuelles Unternehmen in der Realität vorzustellen? Untersucht
hat das Fraunhofer IML unter anderen zwei Firmen aus dem Bereich
der Computerspielentwicklung: Independent Arts Software und
Instance Four aus dem Raum Dortmund. Dort koordinieren jeweils
drei Festangestellte von einer kleinen Zentrale aus das gesamte
Geschäft. Wird ein Projekt akquiriert, so rekrutiert das
Unternehmen erprobte Spezialisten aus einem Pool von Fachleuten,
mit denen es bereits öfter zusammengearbeitet hat. Diese
Spezialisten bleiben eigenständig, erhalten aber für die
Zusammenarbeit einen Vertrag als Freelancer. Nun kann ein
Projektablaufplan entwickelt werden. Wenn die jeweiligen
Verantwortungsbereiche festgelegt sind, beginnen die einzelnen
Spezialisten mit ihren Arbeitspaketen. Ist die Software
entwickelt, erprobt und vom Kunden abgenommen, so löst sich diese
Gruppe bis auf die feste Keimzelle wieder auf.
Aber auch Beratungsunternehmen wie Trust & Competence,
ein bundesweit operierendes Beraternetzwerk aus dem Bereich
Kostenmanagement, arbeiten auf diese Weise. Sie haben die
Vorteile erkannt, die sich aus der Bündelung von
Spezialkompetenzen in einem losen Netzwerk ergeben und stellen
bei Bedarf für den Kunden individuelle Teams zusammen.
"Natürlich haben wir auch mit Pionieren aus dem Bereich
virtueller Zusammenarbeit, wie dem Kompetenzverbund *The Virtual
Company* mit Sitz in der Schweiz gesprochen. Dieses Netzwerk hat
bereits große Aufträge im Bereich 'Information and Communication
Technology' (ICT) realisiert, wie zum Beispiel die Installation
und Inbetriebnahme einer umfangreichen Wireless-LAN-Infrastruktur
auf dem Flugfeld am Flughafen Zürich sowie deren Übergabe an
einen Betreiber", berichtet Auffermann. "Dort hat man für die
Zusammenarbeit eine interessante Lösung gefunden: Die je nach dem
Projektstand beteiligten Partner haben keine Verträge
untereinander, verwenden aber einen Verhaltenskodex, an den sich
jeder Partner dieses Kompetenzverbundes zu halten hat."
Nächster Schritt: Analyse.
Nach den ausführlichen Interviews
zum Thema Organisationsstruktur und Arbeitsweise ist die nächste
Aufgabe des Fraunhofer IML nun ein intensiver Blick in die
Details der Arbeitsabläufe virtueller Unternehmen: die
Geschäftsprozessanalyse. Folgende Fragen gilt es dabei zu
beantworten: Wie laufen Akquisition, Teamzusammenstellung, die
Bearbeitung der Teilschritte und die Auflösung der Teams nach
Auftragsabwicklung ab? Wer organisiert dabei was? Wo sind die
Verantwortlichkeiten? Mit welchen Tools und mittels welcher
Medien wird gearbeitet?
Mit diesen Informationen kann das Fraunhofer IML dem
Lehrstuhl für Technik und ihre Didaktik der Universität Dortmund
und anderen Forschungspartnern erste Hinweise geben, was für
Anforderungen an die Mitarbeiter virtueller Unternehmen gestellt
werden und wo Qualifizierungen notwendig sein könnten.
Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.
Zum changeX-Partnerportrait: ViCO - Virtueller Qualifizierungs-Coach.
© changeX Partnerforum [21.07.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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ViCO - Virtueller Qualifizierungs-Coach
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