Die reine Form gibt es noch nicht

Für das Projekt VICO erforscht das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) die Geschäftsprozesse in virtuellen Unternehmen.

Von Nina Hesse

VICO - das ist die Abkürzung für "virtueller Qualifizierungscoach", ein internetbasiertes Softwaretool, welches Mitarbeiter virtueller Unternehmen künftig bei ihrer Weiterbildung unterstützen soll. Bis die intelligente Software aber entwickelt ist und zur Verfügung gestellt werden kann, gilt es, noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Weil sich ein solches Projekt nur interdisziplinär realisieren lässt, besteht das Team des Verbundprojektes aus sechs wissenschaftlichen Kooperationspartnern und zwei privatwirtschaftlichen Teilnehmern. Wie in einem Staffellauf arbeiten die Partner größtenteils aufeinander folgend, zwischen den einzelnen Teilprojekten besteht dabei eine Verzahnung und Ergebnisse aus vorherigen Teilschritten werden in die folgenden Arbeitsschritte eingearbeitet. Derzeit aktiv beteiligt sind unter anderem die Experten vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML).

Was gute Logistik ist, lässt sich stark vereinfacht in den "sechs Rs" ausdrücken: die Sicherung der Verfügbarkeit des richtigen Produktes, in der richtigen Menge, in der richtigen Qualität, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, zu den richtigen Kosten. Anders formuliert, umfasst die Logistik die ganzheitliche Planung, Steuerung, Durchführung und Kontrolle aller unternehmensinternen und unternehmensübergreifenden Material- und Informationsflüsse. Die Beschaffungs-, Produktions-, Distributions-, Entsorgungs- und Verkehrslogistik sind dabei wichtige Teilgebiete der Logistik, die in alle Prozessketten und -kreisläufe einfließen.
Die Herausforderung bei der Optimierung der Logistik ist die Bereitstellung individueller, prozess- und kundenorientierter Lösungen für Unternehmen, Konzerne, Netzwerke und sogar für virtuelle Unternehmen. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund ist auf diese Herausforderung spezialisiert.
"Wie alle Fraunhofer-Institute leisten wir dabei angewandte Forschung und arbeiten dazu eng mit der Industrie zusammen", erklärt Prof. Dr. Michael ten Hompel, einer der drei Institutsleiter. "Wir versuchen, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, um neuste wissenschaftliche Erkenntnisse schnell und erfolgreich in der Praxis umzusetzen." Als Berater unterstützen die IML-Mitarbeiter die Kunden bei neuen Aufgaben und Anforderungen, als Forscher arbeiten sie gemeinsam mit den Kunden an neuen Lösungen, als Planer helfen sie bei der Optimierung der Logistik, als Entwickler realisieren sie Lösungen in Soft- und Hardware. Zahlreiche Produkte, vom Palettierroboter über Lagersysteme bis zur Simulationssoftware, hatten ihre Geburtsstätte in Dortmund und werden heute weltweit eingesetzt. Auch in der Lehre ist das Fraunhofer IML aktiv, die Institutsleiter Axel Kuhn, Michael ten Hompel und Uwe Clausen lehren als Lehrstuhlinhaber an der Universität Dortmund in den Bereichen Verkehrssysteme und -logistik sowie Förder- und Lagerwesen.

Geschäftsprozesse und Informationsflüsse.


Auf den ersten Blick erscheint es rätselhaft, dass Logistiker im Projekt VICO mitwirken, welches die Qualifizierung von Angestellten virtueller Unternehmen zum Ziel hat, auf den zweiten Blick jedoch ist es logisch: Das Fraunhofer IML beschäftigt sich schließlich nicht nur mit dem physischen Warentransport von A nach B, sondern auch mit der Optimierung des nicht weniger wichtigen Informationsflusses.
Für ihre Kunden strukturieren die Experten vom IML Geschäftsprozesse, identifizieren ineffiziente Abläufe und bestimmen Kosten- und Leistungspotenziale. Mit dieser Kernkompetenz ist das Institut prädestiniert für den nächsten Schritt des Projektes VICO - die detaillierte Darstellung von Strukturen und Arbeitsprozessen in virtuellen Unternehmen.
Das "Arbeitspaket" des Fraunhofer IML baut zum Teil auf Vorarbeiten des Lehrstuhls für Organisationspsychologie der Universität Dortmund auf. Deren Aufgabe bestand darin, nach einer Literaturrecherche zunächst eine Arbeitsdefinition dessen aufzustellen, was ein virtuelles Unternehmen ausmacht. Im Anschluss daran führte das Fraunhofer IML abgrenzend zur Theorie eine Praxisrecherche durch. Wo gibt es diese virtuellen Unternehmen, und wie sehen sie aus? Dieser Frage ging man nach, nicht zuletzt auch um potenzielle Partner für eine Zusammenarbeit zu finden. Ziel von VICO ist es schließlich, einen tatsächlich bestehenden und nicht einen theoretisch möglichen Bedarf nach Weiterbildung zu bedienen.
"Nach unserer ersten Einschätzung hatten wir zunächst angenommen, dass auch weltweit agierende Logistikdienstleister wie DHL, FedEx oder UPS zu den virtuellen Unternehmen zählen könnten. Diese arbeiten allenfalls auch stark räumlich verteilt in einem globalen Netzwerk", berichtet Projektmitarbeiterin Christiane Auffermann. "Doch es stellte sich heraus, dass sich Arbeitsweise und Organisationsstruktur dieser Unternehmen nicht für die Beantwortung der Fragestellungen des Projektes VICO eignen."
Nach einer umfassenden Recherche fand man stattdessen eine Vielzahl weiterer potenzieller Kandidaten. Diese galt es nun in Telefoninterviews genauer kennen zu lernen. Mit Hilfe eines Fragebogens wurden in Gesprächen sämtliche Merkmale einer virtuellen Organisationsform abgefragt und anschließend ein Schema erarbeitet, mit dessen Hilfe man den "Virtualisierungsgrad" des jeweiligen Unternehmens einschätzen konnte. Danach musste ein Großteil der rund 30 Kandidaten ausscheiden, weil sich Organisationsstrukturen bei genauer Betrachtung als zu traditionell erwiesen. Zehn Unternehmen kamen in die engere Wahl - neun von ihnen erklärten sich zur Mitarbeit für VICO bereit.
Der nächste Schritt der IML-Mitarbeiter bestand darin, die neuen Praxispartner zu besuchen und ausführliche Interviews durchzuführen. Nachdem Christiane Auffermann und ihre Kollegen umfassende Befragungen zu strukturellen Besonderheiten und Organisation der virtuellen Unternehmen geführt hatten, kamen sie zu einem unerwarteten Ergebnis: Die reine Form des virtuellen Unternehmens, wie es in der Definition beschrieben war, existiert (noch) nicht.

Mischformen sind vorteilhafter.


Virtuelle Unternehmen sind, zumindest in der theoretischen Definition, sehr fluide. In ihrer Reinform finden sie sich nur für einen bestimmten Auftrag zusammen, ohne dass vertraglich fixierte Strukturen entstehen, und lösen sich nach erledigter Arbeit wieder auf. Doch das Fraunhofer IML stellte fest, dass die Teams nicht wieder völlig auseinander gehen. Der Grund dafür leuchtet ein: Jedes Mal mit neuen Partnern zusammenzuarbeiten bedeutet, immer wieder Fremden einen Vertrauensvorschuss geben zu müssen. Das ist gerade dann, wenn viel Geld oder ein wichtiger Auftrag auf dem Spiel steht, keine sehr erfolgversprechende Strategie.
Auch die Zusammenarbeit ohne Vertrag stellt sich als die Ausnahme heraus. "Uns wurde ziemlich schnell klar, dass es eine lockere Zusammenarbeit auf Vertrauensbasis, ohne Vertrag, in Deutschland nicht gibt - dafür setzt man hierzulande zu stark auf gesetzliche Regelungen und vertragliche Absicherung", meint Christiane Auffermann. "Unserer Erfahrung nach setzen die derzeit existierenden virtuellen Unternehmen eher auf einen gewissen Grad an Stabilität. Die Übergänge zur Netzwerkorganisation sind dabei fließend." Unternehmen, die als Netzwerk organisiert sind, haben meist einen größeren "festen Kern", virtuelle Unternehmen hingegen sind wesentlich freier und flexibler, sie unterhalten höchstens eine kleine "feste Keimzelle". Dabei gibt es zahlreiche unterschiedliche Formen virtuellen Zusammenarbeitens: "zentral initiierte Netze", "kooperationsmotivierte Netzverbünde", "teilvirtualisierte Ressourcenpools" und "Non-Profit-orientierte Wissensnetze".
Zentrales Ergebnis der Untersuchung: Viele Unternehmen suchen sich die Vorteile von verschiedenen Organisationsstrukturen heraus und bilden eine Mischform, bei der sie Merkmale je nach ihren Anforderungen variieren. "Es bleibt abzuwarten, ob in Zukunft ein Entwicklungsbogen hin zu einem reinen virtuellen Unternehmen stattfindet", meint Auffermann.

Virtuelles Arbeiten am Beispiel.


Doch wie hat man sich ein virtuelles Unternehmen in der Realität vorzustellen? Untersucht hat das Fraunhofer IML unter anderen zwei Firmen aus dem Bereich der Computerspielentwicklung: Independent Arts Software und Instance Four aus dem Raum Dortmund. Dort koordinieren jeweils drei Festangestellte von einer kleinen Zentrale aus das gesamte Geschäft. Wird ein Projekt akquiriert, so rekrutiert das Unternehmen erprobte Spezialisten aus einem Pool von Fachleuten, mit denen es bereits öfter zusammengearbeitet hat. Diese Spezialisten bleiben eigenständig, erhalten aber für die Zusammenarbeit einen Vertrag als Freelancer. Nun kann ein Projektablaufplan entwickelt werden. Wenn die jeweiligen Verantwortungsbereiche festgelegt sind, beginnen die einzelnen Spezialisten mit ihren Arbeitspaketen. Ist die Software entwickelt, erprobt und vom Kunden abgenommen, so löst sich diese Gruppe bis auf die feste Keimzelle wieder auf.
Aber auch Beratungsunternehmen wie Trust & Competence, ein bundesweit operierendes Beraternetzwerk aus dem Bereich Kostenmanagement, arbeiten auf diese Weise. Sie haben die Vorteile erkannt, die sich aus der Bündelung von Spezialkompetenzen in einem losen Netzwerk ergeben und stellen bei Bedarf für den Kunden individuelle Teams zusammen.
"Natürlich haben wir auch mit Pionieren aus dem Bereich virtueller Zusammenarbeit, wie dem Kompetenzverbund *The Virtual Company* mit Sitz in der Schweiz gesprochen. Dieses Netzwerk hat bereits große Aufträge im Bereich 'Information and Communication Technology' (ICT) realisiert, wie zum Beispiel die Installation und Inbetriebnahme einer umfangreichen Wireless-LAN-Infrastruktur auf dem Flugfeld am Flughafen Zürich sowie deren Übergabe an einen Betreiber", berichtet Auffermann. "Dort hat man für die Zusammenarbeit eine interessante Lösung gefunden: Die je nach dem Projektstand beteiligten Partner haben keine Verträge untereinander, verwenden aber einen Verhaltenskodex, an den sich jeder Partner dieses Kompetenzverbundes zu halten hat."

Nächster Schritt: Analyse.


Nach den ausführlichen Interviews zum Thema Organisationsstruktur und Arbeitsweise ist die nächste Aufgabe des Fraunhofer IML nun ein intensiver Blick in die Details der Arbeitsabläufe virtueller Unternehmen: die Geschäftsprozessanalyse. Folgende Fragen gilt es dabei zu beantworten: Wie laufen Akquisition, Teamzusammenstellung, die Bearbeitung der Teilschritte und die Auflösung der Teams nach Auftragsabwicklung ab? Wer organisiert dabei was? Wo sind die Verantwortlichkeiten? Mit welchen Tools und mittels welcher Medien wird gearbeitet?
Mit diesen Informationen kann das Fraunhofer IML dem Lehrstuhl für Technik und ihre Didaktik der Universität Dortmund und anderen Forschungspartnern erste Hinweise geben, was für Anforderungen an die Mitarbeiter virtueller Unternehmen gestellt werden und wo Qualifizierungen notwendig sein könnten.

Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.

www.virtueller-coach.de

www.iml.fhg.de

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