Power to the People
Wie sieht die Zukunft des Sozialstaats aus? - Ein Gespräch mit Josef Schmid.
Ein Jahr Agenda 2010 - der deutsche Sozialstaat kämpft weiter ums Überleben. Stellt sich die Frage, wie es in anderen europäischen Ländern aussieht? Ein Tübinger Politologe hat die unterschiedlichen Modelle näher untersucht. Das Ergebnis: Frankreich hat die beste Familienpolitik, in Skandinavien werden Arbeitslose am besten unterstützt, in den Niederlanden wird die höchste Mindest- und in der Schweiz die höchste Einheitsrente gezahlt. Hilft uns aber auch nicht weiter, sagt Schmid. Er fordert einen Sozialstaat, der mehr investiert als abfedert. In Bildung und in Möglichkeitsräume, die den Einzelnen motivieren, wieder selbst anzupacken und aktiv zu werden.
Josef Schmid ist Professor für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Tübingen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Analyse von Sozialstaaten im internationalen Vergleich. Sein Buch Wohlfahrtsstaaten im Vergleich gehört mittlerweile zu den Standardwerken. Schmid ist Mitglied der Rürup-Kommission, Vorstand des Europäischen Zentrums für Föderalismusforschung und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Hans-Böckler-Stiftung. Anfang März hielt er auf einem Kongress des Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin einen Vortrag zum Thema "Sozialstaatsmodelle in Europa".
Herr Schmid, Sie haben in Ihren Forschungen die
unterschiedlichen Sozialstaatsmodelle in Europa untersucht und
miteinander verglichen. Welcher gefällt Ihnen am besten?
Das ist nicht einfach zu sagen, jedes Modell hat seine
Vorzüge. Je nachdem, zu welcher Gruppe Sie gehören. Wenn ich alt
wäre, würde ich bei meinem gehobenen Einkommen und einer
kontinuierlichen Arbeitsbiographie mit dem deutschen Sozialstaat
am besten fahren. Wenn ich eine Frau mit geringem Einkommen wäre,
die lange Zeit nicht gearbeitet hat, würde ich lieber in den
Niederlanden leben. Dort bekommen auch Menschen, die bei uns ein
Sozialhilfefall wären, 750 Euro Mindestrente. Wenn ich viele
Kinder hätte, würde mir Frankreich am besten gefallen. Die
französische Familienpolitik ist hervorragend: Steuerermäßigungen
ab dem dritten Kind, Rentenanspruch für Mütter. Wenn ich
arbeitslos wäre, würde ich mich für Skandinavien entscheiden. Die
Skandinavier machen eine sehr erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik.
Man darf Erfolg in der Sozialpolitik nicht nur daran messen, wie
hoch die Sozialausgaben sind. Wichtiger ist, dass Leute ohne
Arbeit wieder in Lohn und Brot kommen. Auch als Frau würde ich
den skandinavischen Sozialstaat sehr schätzen. Die Schweden und
Dänen machen die fortschrittlichste
Gleichstellungspolitik.
Es gibt also nicht das Vorzeigemodell?
Nein. Natürlich sieht man bei einem Blick über die Grenzen
Unterschiede. Doch innerhalb Westeuropas sind diese Unterschiede
eher qualitativ als quantitativ. Grundsätzlich können wir
zwischen drei verschiedenen Typen unterscheiden:
Erstens der liberale Wohlfahrtsstaat, der die Rolle des
freien Marktes und der Familie stärker in den Vordergrund rückt.
Sozialleistungen sind gering und werden nur nach individueller
Bedürfnisprüfung gewährt. Das Geld für die Leistungen kommt aus
dem Staatshaushalt (Großbritannien, die USA oder Australien).
Zweitens der konservative Typ, in dem der Staat stärker
interveniert, soziale Rechte an Klasse und Status gebunden sind
und die Ansprüche auf Beiträgen basieren. Grundlage dieses
Modells sind Normalarbeitsverhältnisse und die Normalfamilie
(Frankreich, Italien, Deutschland, die Niederlande).
Drittens die sozialdemokratischen Modelle, die
universalistisch ausgerichtet sind, Gleichheit auf höchstem
Niveau anstreben und Ansprüche an soziale Bürgerrechte binden.
Sie werden aus dem Staatshaushalt finanziert, fast alle
Leistungen übernimmt der öffentliche Dienst, der dadurch
arbeitsmarktpolitisch eine Schlüsselfunktion hat (Schweden,
Norwegen, Dänemark).
Diese drei Modelle des Wohlfahrstaates sind sehr lange
stabil geblieben. Selbst Regimewechsel führen nicht dazu, dass
die einzelnen Länder den einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad
wieder verlassen.
Aber es gibt Kurskorrekturen innerhalb der Modelle ...
... natürlich. Und derzeit ändern sich die Modelle, aber
die Abstände zueinander bleiben gleich, weil alle ähnliche
Neuerungen einführen. Wir nennen das Paternoster-Effekt. Ein
Beispiel: Zur Zeit werden in vielen Ländern kapitalgedeckte
Renten eingeführt. Doch jedes Land sucht einen Weg, der zu seinem
Wohlfahrtsstaatsmodell passt. Die Briten richten Pensionsfonds
ein, die Schweden bieten eine staatliche Variante an, mit unserer
Riesterrente stehen wir irgendwo dazwischen.
Sozialstaat ist kein klar abgegrenzter Begriff. Inwieweit
unterscheidet sich das Verständnis vom Wesen und den Aufgaben
eines Sozialstaates in den einzelnen europäischen Ländern?
Das Verständnis von Sozialstaat ist stark kulturell
geprägt. Schweden zum Beispiel hat homogene Strukturen und seit
dem Dreißigjährigen Krieg eine friedliche Geschichte. Es gab
keine religiösen Konflikte, die Bevölkerung ist protestantisch.
All das hat den Schweden die Angst vor einem starken Staat
genommen. Deshalb darf der Staat dort sogar in die Erziehung der
Kinder eingreifen, ja, Erziehung soll öffentliche Aufgabe sein.
Der Sozialstaat dort setzt nicht auf Transferzahlungen, sondern
tritt selbst als Dienstleister auf, der beispielsweise
Kinderbetreuung gratis anbietet.
Ganz anders sieht das in religiös zerklüfteten Ländern wie
Deutschland aus. Der Staat galt als protestantischer Staat und
war einem Teil der Bevölkerung verdächtig. Von staatlichen
Eingriffen gerade in Bildung und Erziehung hielt man wenig. Heute
noch gelten Erziehung und Familie als Privatsache. Der Staat hat
sich herauszuhalten. Deshalb bietet der deutsche Wohlfahrtsstaat
eher Transferleistungen wie Kindergeld an, statt die Betreuung
der Kinder in staatlichen Kindergärten zu übernehmen.
Ein anderes Beispiel ist die Versorgung alter Menschen in
Skandinavien und Deutschland. Während der Staat dort dem Menschen
Pflegeplätze zur Verfügung stellt, hat der deutsche die
Pflegeversicherung eingeführt. Die Leute sollen selbst
entscheiden, wo sie von wem und wie versorgt werden. Der Staat
hat nach deutschem Verständnis dabei nichts zu suchen. Auch der
Rentenpolitik liegen unterschiedliche Zielvorstellungen zugrunde:
Während in Großbritannien Ziel einer Rentenversicherung die
Armutsbekämpfung ist, soll die deutsche Rente den Lebensstandard
für Menschen aus Normalarbeitsverhältnissen sichern. Die Schweiz
wiederum hat mit ihrer Rentenpolitik eine Umverteilung im Sinn:
Es gibt eine relativ hohe Einheitsrente. Wer viel verdient hat,
bekommt auch nicht mehr.
Angesichts dieser kulturellen Unterschiede. Inwieweit sind die
Erfahrungen aus anderen Ländern übertragbar?
Das ist in der Tat ein Problem der vergleichenden
Sozialforschung. Wie sagte einst der alte Goethe? "Nur Dummköpfe
vergleichen." Es ist tatsächlich schwierig, die Erfahrungen aus
dem einen Land auf das andere zu übertragen. Gerade wenn es um
historisch verankerte Werte, Normen und Einstellungen geht,
wissen wir nicht, ob das Instrument, das im Land A gut
funktioniert hat, im Land B die gleiche Wirkung hätte. Mütter,
die in Schweden zu Hause bleiben, werden verdächtig beäugt.
Frauen, die in Deutschland kurz nach der Geburt ihres Kindes
wieder arbeiten gehen, gelten als Rabenmutter. Würde der Ausbau
von Tagesbetreuung und Familienpolitik nach schwedischem Modell
tatsächlich dazu führen, dass in Deutschland viel mehr Mütter
früh arbeiten?
Wie können wir von anderen dann lernen?
Auch wenn man die Lösungsmodelle anderer Länder nicht
einfach abkupfern kann, weil eine andere Geschichte und andere
Strukturen dahinter stecken, kann man von ihnen lernen. Die
Unterschiedlichkeit erzeugt eine Art Wettbewerb und Dynamik. So
hat man die Idee der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland
aufgegriffen. Die Umsetzung aber muss anders sein als in Dänemark
oder England. Am besten können wir von Systemen lernen, die uns
ähnlich sind. Der Haken an der Sache ist nur, dass diese Systeme
oft dieselben Probleme haben: Italien oder Frankreich etwa. Die
französische Familienpolitik allerdings ist durchaus vorbildlich,
aber wieder ein Sonderfall. Denn seine Geschichte reicht bis zum
verlorenen Krieg gegen Deutschland 1870/71 zurück. Damals merkten
die Franzosen, dass sie zu wenig wehrfähige Männer hatten. Danach
wurde bei allen familienpolitischen Maßnahmen gefragt: Bringen
sie mehr Kinder? In der Sozialpolitik wirken solche Dinge
furchtbar lange nach.
Was ist mit den Niederlanden? Die Niederländer haben ihren
konservativen Wohlfahrtsstaat in den vergangenen Jahren doch
kräftig umgekrempelt.
Kleine Länder mit so großen Kolossen wie unserem zu
vergleichen ist problematisch. Kleine Staaten sind reformfähiger.
Die politischen Eliten sind kleiner und der Austausch über die
politischen Kanäle geht schneller. Die Niederlande sind zudem
nicht so zerklüftet wie das föderale Deutschland. Der Anteil des
Exports am Bruttosozialprodukt wiegt bei einem kleinen Land
schwerer als in einem 80-Millionen-Land. International
wettbewerbsfähig zu bleiben ist überlebenswichtig. Das erhöht den
Konsensdruck.
Außerdem haben die Niederlande ein Mehrparteiensystem. Die
Zusammensetzung der Regierungsparteien wechselt so häufig, dass
es sich niemand in der Opposition leisten kann, eine Maßnahme der
Regierung radikal anzuprangern, denn in ein paar Monaten könnte
er selbst Teil dieser Regierung sein. Das stärkt die
Kooperationsbereitschaft beachtlich. In einer kleinen Ökonomie
sind zudem Arbeitsmärkte leichter beeinflussbar. 100.000
Teilzeitbeschäftigte mehr - das ist in den Niederlanden schon
eine Prozentstelle, in Deutschland kaum statistisch
erfassbar.
Und doch: Die Niederländer, Schweden und Briten haben es
geschafft, ihre Sozialstaaten umzubauen. Warum fällt die Reform
in Deutschland so schwer?
Zum einen haben wir sehr viele Vetospieler. Die
Anforderungen, alle unter einen Hut zu bringen, sind in
Deutschland extrem hoch. Denken Sie nur an den Bundesrat, die
Tarifparteien. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind sehr
unflexibel und von den Interessen ihrer Organisation geleitet.
Zum anderen ist unsere politische Führung sehr risikoscheu.
Wir reden zur Zeit viel zu viel über Grundsatzfragen:
Bürgerversicherung, Kopfsteuer zum Beispiel. Diese Labels sagen
gar nichts aus, es hängt davon ab, wie sie gemacht sind. Es ist
für beide Modelle eine rechte und eine linke Spielart denkbar.
Anstatt mit
Bild-Zeitungs-tauglichen Etiketten um sich zu werfen,
müsste intern viel komplexer diskutiert werden. Wir müssten über
die zweite, dritte, vierte Konsequenz einer Reform
nachdenken.
Das Vertrauen der Bürger in die Politik und einen
erfolgreichen Umbau des Sozialstaates schwindet.
Ja, aber die Leute kennen die Strukturen viel zu wenig. Sie
haben keine Vorstellungen von den Dimensionen, um die es geht,
von den Kosten, die es zu stemmen gilt. Wenn sie zehn Euro beim
Arzt bezahlen sollen, fängt das Geschrei an, weil jeder Einzelne
unmittelbar betroffen ist. Lieber würden die meisten das
Beitragsniveau um ein bis zwei Prozent erhöhen - dass das
wesentlich mehr als zehn Euro wären, interessiert nicht. Es
rechnet keiner nach, man merkt es nur indirekt. Wir haben in
Deutschland ungeheuere Verhaltensparadoxien: Die Politik ist ein
bisschen feige und schaut kurzfristig auf die nächste Wahl, der
Wähler ärgert sich darüber, aber entscheidet selbst genauso
kurzfristig. Wen interessieren schon die Rentenbeiträge der Enkel
oder die Kassenbeiträge von übermorgen?
Das deutsche Modell ist in Verruf geraten. Viele machen sich
Sorgen um die Zukunft unseres Sozialstaates. Wie steht der
deutsche Wohlfahrtsstaat im internationalen Vergleich da?
Es gibt keinen anerkannten Vergleichsmaßstab. Die Höhe der
Sozialausgaben sagt wenig aus. Insgesamt liegt Deutschland im
Mittelfeld. In der Fußballterminologie: eine Mannschaft ohne viel
Flair, jenseits des UEFA-Cups. Wir haben eine umfassende
Absicherung, 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung sind erfasst, das
Leistungsniveau ist in Ordnung.
Fazit: Alles ist bestens. Wir brauchen keinen Umbau unseres
Sozialstaates?
Doch, natürlich müssen wir umbauen. Aber die Menschen sind
in Deutschland zur Zeit psychologisch ungeheuer verunsichert. Das
prägt zu Unrecht die hitzige Debatte. So schlimm ist es um uns
nicht bestellt. Sicher, wir sollten die Finanzierungsbasis
unserer sozialen Sicherungssysteme überdenken. Ziel muss es sein,
möglichst viele Menschen in Beschäftigung zu bringen. Der Staat
sollte mehr Dienstleistungen übernehmen, damit könnten wir wie in
Skandinavien die Beschäftigung ankurbeln.
Wir müssen die Leute mehr motivieren, etwas selbst
anzupacken. Was die Engländer "Enabeling" oder "Empowerment"
nennen, hat hierzulande kaum Tradition. Investitionen ins
Bildungssystem sind wichtiger denn je. Wir müssen enge
Koppelungen, die wir haben, lockern. Zum Beispiel wird in
Deutschland viel von schlechten Jobs geredet. Doch ein schlechter
Job ist an sich nicht schlecht. Er ist es nur dann, wenn man
nicht mehr rauskommt, wenn damit Chancen verloren gehen. Er ist
es, wenn er keine Aufstiegsmöglichkeiten bietet und langfristig
keine gute Absicherung. Das müssen wir transparent machen und
ändern.
Hat unser Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung
überhaupt noch eine Chance? Einerseits steigt in einer
globalisierten Welt das Bedürfnis nach sozialer Absicherung,
andererseits fürchten viele den Abbau der Sicherungssysteme.
Bisher zeigen alle Daten, dass durch die Globalisierung die
wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nicht sinken. Aber zum einen
messen wir nur grobe Faktoren wie die Sozialleistungsquote. Zum
anderen treten solche Effekte nur mit Verzögerung auf. Wir müssen
also noch zehn Jahre warten. Klar ist bereits jetzt: Wir brauchen
andere sozialstaatliche Leistungen in einer globalen Wirtschaft.
Vor allem muss der moderne Sozialstaat das Bildungswesen
massiv stützen, Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftschancen der
Beschäftigten sichern. Wir brauchen einen Sozialstaat, der mehr
investiert als abfedert. Weg von der Spardose, hin zum
Rückversicherungsmodell. Ich bin optimistisch, dass wir das
schaffen. In 20 Jahren werden wir vielleicht etwas geringere
Leistungen haben, im System werden sich mehr Elemente mischen.
Aber es wird uns immer noch ganz gut gehen.
Josef Schmid:
Wohlfahrtsstaaten im Vergleich.
Soziale Sicherung in Europa:
Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme,
UTB Verlag, Stuttgart 2002,
497 Seiten, 12.90 Euro,
ISBN 3-8252-2220-9
www.utb.de
Website des Autors:
www.sowi.uni-tuebingen.de/wip
Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.
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Zum Buch
Josef Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. . Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme.. UTB Verlag, Stuttgart 1900, 497 Seiten, ISBN 3-8252-2220-9
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Autorin
Anja DilkAnja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.
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