Das vierte M
Drei Sorten von Verschwendung identifizierten die Pioniere des Lean-Ansatzes in den Werkshallen von Toyota, die "drei M": Mura (Schwankungen), Muri (Überlast) und Muda (unproduktive Tätigkeiten). Nun erkennt ein deutscher Autor in jenem Overload an Managementtools, Planung und Kontrolle, die scheinbar zur Unternehmensführung dazugehören, eine vierte Art der Verschwendung. Das vierte M: Management.
Aus den Unternehmen dringt unisono die Klage, dass Meetings überhandnehmen, dass sie zur Plage geworden sind, dass sie die Zeit fressen, während die Arbeit liegen bleibt. "Die Arbeit? Bleibt liegen?", fragt Lars Vollmer: Etwas, das in Unternehmen so breiten Raum einnehme, für das alle anderen Arbeiten unterbrochen würden, das so viel Ressourcen binde, das soll keine Arbeit sein?
"Genau. Es ist keine Arbeit", lautet der messerscharfe Schluss des Unternehmers, Buchautors, Redners und Mitbegründers des Intrinsify.me-Netzwerks. Seine These: "In den meisten Unternehmen wird zu wenig gearbeitet und zu viel Arbeit gespielt." Seine Schlussfolgerung: "Die meisten Mitarbeiter UND vor allem die meisten Führungskräfte müssen meiner Ansicht nach deutlich mehr arbeiten, wenn sie wollen, dass ihr Arbeitsplatz auf Dauer bestehen bleibt und ihr Unternehmen floriert. Deutlich mehr!"
Das kommt provokativ daher, soll es auch, ist aber nur die sorgsam geschärfte Spitze einer wohlüberlegt ausbuchstabierten Argumentation.
Kaum Zeit für wirkliche Arbeit
Lars Vollmer ist ein ebenso pointiertes wie grundlegendes Buch zu Neubestimmung von Arbeit, Organisation und Zusammenarbeit gelungen. Dieses Buch ist vieles: eine wohltuend wenig theorielastige Einführung in ein systemtheoretisches Verständnis von Organisationen. Eine Fortschreibung des Lean-Ansatzes. Eine Abrechnung mit dem tayloristischen Management. Eine Geißelung der Bürokratie in Unternehmen. Eine Klarstellung, worin Zweck und Aufgabe von Unternehmen liegen und worin unternehmerischer Erfolg besteht. Und nicht zuletzt der Versuch, Arbeit jenseits von voluntaristischen Feelgood- und Schöner-arbeiten-Fantasien neu zu bestimmen: als ehrliche Arbeit, als das "Ergebnis von Zusammenarbeit, die Freude macht".
Doch noch mal ganz von vorn. Vollmers Diagnose ist klar: Die Unternehmen haben einen gewaltigen Overload an unproduktiven Beschäftigungen, lästigen Ritualen, unsinnigen Regeln und wirkungslosen Programmen aufgebaut - einen Wust von Managementmethoden und -tools, der die eigentliche Arbeit, nämlich die Wertschöpfung für den Kunden, in den Hintergrund drängt. "Denn für die eigentliche Arbeit am Projekt bleibt in einer normalen Arbeitswoche neben all den Meetings, Team- und Chefgesprächen, Reportings, den zu bauenden Projekt-Doku-Excel-Sheets fürs Controlling und den zu bauenden Projektfortschritts-PowerPoints für das Mittwochsmeeting ja auch kaum Zeit."
Vollmer beschreibt das mit einer Mischung aus Mitleid und Bitterkeit. Ihm geht es nicht um schnelle vordergründige Schuldzuweisungen, sondern um eine tiefschürfende Analyse der prekären Situation, in der sich unsere Unternehmen verfangen haben. Schuld daran sind nicht die Mitarbeiter, nicht die Führungskräfte, auch nicht die Unternehmenskultur oder gar der Taylorismus. Denn Mitarbeiter wie Führungskräfte litten unter dem Gefühl, nicht ausreichend zur eigentlichen Arbeit zu kommen. Sie agierten "als Darsteller in einem Theaterstück, das jemand anderer geschrieben hat" - der erste Hinweis auf ein zentrales Bild in Vollmers Darstellung: das des Theaters.
Wohlweislich fällt der Autor aber nicht mit der Tür ins Haus, sondern führt seine Argumentation sorgsam und fundiert ein. Dabei nimmt er zwei Anleihen bei der Theorie: zum einen beim Lean-Ansatz und der Identifizierung unterschiedlicher Formen von Verschwendung, zum anderen bei einem systemtheoretisch inspirierten Verständnis, das Organisationen anders in den Blick bekommt denn als pyramidale Managementstruktur.
Muri, Mura, Muda, Management
Kern des Lean-Ansatzes ist in knappster Form ausgedrückt, Verschwendung zu eliminieren. Also alle Arten von Leerlauf und unproduktiven Tätigkeiten, die sich in Produktionsprozesse eingeschlichen haben. Ursprünglich entstanden ist der Lean-Ansatz in den Produktionshallen von Toyota, wo die Lean-Pioniere "drei Sorten von Verschwendung" identifizierten, so Vollmer: Mura (Verschwendung durch Schwankungen), Muri (Verschwendung durch Überlast) und Muda (Verschwendung durch unproduktive Tätigkeiten). Hier wird es allerdings begrifflich ein wenig holprig, weil Vollmer "Verschwendung" als Oberbegriff für alle "drei M" des Toyota-Produktionssystems verwendet, während dort ursprünglich nur Muda explizit als Verschwendung tituliert (und in sieben Formen untergliedert) worden war. Das ist ein wenig verkürzt, aber nicht falsch, denn es trifft den Kerngedanken des Lean-Ansatzes, wie gesagt, Verschwendung zu eliminieren.
Der entscheidende Punkt ist ein anderer. "Mir wurde mit der Zeit klar, dass etwas fehlte." Da ist eine weitere, eine vierte Sorte von Verschwendung, die im Toyota-Modell nicht enthalten war, weil sie erst in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufkam und sich "nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts dramatisch verstärkt", wie der Autor schreibt: "Die vierte Art der Verschwendung begehen Menschen, wenn sie nicht arbeiten, sondern Arbeit spielen." Und sich eben jenen nicht produktiven Tätigkeiten widmen, die scheinbar unverzichtbarer Kern jeder Unternehmensführung sind: Managementmethoden wie Meetings, Mitarbeitergespräche, Budgetverhandlungen, Arbeitszeiterfassung, Change-Programme und so weiter.
Vorne spielen, hinten arbeiten
Um dieses "Spielen" richtig zu verstehen, braucht es einen weiteren Baustein, den Vollmer in Anlehnung an ein systemtheoretisches Verständnis von Organisation entwickelt - erfreulicherweise ohne viel Theorie. Für das Selbstverständnis von Management ist die pyramidale Struktur der Organisation entscheidend; das Organigramm spiegelt wider, wie in Organisationen Informationen laufen und Entscheidungen getroffen werden. "Per Reporting sammelt sich die formelle Struktur die Informationen zusammen und transportiert sie in der Hierarchie nach oben. Per Anweisung reagiert sie von oben darauf, die Anweisung wird als Information von oben nach unten transportiert und unten in der Hierarchie exekutiert, also ausgeführt. Die Exekution wird kontrolliert."
Versteht man ein Unternehmen indes als soziales System, ist diese formelle Struktur indessen nur ein Strukturelement von mehreren. Neben den formell geregelten Beziehungen gibt es in jedem Unternehmen eine Menge informeller Kommunikation und eine netzwerkartige Struktur, die sich um die Wertschöpfung rankt. Beide Strukturen entfalten sich jedoch eher im Verborgenen und werden in der Wahrnehmung der formellen Managementstruktur ausgeblendet oder als Störung wahrgenommen. Hier knüpft Lars Vollmer an einen Gedanken seines Freundes Niels Pfläging an (formuliert in Organisation für Komplexität): "Informelle und Wertschöpfungsstruktur bilden die Hinterbühne einer jeden Organisation."
Aus diesem Gedanken entwickelt Vollmer nun das starke Bild von der Vorder- und der Hinterbühne des Unternehmens: Vorne wird gespielt, hinten wirklich gearbeitet. Vorne herrscht die formelle Kommunikation, hinten die informelle. Vorne, auf der Bühne, beschäftigen sich die Mitarbeiter mit den Belangen der formellen Struktur, während hinten, in dieser "unplanbaren und nicht zu managenden Struktur ... viele, wenn nicht gar alle guten Ideen und Problemlösungen" entstehen. Hier erledigen Mitarbeiter, gewissermaßen "zwischen den Aufführungen mal so eben alles Entscheidende, was der Kunde braucht".
Organisationen, die nicht mehr in die Zeit passen
Zwei entscheidende Fragen wirft der Autor nun auf: "Erstens: Tragen die Aktivitäten der formellen Struktur zur Wertschöpfung bei? Zweitens: Wie viel Raum nehmen die Aktivitäten der formellen Struktur im täglichen Tun ein?" Seine Antwort: Erstens ist die formelle Kommunikation nicht wertschöpfend: "Ein Bericht, liebe Freunde des klaren Wortes, ist keine Arbeit, denn es findet dabei keine Wertschöpfung statt." Zweitens: "Wir beschäftigen uns zu viel mit den Belangen der formellen Struktur. Viel zu viel!" Vollmer schätzt, dass in vielen Unternehmen "die Theaterquote schon bei jenseits von 50 Prozent liegt". Viel zu viel Theater. Viel zu viel Management.
Wenn aber weder die Mitarbeiter noch die Führungskräfte und schon gar nicht die Unternehmenskultur oder der Taylorismus schuld an der Misere sind, was dann? Ein Missverständnis, sagt Vollmer. Ein Missverständnis freilich, das in dem Menschenbild wurzelt, aus dem heraus Management entstanden ist. In Kürze geht der Gedankengang so: Dynamik und Komplexität der Welt haben (bekanntlich) enorm zugenommen, die Form der Organisation aber ist gleich geblieben. Wenn aber eine Organisationsform nicht mehr zu ihrer Umwelt passt - konkret die Art, wie Arbeit in einem Unternehmen organisiert wird -, "dann entsteht in der Organisation Stress". So basiert die Linienorganisation auf der Voraussetzung, dass die Entscheider oben wissen, was zu tun ist. Das funktioniert unter stabilen Bedingungen, nicht aber in Komplexität. Kommen deswegen dann Anweisungen zu spät oder passen nicht mehr zur Lage, merken das die Menschen in der Organisation - und "weichen auf die Hinterbühne aus". Die Führungskräfte wiederum glauben, "dass das Abweichen der Mitarbeiter von ihren Anweisungen die Ursache für den Misserfolg ist". Sie reagieren, indem sie noch härter arbeiten und genau das tun, "was im tayloristischen Denkrahmen des Managements ihre Kernaufgabe ist": noch mehr disziplinieren und mehr und bessere Regeln aufstellen. "Sie intensivieren und vermehren das, was ohnehin schon nicht funktioniert." Das Problem ist, dass so strukturierte Organisationen "nicht mehr in die Zeit passen", sagt Lars Vollmer.
Zusammenarbeit von Könnern
Was aber ist die Lösung? Wie können Organisationen gestaltet werden, die in die Zeit passen? Und vor allem: Wie kann der Umbau gelingen? Und: Kann er überhaupt gelingen? Zwei Antworten des Autors sind hier wichtig. Zum einen gibt es - wiederum im Einklang mit Pfläging - in jedem Unternehmen schon selbst organisierte Teams mit direktem Bezug zu Markt und Kunden. Nur agieren diese oft im informellen Raum, auf der Hinterbühne. Sie gilt es zu identifizieren. Unternehmen sollten also schauen, wo in der Organisation wirkliche Wertschöpfung passiert. Allerdings ist es nicht mit der Abschaffung der einen oder anderen Managementmethode getan, warnt der Autor. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, "wie im Unternehmen Wertschöpfung erbracht wird. Nämlich nicht individuell, sondern als emergentes Ergebnis des sozialen Systems".
Zum anderen ist die Frage nach der Organisation neuen Typs falsch gestellt. Wrong Turn, falsches Denkmuster! "One size fits all" passt auf nichts und für niemanden mehr. Die neue Organisationsblaupause als Ersatz für die tayloristische Organisation kann es nicht geben. "Stattdessen gibt es so viele sinnvolle Organisationsformen, wie es sinnvolle Aufgaben gibt." Es gelte, die Organisation von den Aufgaben her zu entwickeln, respektive um die Aufgaben herum zu bauen, ist Vollmers Ratschlag. Damit schließt sich der Kreis zur ersten Antwort. Denn Aufgaben und Probleme werden nur von Menschen gelöst. Ihr Können und ihre Zusammenarbeit sind entscheidend. Die Zusammenarbeit von Könnern.
Freiheit, Sinn und Leistung
Wertschöpfung, Können, Könner und Zusammenarbeit sind also die Schlüsselbegriffe, um die das Buch kreist - und jede neue Organisation kreisen muss. Nicht: Wissen. Und nicht: Happy New Work. Dazu gäbe es auch noch eine Menge auszuführen. Dafür (wie für das Buch insgesamt) gilt aber die Empfehlung: Selber lesen! Das Schlusswort gehört wieder dem Autor - mit einem Zitat, dem nichts hinzuzufügen ist: "Ich will in einem Unternehmen des 21. Jahrhunderts vor allem individuelle Freiheit walten sehen. Dann folgen Menschen ihrem eigenen Sinn und bringen freiwillig Leistung."
Zitate
"Das Problem ist: An allen Ecken und Enden versuchen wir, mit veralteten Methoden, mit toxischen Ritualen, mit unbrauchbaren Werkzeugen und wirkungslosen Prozessen auf die vielen und immer häufiger werdenden Überraschungen einer immer komplexer werdenden Welt zu reagieren." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Die vierte Art der Verschwendung begehen Menschen, wenn sie nicht arbeiten, sondern Arbeit spielen." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Eine der fehlerhaften Grundannahmen, unter denen die meisten Unternehmen heute geführt werden, ist die Annahme, dass der Mensch unterm Strich ein Risikofaktor ist, der sich nur bedingt steuern lässt und der deshalb durch Managementtools limitierend eingeengt werden muss, um ihn einigermaßen unter Kontrolle zu halten und zum Arbeiten zu bewegen. Eine weitere, damit verwandte Grundannahme ist, dass Unternehmen überhaupt gesteuert werden können." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"In den meisten Unternehmen wird zu wenig gearbeitet und zu viel Arbeit gespielt." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Dieses Theater gefährdet die Existenz vieler Unternehmen." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Arbeit besteht alleine daraus, Wertschöpfung für den Kunden zu erbringen - alles andere ist Verschwendung." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Taylorismus ist in den heutigen komplexen und dynamischen Märkten eine höchst defizitäre Organisationsform." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Taylorismus plus Komplexität gleich Schiffbruch." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
"Ich will in einem Unternehmen des 21. Jahrhunderts vor allem individuelle Freiheit walten sehen. Dann folgen Menschen ihrem eigenen Sinn und bringen freiwillig Leistung." Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!
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Service: Zum Buch auf der Verlagsseitezum Buch
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Autorenwebsite zum Buch:larsvollmer.com
Zum Buch
Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit!. Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden. Linde Verlag, Wien 2016, 192 Seiten, 24.90 Euro, ISBN 9783709306123
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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