Ohne rosarote Brille
Die Zukunft, ein Missverständnis. Genau genommen wäre von Zukünften zu reden. Denn erst wenn klar ist, welche Vorstellung von Zukunft gemeint ist, kommt Klarheit in die Zukunftsdebatte. Zukunft ist multipel in ihrem Charakter.
Zukunft als Geschichte: 2003 erarbeitete das Global Business Network im Auftrag des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums eine Zukunftsstudie über den Klimawandel. Dabei stützte sich das Institut auf eine Szenariomethode, die basierend auf einer Vier-Felder-Matrix vier Szenarien produzierte. Allerdings entschieden sich die Zukunftsexperten, zu dramatisieren, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, und stellten ein Szenario namens "rapid climate change" in den Vordergrund: Demnach drohten schon zwischen 2010 und 2020 Trockenheit und Dürre in wichtigen Landwirtschaftsregionen sowie in großen Ballungsgebieten in Europa und Nordamerika; Asien, Nordamerika und Europa stünde eine dramatische Abkühlung bevor - Australien, Südafrika und Südamerika hingegen eine nicht minder dramatische Erwärmung; Winterstürme und Winde nähmen stark zu, und Mitteleuropa erwarteten klimatisch sibirische Verhältnisse. Ein dramatisches Szenario - das sofort in den Mittelpunkt der Medienberichterstattung rückte und für Schlagzeilen sorgte: "Zukunftsforscher sagen radikalen Klimawandel voraus".
Die Medien nahmen das Szenario somit als Prognose. Als Hiobsbotschaft. Und das, obwohl die Zukunftsexperten betont hatten, dass es sich bei ihrem Szenario gerade nicht um eine Vorhersage einer bestimmten Zukunft handle. Sondern um eine zwar denkbare, aber nicht unbedingt wahrscheinliche Zukunft. Gedacht als Warnung. Doch diese Botschaft ging unter.
Ein falsches Verständnis von Zukunft
Diese Episode ist für Pero Mićić ein charakteristisches Beispiel für die Irrungen und Wirrungen in der Zukunftsbranche. In seinem Buch Die 5 Zukunftsbrillen, das nun in einer dritten, völlig überarbeiteten und aktualisierten Auflage erschienen ist, setzt der profilierte Zukunftsexperte alles daran, derartigen babylonischen Verwirrungen den Garaus zu machen - und gleichzeitig ein klares, praxisorientiertes und holistisches Modell des Zukunftsmanagements vorzustellen. Beides ist ihm mehr als gelungen.
Die Prämisse von Mićićs Ausführungen ist das verbreitete falsche Verständnis von Zukunft. Normalerweise sprechen wir nämlich von der Zukunft im Singular, dabei wäre die Verwendung im Plural - also die Zukünfte - angemessener: Zeigt diese sprachliche Form doch viel besser die prinzipielle Offenheit des Zukünftigen auf. Aber das ist noch nicht alles. Mićić: "Multipel ist die Zukunft aber nicht nur darin, dass in der Zukunft unendlich vieles möglich ist. Multipel ist die Zukunft auch in ihrem Charakter." Summa summarum haben wir es nach Mićić mit zehn Zukünften zu tun - nämlich wahrscheinlichen, unwahrscheinlichen, plausiblen, überraschenden, gestaltbaren, gewünschten, geplanten, denkbaren, gedachten und möglichen.
Die reduktionistische Eleganz von Mićićs Ansatz besteht nun darin, dass er diese Zukünfte fünf sogenannten "Zukunftsbrillen" zuordnet, die jeweils spezifische Zugänge zur Zukunft darstellen. Und damit wären wir beim Kernstück des Buches, das sich einem hübschen Ziel verschrieben hat: in jedem den Zukunftsmanager zu wecken! Denn wir alle können nicht anders leben, als die Zukunft in irgendeiner Form zu thematisieren - sei es nun bewusst oder unbewusst, methodisch oder unmethodisch et cetera. Das systematische Zukunftsmanagement, wie es dem Autor vorschwebt, soll nun die Brücke zwischen Zukunftsforschung sowie Unternehmens- und Lebensführung schlagen.
Keine Missverständnisse im Zukunftsdialog
Doch zurück zur Brille. Methodisch rein und transparent ist es, sich nur eine Brille zu einer Zeit aufzusetzen - und sich dessen gleichzeitig bewusst zu sein. Auf diese Weise vermeidet man im gemeinsamen Zukunftsdialog Missverständnisse. Und derer sind da viele, wie schon das Eingangsbeispiel zeigt: Handelt es sich bei einer Zukunftsexpertise um eine Prognose, Planung, Warnung oder Vision? Ist ein Zukunftsexperte ein Prophet, Inspirator oder Innovator? Und welche Methode taugt in welchem Fall wie gut?
Mićić unterscheidet daher die blaue Brille ("Annahmen: Was kommt auf uns zu?"), die rote ("Überraschungen: Wie könnte uns die Zukunft überraschen?"), die grüne ("Chancen: Welche Zukunftsmärkte und Zukunftschancen können wir erkennen?"), die gelbe ("Vision: Was wollen wir im Jahr X erreicht haben?") und die violette Brille ("Strategie: Was tun wir jetzt und bald für unsere Vision?"). Wer diese Brillen im Gepäck hat, ist gut gerüstet: "Mit den fünf Zukunftsbrillen können Sie prinzipiell jede Methode und jedes Werkzeug des Zukunftsmanagements einsetzen. Sie sind methodenneutral. Die Zukunftsbrillen machen es Ihnen leichter, die vielen Methoden, Techniken und Werkzeuge in ihrer Eignung zu beurteilen und sie ins richtige Fach in Ihrem Werkzeugkasten zu legen."
Mićić geht es in seinem Buch um ein konsistentes, integratives und praktikables Modell, das ihm zufolge in dieser Form in Praxis und Wissenschaft bisher gefehlt habe. Dieses liegt nun in Form des "Eltviller Modells" vor, das die fünf Brillen in einen methodischen Rahmen integriert. Dem sukzessiven Durchlauf durch die Zukunftsbrillen ist jeweils eine Stufe vor- und nachgeschaltet: In einem ersten Schritt, dem "Zukunftsradar", geht es um die Beschaffung von Zukunftsinformationen, im letzten, dem Brillendurchlauf nachgeordneten Schritt steht die "Institutionalisierung" in Form eines prozeduralen, regelmäßigen Zukunftsmanagements im Mittelpunkt. Konzipiert wurde dieses Modell auf der Grundlage von 250 Interviews und circa 1.000 Workshops und Projekten mit Führungsteams verschiedenster Branchen sowie auf Basis der Fachliteratur.
Die rosarote Brille fehlt
Mićićs Buch, das sich an Entscheider jedweder Couleur richtet, liefert ein solides Fundament für eine unternehmerische Zukunftsstrategie. Besonders bemerkenswert: Nie verliert der Leser ob des hohen Grades an Differenziertheit den roten Faden aus den Augen. Die überaus übersichtliche Struktur und klare Sprache dürften jedem Praktiker entgegenkommen.
Anmerken könnte man zu guter Letzt, dass in Mićićs Brillenkonzept die sprichwörtliche rosarote Brille fehlt. Doch sie fehlt aus gutem Grund. Denn durch sie sähe die Zukunft eben rosarot, sprich allzu günstig aus. Was uns in Folge wohl davon abhielte, sie im Mix von nüchterner Vorausschau und kreativer Gestaltung in Angriff zu nehmen. Und beides sind schließlich notwendige Bedingungen für eine durchaus mögliche rosige Zukunft.
changeX 21.11.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Pero Mićić: Die 5 Zukunftsbrillen. So werden Sie zum Vordenker. GABAL Verlag, Offenbach 2013, 304 Seiten, 29.90 Euro, ISBN 978-3-86936-555-8
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Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.