Digitaler Tsunami
Der arabische Frühling des vergangenen Jahres wird als "Facebook-Revolution" in die Geschichte eingehen. Einer der Hauptakteure in Ägypten beschreibt nun, wie der Protest über Social Media ins wirkliche Leben fand.
Der 25. Januar war in Ägypten bis zum Jahr 2011 der "Tag der Polizei". Erinnern sollte er an die tapferen Polizisten, die im Revolutionsjahr 1952 nur mit Gewehren bewaffnet gegen die britischen Kolonialherren antraten. Seit vergangenem Jahr steht er für eine zweite ägyptische Revolution. An diesem Tag begannen die großen Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz, die das ägyptische Regime zu Fall brachten. Welche Rolle das Internet und vor allem soziale Medien wie Facebook und Twitter dabei spielten, beschreibt Wael Ghonim in seinem Buch revolution 2.0.
Ghonim ist kein Beobachter von außen. Ganz im Gegenteil. Nachdem im Sommer 2010 im Internet die schrecklichen Bilder eines jungen Mannes auftauchten, der von Polizisten erschlagen worden war, gründete er die Facebook-Seite "Kullena Khaled Said" - wir sind alle Khaled Said. In kürzester Zeit fanden sich Zehntausende, die sich im Namen des Erschlagenen Said gegen Diktatur, Unterdrückung und Folter zusammenfanden. Und von dieser Seite aus wurde schließlich im Januar 2011 die erste große Kundgebung organisiert, die die politische Welt Ägyptens umwälzte und zu den Wahlen führte, die vor wenigen Tagen abgehalten wurden. Das Time Magazin hat Wael Ghonim deshalb im Frühjahr 2011 an die Spitze der Liste der hundert einflussreichsten Menschen der Welt gesetzt.
Protest als Start-up
Noch etwas ist Ghonim: Er war und ist der Marketingchef von Google für die Nahostregion. Und damit zum einen ein Vertreter der sehr gut ausgebildeten jungen Generation, für die auch in Ägypten das Etikett "Internet-Generation" zutrifft. Zum anderen ist er Profi darin, Dinge über das Internet zu verkaufen - seien es Produkte, Dienstleistungen oder politische Ideen. Nicht erst seit seiner Arbeit für Google. Ghonim ist einer jener Web-2.0-Start-up-Fanatiker, die das Internet um die Jahrtausendwende überall in der Welt hervorgebracht hat. Schon bevor er mit Ende 20 den Google-Job übernahm, hatte er mehrere erfolgreiche Online-Unternehmen gegründet.
Dass es die Internet-Affinität seiner Generation war, die den Anfang vom Ende des Mubarak-Regimes einläutete, zeigt sich eindrücklich im Epilog des Buches. Ghonim beschreibt dort ein routinemäßiges Verhör durch die Staatssicherheit im Jahr 2007. Als erfolgreicher Vertreter der Mittelschicht, der mit einer muslimischen Amerikanerin verheiratet ist, ohne die US-Staatsbürgerschaft angenommen zu haben, der in Saudi-Arabien aufwuchs und aus seiner religiösen Überzeugung keinen Hehl macht, habe ihm eine solche Vernehmung irgendwann sowieso geblüht - quasi als Vorsichtsmaßnahme, wie er zu verstehen gibt.
Traditionell fürchtete das Regime in Ägypten vor allem religiös motivierte Oppositionskräfte. Dementsprechend fallen auch die Fragen aus. "Hätten Hauptmann Rafaat und seine Kollegen mehr Zeit damit verbracht, über das Internet nachzudenken, anstatt Ägypter nach Art ihres Glaubens zu sortieren, wären sie vielleicht besser auf den digitalen Tsunami vorbereitet gewesen, der sich auf sie zubewegte", beendet Ghonim den Bericht über dieses für ihn glimpflich ausgegangene "Gespräch" und setzt damit den Tenor seines Buches.
Wie der Online-Protest ins wirkliche Leben fand
Nicht umsonst spricht Ghonim von revolution 2.0. Er ist überzeugt: Ohne die Kommunikationsplattformen Facebook und später auch Twitter wäre die ägyptische Revolution nicht möglich gewesen. Denn sie, so sein zentrales Argument, bildeten die einzige Möglichkeit, ohne Gefahr für Leib und Leben den friedlichen Protest zu formieren und zu planen.
Über die Rolle des Internets im arabischen Frühling ist nun wirklich viel geschrieben worden, die Rede von der "Facebook-Revolution" ist in aller Munde. Aber sie wird nicht von allen geteilt. Kritiker der Theorie verweisen darauf, dass die kritische Masse erst durch den Protest auf der Straße erreicht wurde. Denn von den offiziell rund 80 Millionen Einwohnern hätten schließlich nur rund 15 Millionen Zugriff aufs Internet, so ein oft gehörter Einwand.
Ghonims Buch liefert nun eine unglaublich spannende Beschreibung - sehr persönlich und mit einer ordentlichen Prise Abenteuer gewürzt -, wie der Online-Protest ins wirkliche Leben fand. Wie aus ängstlichen Internet-Nutzern Menschen wurden, die Millionen anderer zu friedlichen Protesten aufriefen. Die, auch das beschreibt Ghonim, in einer Phase der Frustration und Demotivierung im Januar 2011 durch die Ereignisse in Tunesien, also aus der "realen" Welt, die Kraft bekamen, den 25. Januar auch in Kairo online vorbereitet zum geschichtlichen Ereignis werden zu lassen.
Zugleich liest sich das Ganze wie ein Handbuch für Online-Kampagnen. Ghonim profitierte von seinem Marketingwissen, als er "Kullena Khaled Said" ganz bewusst wie eine regelrechte Marke aufbaute und auf den (politischen) Markt warf, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Zwar wurde die Seite im Januar 2011 von Regimekräften gesperrt. Ein halbes Jahr zuvor jedoch hatte Facebook das selbst getan - Begründung: Man habe aus Veränderungen der Administratorenkonten geschlossen, die Seite sei manipuliert worden. Hintergrund waren Bemühungen von Ghonim und seinen Mitstreitern, ihre Namen zu verschleiern. Erst nach eingehenden Diskussionen mit Facebook und der Admin-Übernahme durch eine Amerikanerin ging die Seite wieder online.
Politischer Netzaktivismus kann funktionieren
Bei den Wahlen im Winter 2011/12 erreichten islamistische Kräfte eine überwältigende Mehrheit im Parlament. Westliche Zeitungen haben recht, wenn sie dazu anmerken, eine Demokratie nach westlichem Vorbild dürfe man in Ägypten noch lange nicht erwarten. Wo sich der mittlerweile sehr bekannte Ghonim politisch verortet, erfahren wir nicht. Sowieso betont er stets, er wolle nicht als Revolutionsführer gefeiert werden. "Hier haben wir es mit der Revolution 2.0 zu tun: Niemand war der Protagonist, denn alle waren ihre Protagonisten", betont er im Nachwort. Und damit, fügt man hinzu, auch ohne eindeutige politische Richtung.
So gesehen wird klar, warum die Eindrücke vom Tahrir-Platz, wo ein Volk leidenschaftlich um Demokratie und Freiheit zu kämpfen schien, und die anschließende Sehnsucht so vieler Wähler nach der vermeintlichen moralisch sauberen, aber nicht eben freiheitlichen Kraft eines politischen Islams so gar nicht zueinanderpassen mögen.
Auch das zeigt das lesenswerte Buch: Politischer Netzaktivismus kann funktionieren. Demokratie und Freiheit muss er aber nicht unbedingt bringen. Dass er unglaubliche Widerstände überwindet, bezweifelt dennoch niemand - und eben das macht Hoffnung. Vielleicht fängt die eigentliche Facebook-Revolution ja gerade erst an.
changeX 24.01.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch auf der Verlagsseitehttp://www.ullsteinbuchverlage.de/econ/...
Zum Buch
Wael Ghonim: revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern. Econ Verlag, Berlin 2012, 384 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-430201360
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Autor
Jost BurgerJost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.