Gegen die Verdrängung
Über eine Million Menschen werden in Deutschland zu Hause gepflegt - unter oft skandalösen Umständen. Markus Breitscheidel hat undercover als mobile Hilfspflegekraft gearbeitet und beschreibt eine Welt, die Angst vorm Altern macht. Aber er sieht eine Alternative: in gemeinsamen Wohnformen zwischen Wohnheim und WG.
In Andreas Dresens Film Sommer vorm Balkon erlebt der Zuschauer eine junge Frau, gespielt von Inka Friedrich, die ihr - weniges - Geld als Angestellte eines mobilen Pflegedienstes in Berlin verdient. Diese Arbeit ist nicht das Hauptmotiv des Spielfilms, aber die Szenen, in denen sie trotz Zeitdrucks versucht, ihre Klienten mit Anstand und Würde zu pflegen, rühren an und tragen das Grundthema des Filmes mit: Wie vereinbaren wir Menschlichkeit und Nähe mit den materiellen Notwendigkeiten des Alltags?
Zugleich passiert etwas anderes mit dem Zuschauer: Die anstrengende Arbeit, die keifende Pflegedienstleiterin und die Frustration von Pflegerin wie Gepflegten wird als etwas Normales, Alltägliches empfunden. Dass es so zugeht in der mobilen Pflege, braucht der Regisseur nicht zu erklären. Das wissen alle. Und kaum einer redet darüber.
Man muss sich diese Tatsache klarmachen, wenn man das neue Buch von Markus Breitscheidel in die Hand nimmt. Der Autor, der sich mit Undercover-Recherchen über die Heimpflege und die Leiharbeitsszene einen Namen gemacht hat, beschreibt in Gewaschen, gefüttert, abgehakt seine Erfahrungen als Hilfspfleger in der ambulanten Pflege. Nur wer sich eingesteht, dass Breitscheidel ja im Prinzip nichts Neues erzählt, versteht die tiefe, aber auf eine zunächst seltsame Weise doppelbödige Betroffenheit, die sich beim Lesen einstellt: Es handelt sich zum einen um ein Gefühl der Scham über gewisse Zustände in unserem Land, und diese Scham macht wiederum die ganz simple Angst, selbst einmal so zu enden, wie die von Breitscheidel geschilderten Pflegebedürftigen, umso schwerer zu ertragen.
Haarsträubend
Es fängt schon mit der haarsträubenden Schilderung der "Ausbildung" zur Pflegehilfskraft an, die Breitscheidel in einer Berliner Hinterhofbaracke in wenigen Wochen absolviert - zum Preis von 350 Euro. Haarsträubend deshalb, weil der Gesetzgeber Prüfungen vorschreibt, die sich gewaschen haben, die Ausbildung aber in keiner Weise geregelt ist. Da dauern die Kurse einmal vier Wochen, ein anderes Mal drei Monate, beinhalten mal ein Pflegepraktikum, mal auch nicht, einige Anbieter üben und erklären intensiv, andere treffen ihre Schützlinge zwei Stunden am Tag und verweisen ansonsten auf - natürlich auf deren Kosten zu kopierendes - Schulungsmaterial.
Haarsträubend aber vor allem deshalb, weil alles mit dem Wissen sämtlicher Beteiligter geschieht, dass es im Berufsalltag in der Regel sowieso nur ums möglichst effiziente Waschen, Füttern und Anziehen geht. Oder, wie es so schön heißt: "Als wenn man eine Ausbildung zum Fahrradführerschein absolviert, hierfür jedoch die Kenntnisse für den Autoführerschein vorausgesetzt werden." Und das in einem Bereich, der vielen Niedrigqualifizierten als Chance auf dem Arbeitsmarkt dienen soll.
Richtig schlimm wird es, wenn man sich die Praxisberichte aus Breitscheidels Arbeit als Undercover-Hilfspfleger in verschiedenen Städten antut, aus denen das Buch zum Großteil besteht. Ja, man hat es geahnt, aber diese Erfahrungen haarklein serviert zu bekommen, machen die Vorstellung von einer güldenen Zukunft in einer Bildungsgesellschaft, in der wir alle glücklich alt werden, ziemlich hinfällig. Da wird Breitscheidel als Hilfspfleger bei einem kleinen privaten Pflegedienst mit einer Liste von 18 zu betreuenden Menschen mit einem der typischen Kleinwagen durch Stuttgart geschickt. Zeit, seine Aufgabe zu erledigen, hat er pro Tag exakt sechs Stunden. Da liest man dann von den berühmten acht bis zehn Minuten Waschen und Anziehen, nebst den sieben (!) Minuten bezahlter Rüstzeit zwischen den Einsätzen, die ein Hohn sind angesichts ewiger Anfahrtszeiten durch den Großstadtstau. Da liest man von der Quälerei, die das mechanische Abfertigen der meist alten Menschen für diese ebenso wie die Pfleger bedeutet. Denn, das betont Breitscheidel immer wieder: Wortwörtlich unmenschliche Zustände, daran sind nicht die Pfleger schuld. Sondern die Finanzierung der mobilen Pflege in Deutschland.
Alles bekannt, alles verdrängt, alles schlimm
Streng dem Grundsatz "Zuhause vor Heim" verpflichtet, führen die gesetzlichen Regelungen die eignen guten Absichten ad absurdum. Denn für eine betreute Person in der Pflegestufe 1 - die weitaus größte Gruppe der mehr als eine Million zu Hause Betreuten in Deutschland - erhält der Dienstleister nicht einmal die Hälfte des Satzes, den es für die Pflege im Heim gibt. Um auch nur halbwegs wirtschaftlich über die Runden zu kommen, müssen die Dienste deshalb auf absurd niedrige Bezahlung, extremen Zeitdruck, fehlende psychologische Betreuung der Angestellten und den Verzicht auf eine Arbeitseinweisung für neue Mitarbeiter setzen - inklusive jeder Menge unbezahlter Überstunden.
Nebenbei liefert Breitscheidel auch noch Munition im Kampf für einen branchenübergreifenden Mindestlohn. Den gibt es zwar für die Pflegebranche, die große Mehrheit der Pflegedienste setzt aber Leiharbeiter ein, und für die gilt ein deutlich niedrigerer Mindestlohn. Noch weniger Geld also, und das in einem Beschäftigungsfeld, auf dem laut Autor fast nur noch 30-Stunden-Verträge abgeschlossen werden - um Kosten zu sparen. Versüßt wird das dann mit dem Hinweis, ein Mehr dieser schweren Arbeit sei doch eh nicht zu verkraften. Und außerdem stocke das Arbeitsamt ja auf - oder es winkt ein zusätzlicher 400-Euro-Job, natürlich beim selben Arbeitgeber. Dass längst schon auch kirchliche Träger mit Leiharbeit und "Beschäftigungsgesellschaften" arbeiten - alles bekannt, alles verdrängt, alles schlimm.
Alternative: gemeinsames Wohnen
So könnte man also in Depressionen und handfeste Zukunftsangst versinken angesichts all der traurigen Schilderungen, berichtete Breitscheidel nicht auch von guten Erfahrungen. Die macht er bei einem Pflegenetzwerk in Berlin, dessen Geschäftsführer er mit dem Satz zitiert: "Mir kann keiner erzählen, dass ich einen Menschen industriell abfertigen muss, um effizient und wirtschaftlich erfolgreich zu sein." Tatsächlich scheint das zu gelingen. Wenn auch bei diesem Unternehmen die Pfleger ebenfalls nicht reich werden - die psychische Belastung, das Gefühl, "nichts geschafft" zu haben und dabei noch ausgebeutet zu werden, fehlt. Breitscheidel erlebt eine Art Mischform: Pflegedürftige werden nicht über die Stadt verteilt versorgt, sondern wohnen zu mehreren jeder in einer eigenen kleinen Wohnung im selben Haus. Die Pflege läuft zwar als mobile Pflege - es gibt keine Stationen, keine gemeinsame Küche und Ähnliches -, aber während der Pfleger für Herrn Meier die Badewanne volllaufen lässt, kann er mal eben in der Nachbarwohnung schon den Kaffee aufsetzen. Zudem entfallen die langen Fahrzeiten - und das nimmt den Zeitdruck, die Hetze und die Frustration aus der Arbeit, für beide Seiten.
Ein Plädoyer für die flächendeckende Einrichtung von Alten-WGs und gemeinsamem Wohnen? Vielleicht. So weit geht Breitscheidel gar nicht. Er will, ganz im Sinne eines sehr gradlinig geschriebenen Enthüllungsjournalismus, aufrütteln und eine Diskussion in Gang bringen, die schon längst geführt werden müsste. Was wir natürlich alle wissen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch einen großen Beitrag gegen die Verdrängung leisten kann.
changeX 20.10.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Markus Breitscheidel: Gewaschen, gefüttert, abgehakt. Der unmenschliche Alltag in der mobilen Pflege. Econ Verlag, Berlin 2011, 224 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-430200981
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Autor
Jost BurgerJost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.