Irgendwo, irgendwie, irgendwann
Treibhausgasemissionen vermeiden, verringern und sie kompensieren, wo sie sich nicht vermeiden lassen. Das klingt nach einer praktikablen Strategie gegen den Klimawandel. Gerade für die Unternehmen, die zu den Hauptverursachern von Treibhausgasemissionen zählen. Entsprechend populär ist die Idee der Klimaneutralität. Doch genau besehen ist Klimaneutralität ein Ablenkungsmanöver. Eine Strategie, die das Klimaproblem mit Managementmethoden bearbeitbar macht, aber aufschiebt, was wirklich ansteht: eine nachhaltige und klimaschonende Umgestaltung von Geschäftsmodellen, Produkten und Produktionsverfahren. Innovation statt Problemverschiebung.
Es sind Begriffe, die Diskurse bestimmen. Ein für die aktuelle Klimaschutzdiskussion zentraler Begriff ist der der Klimaneutralität. Jedes Unternehmen, das zeigen möchte, dass es die Zeichen der Zeit erkannt hat und seinen Beitrag zur Verhinderung einer Klimakatastrophe leisten will, springt auf den Zug der Klimaneutralität auf. Es ist der neue Lieblingsbegriff von Management und Marketing, sei es nun ein Autokonzern oder ein Handelsunternehmen. Eine Studie im Auftrag der EU-Kommission ergab, dass mittlerweile auf zehn Prozent der Nahrungsmittelverpackungen mit einem Klimaschutzversprechen geworben wird. Eigentlich ein gutes Zeichen, dass immer mehr Unternehmen aller Größenordnungen die von ihnen verursachten Treibhausgasemissionen reduzieren wollen und Klimaneutralität zu einem zentralen Unternehmensziel erklären. Klimaschutz scheint nach einigen Jahrzehnten des verbissenen Ignorierens nun auch in weiteren Kreisen der Wirtschaft angekommen zu sein. Klimaneutralität ist ein neues Konzept, um unternehmerischen Klimaschutzbemühungen ein konkretes Ziel zu geben.
Wenn ein Begriff so in den Fokus rückt, dann ist es sinnvoll, genauer hinzuschauen und zu prüfen, was Klimaneutralität ist, wie das Konzept in der Praxis umgesetzt wird und ob und unter welchen Bedingungen es sich dabei tatsächlich um ein sinnvolles und ausreichendes Ziel handelt.
Um zu verstehen, was klimaneutral bedeutet, helfen die sprachlichen Wurzeln des Begriffs. Neutralität kommt vom lateinischen "neutrum" beziehungsweise "neuter". Wörtlich übersetzt: keines von beiden. Weder noch. Nicht gut, nicht schlecht. Und das beschreibt, was mit Klimaneutralität angestrebt wird: das Klima nicht länger negativ zu beeinflussen - aber eben auch nicht positiv. So weit geht das Konzept nicht. Es ist die Wahrung des Status quo, also Netto-null-Emissionen durch Emissionsreduktion und durch die Schaffung von CO2-Senken, die Emissionen absorbieren. Entsprechend kann das Ziel der Klimaneutralität auf zwei Wegen angestrebt werden: aktiv durch die Vermeidung von Emissionen oder passiv durch die finanzielle Unterstützung von Projekten außerhalb des Unternehmens, die irgendwo in der Welt und irgendwie zum Klimaschutz beitragen. Diese beiden Handlungsoptionen werden meistens kombiniert, weil es Unternehmen anders nicht möglich ist, die im Rahmen ihres Geschäftsmodells entstehenden Treibhausgasemissionen maßgeblich zu reduzieren. Deshalb nutzen sie ergänzend sogenannte Kompensationsmaßnahmen, die mit dem Unternehmen nichts zu tun haben und mit seinen Aktivitäten in keinem Zusammenhang stehen.
Klimaneutralität klingt nicht nur gut, sondern erscheint auf den ersten Blick auch als ein griffiges und klimapolitisch zweckmäßiges Konzept. Aber wie immer liegen die Probleme in den Details. Das Konzept hat gravierende Schwachpunkte, die zum einen die Attraktivität für Unternehmen erklären, zum andern aber auch deutlich machen, dass Klimaneutralität nur ein erstes und sehr kurzfristiges Etappenziel sein kann. Die Nachhaltigkeit von Unternehmensaktivitäten erfordert hingegen deutlich weiter gehende Maßnahmen über die Klimaneutralität hinaus.
Schwachpunkt 1: Keine Zeit für lange Zielhorizonte
Klimaneutral wird kein Unternehmen über Nacht. Die Umsetzung dieser Zielsetzung braucht Zeit. Die Frage ist daher, bis wann Neutralität erreicht werden soll. In einem Jahr, in fünf Jahren oder erst bis 2050? Und wie realistisch und ambitioniert ist der geplante Reduktionspfad in zeitlicher Hinsicht? Denn die Zeit drängt bekanntlich.
Eine Unternehmensberatung zum Beispiel kann recht schnell klimaneutral werden. Die Ermittlung der durch die Unternehmensaktivitäten verursachten Emissionen ist vergleichsweise einfach. Es werden Büroflächen genutzt, die beheizt werden. Es wird Strom verbraucht. Mitarbeitende nutzen Firmenfahrzeuge für den Weg ins Büro und auf Dienstreisen. Und es gibt eine überschaubare Menge von Verbrauchsmaterialien und technischen Geräten vom Papier bis zu Laptops, Druckern und Mobiltelefonen. Möglicherweise kommen auch Dienstleister zum Einsatz, wie beispielsweise ein Reinigungsdienst. Aber es gibt keine Produkte und dazugehörige Wertschöpfungsketten, die möglicherweise hochkomplex und international sind. Klimaneutralität ist für ein Dienstleistungsunternehmen mit Büroarbeitsplätzen daher ein sehr kurzfristig realisierbares Ziel. Die wichtigsten Emissionsquellen können vergleichsweise einfach und wirkungsvoll angegangen werden: Umstellung auf Ökostrom. Videokonferenzen statt Geschäftsreisen. Bahn statt Inlandsflug. Elektroauto statt Diesel. Unvermeidbare Treibhausgasemissionen werden schließlich durch Investitionen in umweltrelevante Projekte weltweit kompensiert. Bei einem Betonhersteller, einem Handelsunternehmen oder einem Chemiekonzern ist das anders. Dort sind zwar das CO2-Minderungspotenzial und damit auch der Handlungsdruck höher, aber die Aufgabe ist auch deutlich komplizierter. Solche Unternehmen setzen sich daher Teilziele in Bezug auf Produktlinien oder Standorte und planen mehr Zeit dafür ein. Meistens zu viel Zeit.
Denn wie sich zeigt, sind sowohl die Klimaschutzambitionen und die Investitionsbereitschaft wie auch der Glaube an die eigene Handlungsfähigkeit in vielen Unternehmen deutlich begrenzt. Amazon bezeichnet sich vollmundig als Vorreiter beim Klimaschutz und hat tatsächlich auch eine Vielzahl an Maßnahmen geplant oder auf den Weg gebracht. Dennoch glaubt der Handelsriese, erst 2040 ohne Einfluss auf den CO2-Gehalt der Atmosphäre arbeiten zu können. In den verbleibenden 20 Jahren will man zwar sukzessive Emissionen reduzieren, aber da sich die Ziele nur auf die eigene Logistikinfrastruktur beziehen und nicht auf die verkauften Produkte, wird der Konzern immer noch Teil des Klimaproblems sein. Der Chemiekonzern BASF nimmt sich Zeit bis 2050, um klimaneutral zu werden. Doch Zeit ist beim Klimaschutz ein kritischer Erfolgsfaktor. Eine weit in der Zukunft zu erreichende Klimaneutralität wird den Anforderungen der Klimakrise an schnelles und umfassendes Handeln nicht gerecht.
Schwachpunkt 2: Klimaschutz bei steigendem Energieverbrauch
Das Beispiel des klimaneutralen Beratungsunternehmens macht einen weiteren Schwachpunkt des Konzepts der Klimaneutralität deutlich. Treibhausgasemissionen lassen sich auf vielfältige Weise reduzieren; die Maßnahmen lassen sich danach unterscheiden, ob versucht wird, zu optimieren oder zu transformieren. Beim Fokus auf die Optimierung ist Klimaneutralität möglich, ohne grundsätzliche Änderungen an Strukturen oder Produkten vorzunehmen. Also eine umweltschädigende Aktivität durch eine emissionsärmere Variante ersetzen. Derselbe Energieverbrauch, aber mit grünem Strom. Autobasierte Mobilität im gleichen Umfang, aber mit Fahrzeugen mit Elektroantrieb. Das ist sicherlich besser, als nichts zu unternehmen. Aber der bloße Wechsel der Energieträger verwässert den Klimaschutzeffekt stark, denn Wind- und Sonnenenergie sind keineswegs emissionsfrei. Um Strom aus erneuerbaren Energiequellen herzustellen, werden Infrastrukturen benötigt, deren Bau und Unterhaltung selbst CO2-Emissionen erzeugt. Bei der Herstellung eines batteriegetriebenen Fahrzeugs fallen mehr Emissionen an als bei einem herkömmlichen Fahrzeug. Wenn die Nachfrage nach grünem Strom steigt, müssen die Netzkapazitäten erheblich erweitert werden. Die Umstellung auf neue Technologien erzeugt zwangsläufig zusätzliche Treibhausgasemissionen und verbraucht Ressourcen.
Wenn Unternehmen wachsen und deshalb insgesamt mehr Energie verbrauchen, ist das grundsätzlich vereinbar mit dem Ziel der Klimaneutralität, solange der zusätzliche Energiebedarf durch erneuerbare Energiequellen gedeckt wird. Wachstum bedeutet immer mehr Ressourcenverbrauch und ist immer - gegenüber einer Entwicklung ohne Wachstum - mit zusätzlichen Emissionen verbunden.
Durch die Brille der Klimaneutralität betrachtet, macht es keinen Unterschied, ob Unternehmen im Wesentlichen so weitermachen wie bisher oder sich wirklich mit den Ursachen für die Entstehung von Emissionen auseinandersetzen und hier Veränderungen an ihrer Arbeitsweise, ihren Wertschöpfungsketten und der Nutzung ihrer Produkte durch Kunden vornehmen, solange sie ihre CO2-Nettobilanz durch erneuerbare Energiequellen und Kompensationslösungen auf null drücken.
Schwachpunkt 3: Kostengünstiges Klimaschutz-Outsourcing
Klimaneutralität ist für Unternehmen ohne Kompensation praktisch nicht erreichbar. Kompensation bedeutet: Unternehmen können sich von Emissionen freikaufen, die sie nicht verhindern können oder wollen, indem sie in Klimaschutzprojekte irgendwo auf der Welt investieren. Ein grundsätzlich pragmatischer Ansatz, der die Handlungsmöglichkeiten erweitert und für einen Geldstrom in Länder sorgt, in denen zwar erhebliches CO2-Minderungspotenzial besteht, dieses aber aus Mangel an finanziellen Ressourcen nicht ausgeschöpft werden kann. Einerseits. Andererseits haben Kompensationslösungen erhebliche Schattenseiten.
Kompensation erlaubt es Unternehmen, sich mit dem Siegel der Klimaneutralität zu schmücken, auch wenn sie beim Klimaschutz im eigenen Betrieb weitgehend untätig bleiben. Sie bezahlen für Maßnahmen, die andere jenseits der eigenen Unternehmensgrenzen initiieren und durchführen. Kritische Stimmen brandmarken dies als Emissionsablasshandel.
Grundsätzlich gilt für Klimaschutzmaßnahmen entsprechend dem internationalen Standard PAS 2060 jedoch die Reihenfolge: vermeiden, verringern und erst dann kompensieren. Unternehmen sollen also ihren CO2-Fußabdruck verringern. Doch gibt es keine Vorgaben für das Verhältnis zwischen Eigenleistung und zugekaufter Kompensation. Die Folge ist, dass Unternehmen zwingend erforderliche Strategieänderungen gar nicht, nicht im erforderlichen Umfang oder nicht mit der gebotenen zeitlichen Dinglichkeit anpacken müssen. Weil es einfacher ist, Bäume in Indonesien zu pflanzen oder hocheffiziente kleine Öfen in Indien verteilen zu lassen, die beim Kochen 80 Prozent weniger Holz verbrauchen. Es ist ein bequemer Weg für Erhalter des Status quo - und zudem ein kostengünstiger.
Wenig verwunderlich, hat sich um die Klimakompensation bereits eine neue Branche entwickelt: Dienstleister, die Kompensationsprojekte anbieten. Für bereits 22 Euro kann bei Anbietern wie atmosfair oder PRIMAKLIMA eine Tonne CO2 kompensiert werden. Nach einer Studie der Verbraucherorganisation Foodwatch sind die günstigsten privaten Zertifikate bereits für weniger als zehn Euro je Tonne CO2 zu erhalten. Das Umweltbundesamt kalkuliert mit 180 bis 260 Euro pro Tonne Treibhausgase. Der Preis für staatliche Verschmutzungsrechte lag im Dezember 2022 bei rund 80 Euro. Es gibt also unterschiedliche Ansätze zur Monetarisierung der Kosten von CO2-Emissionen und unterschiedliche Preise, je nachdem, wer diese und von wem kauft.
Kompensation schrumpft Klimaschutz zu einem fast schon banalen Problem, das sich mit vergleichsweise geringen Zahlungen lösen ließe. Für viele Unternehmen ist es dadurch ein Leichtes, sich klimaneutral zu kaufen und sich die Mühen und Risiken einer strategischen Transformation zu ersparen. Diese würde erfordern, sich mit dem umweltverträglichen und zukunftsfähigen Umbau von Geschäftsmodellen zu befassen. Und das ist es, was genau besehen ansteht: Erstens Geschäftsmodelle transformieren und zweitens Treibhausgasemissionen signifikant reduzieren statt sie nur - irgendwie und irgendwo - zu kompensieren. Kompensationszertifikate lenken nur von dem eigentlichen Thema ab. Sie lösen das Schreckensszenario auf, das für viele Unternehmen mit dem anspruchsvollen Wechsel von einer naturausbeutenden Wachstumswirtschaft zu einem nachhaltigen Selbsterhaltungsmodus verbunden ist. Und verwandeln die Klimakrise in ein Problem, das sich mit den gewohnten Methoden der Unternehmensführung "adressieren" lässt.
Schwachpunkt 4: Der zweifelhafte Effekt von Kompensationslösungen
Hinzu kommt, dass die tatsächlichen und dauerhaften Effekte von Kompensationslösungen häufig zweifelhaft und schwer zu ermitteln sind. Beispiel Aufforstungsprojekte. Bis ein neu gepflanzter Baum sein Potenzial als CO2-Senke entfalten kann, vergehen Jahrzehnte. Treibhausgase wird ein junger Baum in nennenswertem Umfang erst in einer mittelfristigen Zukunft aufnehmen können - emittiert und kompensiert werden die Schadstoffe aber bereits heute. Zudem kann der Baum in der Zwischenzeit sterben oder abgeholzt werden. Nicht zuletzt hängt es von vielen Faktoren ab, welche Treibhausgasmenge ein Baum aufnehmen kann. In welchem Zeitraum binden Projekte also welche Mengen? Wie wird sichergestellt, dass die Emissionen dauerhaft absorbiert werden? Reichen die neu gepflanzten Bäume für die zu kompensierenden Emissionsmengen? Wie erfolgt der Nachweis über die tatsächlich von einem Projekt gebundene Kohlendioxidmenge? Aber wen interessieren diese Details noch, wenn die Marketingabteilung auf Produktverpackungen in großen Buchstaben "klimaneutral" drucken lässt. Nicht das Unternehmen und wohl auch nicht die meisten Kundinnen und Kunden. Möglich wird diese irreführende Zurschaustellung vermeintlichen unternehmerischen Umweltbewusstseins letztendlich, weil der Staat seiner Aufsichtspflicht nicht wirklich nachkommt, indem er sinnvolle Regeln für Zertifikate festlegt und die systematische Prüfung von Kompensationsprojekten vorschreibt.
Selbst bei grundsätzlich sinnvollen Projekten sind Kompensationslösungen Wetten auf die Zukunft mit sehr unsicherem Ausgang. Greenpeace hat am Beispiel eines von VW genutzten Kompensationsmodells die Fallstricke solcher Lösungen zeigen können. Das Prinzip des Projekts: Wälder werden vor einer klimaschädlichen Nutzung geschützt; dabei wird die Menge an CO2-Emissionen, die ohne das Schutzprojekt entstanden wären - zum Beispiel durch eine potenzielle Nutzung des Waldes für die Holz- oder Palmölproduktion -, als Zertifikate an Unternehmen verkauft. Dadurch finanzieren sich solche Projekte. Greenpeace konnte nicht nur belegen, dass die Berechnung der vermiedenen Emissionen übertrieben war, sondern auch, dass der Wald auch ohne das Projekt vergleichbare Mengen Kohlendioxid gespeichert hätte. Fraglich ist zudem, ob solche Projekte eine intensive Waldnutzung oder Rodungen zwar im Projektgebiet verhindern, der Raubbau sich aber einfach nur in ein wenige Kilometer entferntes Waldgebiet verlagert. Unter dem Strich schrumpft die Waldfläche also weiter, trotz Kompensationsprojekten.
Das Fazit von Greenpeace: "Die vermeintliche CO2-Neutralität ist eine Inszenierung, ein großer Bluff. Das Offsetting trägt zur Illusion einer vermeintlichen Klimaneutralität bei und verzögert so eine schnelle Anpassung der Produktionsprozesse, der Produktpalette und Geschäftsmodelle, die zu einer echten CO2-Einsparung führen könnten." (1)
Zu dem gleichen Ergebnis kommen aktuelle Recherchen der Wochenzeitung Zeit, der britischen Tageszeitung Guardian und des britischen Reporterpools SourceMaterial (2). Sie belegen, wie in den letzten Jahren offenbar Millionen CO2-Zertifikate ohne Kompensationseffekt verkauft wurden. Die Regeln, nach denen diese Projekte zertifiziert werden, erlauben es den Betreibern, die Wirksamkeit ihrer Waldschutzprojekte im eigenen Interesse überzubewerten. Das Prinzip ist einfach: Ein Wald wird als in hohem Maße gefährdet klassifiziert, auch wenn das gar nicht der Fall ist. Doch aufgrund der Behauptung, dass ohne Schutzmaßnahmen in den kommenden Jahren ein Teil des Waldes abgeholzt werden würde, kann die CO2-Aufnahmekapazität dieses Waldanteils in Zertifikate verrechnet und an Unternehmen verkauft werden. Diese Form des Missbrauches ist nicht neu. Bereits im Kyoto-Protokoll von 1997 wurde festgelegt, den Schutz von Wäldern nicht für staatliche Kompensationsprogramme zu nutzen, weil die damit verbundenen Risiken und Unklarheiten zu groß sind.
Es fragt sich also, warum Unternehmen weiterhin Zertifikate aus zweifelhaften Kompensationsprojekten kaufen und sich damit als klimaneutral präsentieren, obwohl die Schwächen im System der Kompensationsindustrie bekannt sind. Offenbar hat sich um die Klimaneutralität eine Art von Schweigekartell gebildet. Inszeniert wird ein Verwirrspiel, das zum Ziel hat, Unternehmen als verantwortlich und engagiert erscheinen zu lassen, während sie tatsächlich Verschleierungspraktiken wie solche Klimakompensationsgeschäfte nutzen, um ihre umweltverzehrenden Geschäftsmodelle weiterbetreiben zu können. Eigentlich ein Skandal, in dem sowohl Unternehmen wie Politik eine aktive Rolle spielen. Eigentlich.
Schwachpunkt 5: Wie viel vom Unternehmen ist eigentlich klimaneutral?
Zu beachten ist weiterhin, worauf sich Klimaneutralität bei einem Unternehmen bezieht. Denn das kann variieren. Die gängigen Normen für Klimaneutralität unterscheiden drei Arten von Emissionen: Als direkte Emissionen werden Treibhausgase bezeichnet, die in der Organisation selbst emittiert werden, meist durch den Einsatz fossiler Brennstoffe in der Produktion, zum Betrieb der Infrastruktur oder für den unternehmenseigenen Fuhrpark. Hinzu kommen indirekte Emissionen, die an anderer Stelle entstehen und über Energien und Betriebsmittel wie Strom, Wärme oder Kühlung importiert werden. Die dritte Kategorie bezeichnet die meist mit Abstand größte Emissionsquelle. Sie umfasst alle Emissionen, die außerhalb der Organisationsgrenzen entstehen, vor allem in vor- und nachgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette, die nicht im Besitz oder unter der direkten Kontrolle des Unternehmens sind. Dazu gehören beispielsweise alle eingekauften Rohstoffe, Leistungen und Produkte externer Hersteller, Transporte und die Nutzung der Produkte sowie Entsorgung und Recycling.
Um als klimaneutral zu gelten, reicht es allerdings schon, die direkten und indirekten Emissionen zu vermeiden oder zu kompensieren, ohne die der dritten Kategorie zu berücksichtigen. Je nachdem, wie ein Unternehmen die Systemgrenzen zieht, kann es einen Großteil der Emissionen aus der Berechnung herausfallen lassen. Zudem kann sich das Prädikat klimaneutral auch auf einzelne Produkte und Dienstleistungen beziehen und muss nicht zwangsläufig das gesamte Unternehmen umfassen. So bewirbt der VW-Konzern das Elektrofahrzeug ID.4 als klimaneutral. Es ist eines aus einer riesigen Produktpalette, darunter eines der wenigen elektrischen, und stellt zudem einen Anteil von weniger als drei Prozent der insgesamt verkauften Fahrzeuge. Hinzu kommt, dass das Auto ein Leergewicht von 2,2 Tonnen besitzt und schon in der Basisversion über einen 170 PS starken Motor verfügt. Ein solches Fahrzeugdesign ist in seinem Ressourcenverbrauch schlicht unzeitgemäß. Eine verrückte Mischung aus neuer und alter Welt, wobei die alten Denkmuster der Autoindustrie sich als nach wie vor dominant erweisen. Besser wäre es, SUVs und ähnlich überdimensionierte Fahrzeuge aus der Produktion zu nehmen und durch wirklich klimaverträgliche Produkte und Dienstleistungen zu ersetzen.
Ein anderes Beispiel ist ABOUT YOU. Der Hamburger Online-Händler für Kleidung behauptet, seit 2020 klimaneutral zu sein - das Unternehmen reduziert Verpackungsmüll, fördert nachhaltig produzierte Mode und bietet Secondhandmode im Onlineshop an. So weit, so gut. Doch durch das schnelle Wachstum des Unternehmens sind dessen Treibhausgasemissionen im kurzen Zeitraum zwischen 2019 und 2022 um 79 Prozent gestiegen. Noch problematischer ist, dass sich die Klimaneutralität nur auf die eigene Infrastruktur, nicht jedoch auf die verkauften Produkte bezieht. Auf deren Herstellung und Transport entfallen aber mehr als 90 Prozent der Treibhausgasemissionen. Interessant ist auch, dass sich das Unternehmen Klimaschutzziele nur in Bezug auf die Eigenmarken setzt, nicht jedoch für Fremdmarkenprodukte, die aber 90 Prozent des Geschäfts ausmachen. Erreicht wird die vorgebliche Klimaneutralität durch die finanzielle Unterstützung von Kompensationsprojekten und den Einkauf von grünem Strom. Das problematische Fast-Fashion-Geschäftsmodell wird nicht angetastet.
Bekenntnisse zum Klimaschutz entfalten so die Wirkung von Nebelkerzen. Sie lenken davon ab, dass das Unternehmen weiter unbeirrt an den tradierten Unternehmenszielen Wachstum und Profitmaximierung festhält.
Schwachpunkt 6: Wir haben nicht nur ein Klimaproblem
Wenn Unternehmen Klimaneutralität ernst nehmen und zu einem integralen Teil ihrer Geschäftsstrategie machen, dann kann das Konzept ein hilfreiches Instrument für die kontinuierliche Reduzierung der von ihnen verursachten negativen Umweltauswirkungen sein. Jede Maßnahme, die den Ressourcen- und Energieverbrauch verringert, ist besser, als nichts zu unternehmen. Aber diese schrittweisen Verbesserungen müssen recht kurzfristig zu einer wirklichen Qualitätsveränderung führen, wenn sie einen Beitrag zur Abwendung der Klimakatastrophe leisten sollen. Das erreichen Unternehmen nicht durch Kompensationsmaßnahmen, nicht durch das Festhalten an veralteten Produktkonzepten, nicht durch die Weiterführung ressourcenintensiver Geschäftsmodelle und auch nicht durch ein Festhalten am überkommenen Wachstumskurs. Wer wächst, verbraucht zwangsläufig mehr Ressourcen und Energie, ungeachtet parallel realisierter Effizienzsteigerungen und einer Substitution fossiler durch nichtfossile Energiequellen. Auf diesem Auge ist das Konzept der Klimaneutralität völlig blind. Ein Umsetzungsplan für Klimaneutralität ist daher nicht mit einer Nachhaltigkeitsstrategie zu verwechseln.
Ein weiteres Beispiel. Der Technologiekonzern Bosch ist nach eigener Aussage bereits klimaneutral, zumindest bezogen auf die an den eigenen Standorten produzierten Emissionen. Zulieferer betrifft dies nicht. Den größten Effekt hatte auch hier die Umstellung auf Strom aus erneuerbaren Energiequellen - das ist immer der erste und einfachste Schritt. Der Fokus liegt zudem klar auf Treibhausgasemissionen. Konkrete Ziele zur Reduzierung von Ressourcenverbrauch, Wasserverbrauch, von Abfallmengen, zur Verlängerung der Produktlebenszeiten finden sich keine. Im Geschäftsbericht findet sich nicht einmal ein Kapitel zur Nachhaltigkeit. Dafür hat das Unternehmen einen speziellen Nachhaltigkeitsreport. Klarer kann man die noch bestehende Trennung zwischen Nachhaltigkeit und klassischen Geschäftsaktivitäten nicht zum Ausdruck bringen.
Klimaneutralität muss eingebettet sein in eine wirkliche Nachhaltigkeitstransformation des gesamten Unternehmens. Das erfordert, von Beginn an mit einer breiteren und grundsätzlicheren Perspektive auf die Verantwortlichkeiten und Herausforderungen des Unternehmens für Klima- und Umweltschutz zu schauen. Besser als der Verkauf von Produkten ist die Bereitstellung entsprechender Dienstleistungen. Besser als an unzeitgemäßen Produktlinien festzuhalten, ist die Entwicklung neuer nachhaltiger und kundenorientierter Produkte. Besser als die Verlagerung der Produktion in weit entfernte Länder mit unzureichenden Umweltauflagen ist der Aufbau lokaler Lieferketten. Besser als eine vermeintliche Optimierung ist die Einstellung nicht nachhaltig zu produzierender Produkte. Kurzum: Das Design vieler Geschäftsmodelle und Produkte und das Dogma permanenten Wachstums sind das Grundproblem, das Unternehmen angehen müssen, wenn sie dem Anspruch der Nachhaltigkeit näher kommen wollen. Wer sich wirklich mit Klimaneutralität in Unternehmen beschäftigt, wird schnell auf diese fundamentalen Themen stoßen. Und wird dann hoffentlich beginnen, radikal umzudenken, statt über das Marketing lautstark die zweifelhafte Errungenschaft der Klimaneutralität in den Markt zu schreien.
Mythos Klimaneutralität
Klimaneutralität klingt gut, aber ist in vielen Unternehmen ein Ablenkungsmanöver. Klimaneutralität suggeriert großes Engagement und weitreichende Maßnahmen. Was in Unternehmen aber tatsächlich passiert, bleibt weit dahinter zurück. Lange Zielhorizonte, die Nichtberücksichtigung großer Teile der mit einem Geschäftsmodell verbundenen Emissionen, wirkungslose Kompensationsmaßnahmen, unzuverlässige CO2-Berechnungsweisen und die Ausblendung anderer Umweltschutzanforderungen entwerten das Siegel der Klimaneutralität. Es empfiehlt sich daher, doppelt kritisch hinzuschauen, wenn von Klimaneutralität die Rede ist. Der Verdacht liegt nahe, dass damit das Ziel der Manipulation und Irreführung öffentlicher Wahrnehmung verfolgt wird.
Was bei der inflationären Nutzung des Begriffs auch nicht beachtet wird: Unternehmen können ihre CO2-Emissionen verringern, aber sie werden nie klimaneutral sein. Weil sie gar nicht anders können, als mit ihren Aktivitäten Emissionen zu verursachen. Klimaneutralität ist eine Vision, aus naturwissenschaftlicher Sicht aber nur eine Fiktion, die auf einer Berechnungsformel basiert, in die sehr viel Wunschdenken, falsche Annahmen und unzuverlässige Zahlen einfließen. Hinter dem Begriff stehen verschiedene Bedeutungen, die willkürlich genutzt werden, und Versprechen, die fast immer nicht eingehalten werden.
Das ernüchternde Fazit daraus: Es gab noch nie so viel Klimaneutralität wie im Augenblick - gleichzeitig aber verschärft sich das Klimaproblem weitgehend ungebremst weiter. Statt sich vorschnell mit dem Label der Klimaneutralität zu schmücken und dieses Thema für die öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung zu nutzen, sollten Unternehmen im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit und des Klimaschutzes nicht nur mehr Aufwand in Schaffung von Transparenz bei ihren Umweltauswirkungen und bei ihren Umweltschutzbemühungen investieren, um zu zeigen, wo sie tatsächlich stehen, welche Herausforderungen anstehen und wie diese bewältigt werden sollen. Gefragt sind konsequente und tiefgreifende Maßnahmen, um die Umweltauswirkungen eines Unternehmens schnell und drastisch zu reduzieren, positiv auf das Konsum- und Nutzungsverhalten von Kunden Einfluss zu nehmen und eine aktive Vorreiterrolle im Klimaschutz zu übernehmen.
Viele Unternehmen beschäftigen sich auch über das gesetzlich erforderliche Maß hinaus mit Klima-und Umweltschutz, aber nur wenige verfügen über und verfolgen konsequent eine wirklich problemadäquate Nachhaltigkeitsstrategie. In der Regel bewegt sich Umweltschutz immer noch in einer strategischen Parallelwelt: als Nebenschauplatz abseits der eigentlichen Unternehmensstrategie, als Marketingthema mit nur wenigen Berührungspunkten zum Kerngeschäftsmodell und einer Unterordnung unter die wirklich entscheidungsrelevanten Finanz- und Wachstumsziele. Umweltschutz ist ein Thema, zu dem Unternehmen gegenüber Politik und Öffentlichkeit Stellung beziehen müssen, wirkt aber nur selten als strategischer Treiber für grundlegende Transformationsprozesse. Genau dies lässt sich am Umgang vieler Unternehmen mit der Idee der Klimaneutralität sehr anschaulich beobachten.
(1) Greenpeace, 2020: "VWs Bluff mit der Klimaneutralität. Wie Volkswagen sich mit einem wirkungslosen Kompensationsprojekt vor möglichen CO2-Einsparungen drückt", zum Download auf: https://www.greenpeace.de/publikationen/vws-bluff-klimaneutralitaet
(2) Tin Fischer, Hannah Knuth, 2023: "Grün getarnt", in: Zeit 4/2023, S. 19-21: https://www.zeit.de/2023/04/co2-zertifikate-betrug-emissionshandel-klimaschutz
Zitate
"Eine weit in der Zukunft zu erreichende Klimaneutralität wird den Anforderungen der Klimakrise an schnelles und umfassendes Handeln nicht gerecht." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Klimaneutralität ist für Unternehmen ohne Kompensation praktisch nicht erreichbar." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Kompensation erlaubt es Unternehmen, sich mit dem Siegel der Klimaneutralität zu schmücken, auch wenn sie beim Klimaschutz im eigenen Betrieb weitgehend untätig bleiben." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Bis ein neu gepflanzter Baum sein Potenzial als CO2-Senke entfalten kann, vergehen Jahrzehnte. Treibhausgase wird ein junger Baum in nennenswertem Umfang erst in einer mittelfristigen Zukunft aufnehmen können - emittiert und kompensiert werden die Schadstoffe aber bereits heute." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Selbst bei grundsätzlich sinnvollen Projekten sind Kompensationslösungen Wetten auf die Zukunft mit sehr unsicherem Ausgang." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Wenn Unternehmen Klimaneutralität ernst nehmen und zu einem integralen Teil ihrer Geschäftsstrategie machen, dann kann das Konzept ein hilfreiches Instrument für die kontinuierliche Reduzierung der von ihnen verursachten negativen Umweltauswirkungen sein." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Klimaneutralität muss eingebettet sein in eine wirkliche Nachhaltigkeitstransformation des gesamten Unternehmens. Das erfordert, von Beginn an mit einer breiteren und grundsätzlicheren Perspektive auf die Verantwortlichkeiten und Herausforderungen des Unternehmens für Klima- und Umweltschutz zu schauen." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Das Design vieler Geschäftsmodelle und Produkte und das Dogma permanenten Wachstums sind das Grundproblem, das Unternehmen angehen müssen, wenn sie dem Anspruch der Nachhaltigkeit näher kommen wollen." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Es gab noch nie so viel Klimaneutralität wie im Augenblick - gleichzeitig aber verschärft sich das Klimaproblem weitgehend ungebremst weiter." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
"Klimaneutralität muss eingebettet sein in eine wirkliche Nachhaltigkeitstransformation des gesamten Unternehmens." Udo Kords: Irgendwo, irgendwie, irgendwann
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(1) Greenpeace, 2020: "VWs Bluff mit der Klimaneutralität. Wie Volkswagen sich mit einem wirkungslosen Kompensationsprojekt vor möglichen CO2-Einsparungen drückt"zum Download auf www.greenpeace.de
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(2) Tin Fischer, Hannah Knuth, 2023: "Grün getarnt", in: Zeit 4/2023, S. 19-21www.zeit.de
Autor
Udo KordsDr. Udo Kords ist Dozent für Vertriebsmanagement an der FOM - Hochschule für Oekonomie & Management in Hamburg. Er hat Erfahrung im Vertriebsmanagement, als Unternehmensberater und durch leitende Funktionen in verschiedenen Unternehmen. Er hat Politikwissenschaften studiert und über die Klimaschutzpolitik in Deutschland promoviert. © Foto: privat