Alles zählt

Worauf es in der Klimakrise ankommt - ein Interview mit Claudia Kemfert
Interview: Winfried Kretschmer

Fridays for Future ist aus dem Schatten der Pandemie getreten. Die Klimafrage drängt wieder auf die Agenda, dringlicher denn je. Klimaökonomin Claudia Kemfert liefert mit ihrem aktuellen Buch eine Kurzeinführung in die Klimathematik - so etwas wie Frequently Asked Questions zum Klimawandel. Im Interview spricht sie über einige Impulse daraus.

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"Alles zählt, jeder Beitrag ist wichtig", sagt Claudia Kemfert. Und beschreibt so, worauf es in der Klimakrise ankommt. 

Claudia Kemfert ist Expertin für Energie- und Klimaökonomie. Sie leitet die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit.
 

Frau Kemfert, vor einem Jahr noch war Klima das Megathema, doch dann hat die Coronapandemie den Klimawandel aus der öffentlichen Wahrnehmung gekickt. Schlecht für das Klima? 

Schlecht für das Klima wird es nur dann, wenn wir alte Fehler wiederholen und Geld für eine klimaschädliche Wirtschaft ausgeben. Wenn wir nach der Coronakrise so tun, als wäre nichts gewesen, bezahlen wir die Rettung aus der einen Krise blind mit den Kosten der nächsten Krise.
 

Was können wir aus der Coronakrise für den Klimaschutz lernen? 

Vor allem lernen wir, wie sehr es in einer starken Demokratie auf uns alle ankommt. Nichts ist so wichtig wie verantwortungsbewusste und verbindliche Solidarität.
 

Seit vierzig Jahren liegen die Erkenntnisse über den Klimawandel auf dem Tisch. Beim Klimaschutz ging es dennoch nur in kleinen Schritten voran. Kriegen wir das Klimaproblem überhaupt noch in den Griff? Oder müssen wir uns Jonathan Franzen anschließen, der sagt, das Klimaspiel ist aus? 

Nein, absolut nicht, das Klimaspiel ist im vollen Gange! Wir können den Klimawandel eindämmen, wenn wir beherzt umsteuern. Wir sind nicht einem Schicksal hilflos ausgeliefert, sondern haben es selbst in der Hand, die schlimmsten Wirkungen zu vermeiden. Jedes Grad weniger an Erderwärmung ist enorm wertvoll, schnelles Handeln gefordert. Die Kosten durch Klimaschäden sind ungleich höher als die Kosten des Klimaschutzes.
 

Dennoch, schnelles Handeln sieht anders aus. Sind unsere Gesellschaften handlungsunfähig? 

Wir sind nicht handlungsunfähig, sondern gefangen in einem auf fossile Energien basierenden Wirtschaftssystem. Es ist verknüpft mit langen ökonomischen und technologischen Pfadabhängigkeiten und verursacht enorme Schäden an Natur und Klima. Das zu überwinden ist enorm kompliziert und langwierig. Wir brauchen dafür einen langen Atem und ein effektives Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Szenarien und Handlungsoptionen hat die Wissenschaft aufgezeigt, die Gesellschaft will den Umstieg. Nun ist es an der Politik, das effektiv umzusetzen.
 

Lassen Sie uns ein paar Impulse aus Ihrem Buch aufgreifen. Erstens Innovation. Sie plädieren dafür, Klimaschutz als Innovationsstrategie zu begreifen, nicht als bloße Vermeidungsstrategie mit dem Ziel, die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Welche Rolle spielt Innovation beim Klimaschutz? 

Klimaschutz ist DAS Mittel für den nachhaltigen Umbau des Wirtschaftssystems. Wir benötigen eine auf erneuerbaren Energien basierende Wirtschaft, die auf Recycling und Kreislaufwirtschaft setzt. Eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien in allen Bereichen ist dringend erforderlich. Investitionen in Zukunftstechnologien schaffen Wertschöpfung und Arbeitsplätze. Es entstehen nachhaltige Innovationen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft dauerhaft stärken. Klimaschäden werden vermieden. Eine ökonomische Win-win-Situation.
 

An welche Innovationen denken Sie? 

Kreativen Lösungen sind keine Grenzen gesetzt! Nicht nur bei Konsumgütern gibt es jede Menge Innovationen, sondern auch und gerade im Bereich der Digitalisierung für Energie- und Verkehrswende: Wir benötigen flächendeckend sogenannte Smart Grids und virtuelle Kraftwerke, um die mit einem auf erneuerbaren Energien basierenden Energiesystem einhergehende Flexibilisierung samt optimaler Steuerung von Angebot und Nachfrage zu ermöglichen. Auch Batterien von E-Fahrzeugen können als dynamische Speicher zur Netzentlastung dienen. Und: KI wird autonomes Fahren immer mehr ermöglichen und damit Mobilität für alle. All dies sind wichtige Innovationen für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit.
 

Zweitens: "Denk radikal" - wie können radikale Lösungen für den Klimawandel aussehen? 

Unter radikal werden bei Klimawissenschaftlern häufig Techniken wie Geoengineering verstanden, die darauf abzielen, das globale Klima zu beeinflussen, indem entweder riesige Spiegel im All aufhängt werden oder indem alles fressende Algen uns schwuppdiwupp von Klimawandelfolgen befreien … - ich bin da sehr skeptisch und glaube nicht an die Eierlegende-Wollmilchsau-Allheiltechnik, die uns vom Klimawandel erlöst. 

Sinnvoll radikal wäre für mich eher, wenn sich jeder und jede, egal wo, für Generationenverträge einsetzen würde: im Unternehmen, im Verein oder in der Schule. Radikal war, dass uns in der Coronakrise nicht eine Polizei-kontrollierte Ausgangssperre von der Straße geholt hat, sondern dass die große Mehrheit der Deutschen freiwillig und aus innerem Antrieb zu Hause geblieben ist. Genauso geht auch "radikaler" Klimaschutz: Jede kleine Handlung zählt! Wenn wir alle Klimaschutz bewusst und aktiv vorantreiben, schaffen wir tatsächlich eine rettende und umfassende Lösung - binnen Kurzem!
 

"Drittens: Denk dreidimensional" - was heißt dreidimensional? 

Erstens zeitlich: Jegliches Handeln hat Auswirkungen für viele Jahrzehnte. Zweitens räumlich: Jegliches Handeln hat aufgrund der globalisierten Welt Auswirkungen auf unterschiedliche Weltregionen. Und drittens intergenerational: Es sind die zukünftigen Generationen, die die Suppe unseres heutigen Handelns auslöffeln müssen.
 

"Probiere neue Methoden aus", schreiben Sie. Es braucht neue Methoden und Vorgehensweisen? Und wo sehen Sie Bedarf dafür? 

Überall! Indem jede und jeder konkret handelt - und damit meine ich nicht bloß Konsum, sondern vor allem Maßnahmen zur Stärkung unserer Demokratie und Gesellschaft -, können wir völlig neue Vorgehensweisen entwickeln. Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst - das bekommt hier eine völlig neue Bedeutung. Wir lernen ja gerade in der aktuellen Krise, wie sehr es auf uns alle ankommt.
 

Daran schließt sich eine weitere Frage aus dem Buch an: die nach agilem Management. Was bringt ein agiles Vorgehen für die Lösung des Klimaproblems? 

Beim Klimaschutz stehen wir vor einer ungeheuer komplexen Aufgabe, wie wir sie in der Geschichte der Menschheit noch nie zu bewältigen hatten. Dafür brauchen wir tragfähige und trotzdem schnelle Entscheidungen. Komplexe Aufgaben lassen sich am besten mit iterativen Verfahren lösen, also mit einer schrittweisen Annäherung an die große Lösung. Auf dieser Kernidee basiert agiles Management. Dieses "Fahren auf Sicht" ließe sich auch beim Klimaschutz zum Einsatz bringen.
 

In der Coronakrise zeigt sich, wie leicht Menschen auf Fake News hereinfallen und sie weiterverbreiten. Das ist beim Klima nicht anders. Was raten Sie: Wie erkennt man Klimaleugnung? 

Das ist nicht immer ganz leicht. Professionell gesteuerte Klimaleugner tarnen sich als vermeintlich spontane Bürgerinitiativen; am meisten scheuen sie Transparenz; sie vermischen Informationen, verstecken sich hinter Fremdworten und Pseudo-Fachsprache. Deswegen muss man immer wieder fragen: Woher stammt die Information? Ist die Quelle seriös? 

In der aktuellen Coronakrise werden glücklicherweise Falschbehauptungen schnell und systematisch aufgedeckt. Es gibt außerdem Wissenschaftseinrichtungen und Medien, die transparent, verständlich und seriös berichten. Deswegen haben es Populisten und interessengeleitete Fake-News-Verbreiter derzeit schwer. Dasselbe wünsche ich mir für Klimaschutz-Themen. Dankenswerterweise hinterfragen Medien pseudowissenschaftliche Behauptungen zunehmend kritisch und widerlegen sie.
 

Sie stellen das Engagement für das Klima in den Kontext von Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten. Ist heute alle Politik Klimapolitik? 

So ist es. Jegliches Handeln ist auch Klimapolitik, im besten wie im schlechtesten Sinne. Alles zählt. Jeder Beitrag ist wichtig. Das Momentum für den Wandel ist da. Mondays for Future. Genau jetzt.
 

Das Interview ist die Kurzfassung eines längeren Gesprächs, das im Magazin erschienen ist. Es wurde schriftlich geführt.
 


Zitate


"Wir können den Klimawandel eindämmen, wenn wir beherzt umsteuern." Interview Claudia Kemfert: Alles zählt

"So geht ‚radikaler‘ Klimaschutz: Jede kleine Handlung zählt! Wenn wir alle Klimaschutz bewusst und aktiv vorantreiben, schaffen wir tatsächlich eine rettende und umfassende Lösung - binnen Kurzem." Interview Claudia Kemfert: Alles zählt

"Das Momentum für den Wandel ist da." Interview Claudia Kemfert: Alles zählt

 

changeX 15.10.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Mondays for Future. Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen. Murmann Publishers, Hamburg 2020, 200 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-86774-644-1

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