Gegensätze mischen sich auf
Wie Trends entstehen und warum sie Gegentrends hervorrufen. Und wie in den Konfliktzonen zwischen Schwarz und Weiß die grauen Hybride entstehen, die Gegensätze miteinander vereinen wollen, ohne sie deshalb aufzulösen.
Ohne Gegensätze kann man nicht denken. Es sind die großen Gegenüberstellungen, die unseren Geist ordnen und ihm das Denken ermöglichen: Endlichkeit und Unendlichkeit, Sein und Schein, Freiheit und Notwendigkeit, Natur und Kultur, Körper und Geist.
Jeder, der etwas bestimmen will, muss zuerst eine Unterscheidung vornehmen. Das logische Denken, an das wir im Westen gewöhnt sind, arbeitet immer mit zweiwertigen Kategorisierungen. Einen dritten Wert gibt es nicht - tertium non datur. Diese Logik hat man mittlerweile maschinisiert. Computer bestehen aus Ein-Aus-Schaltern, Flipflops, Relais, also Implementierungen der Zustände null und eins.
Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die Welt in Oppositionen ordnen und denken, spiegelt sich in den dichotomischen, zweiwertigen Tafeln, mit denen die Pädagogen seit Petrus Ramus das Wissen ordnen: Diagramme mit immer weiter sich verzweigenden Zweiteilungen. Das war die erste Universalmethode zur Ordnung der Diskurse; beerbt wird sie heute durch PowerPoint. Zur Universalmethode gehört heute die Universalmaschine, der Computer. Für alles Wissen gibt es nun ein identisches Format, nämlich "bits" (binary digits) der Information.
Muss das Denken bei den Unterschieden stehen bleiben? Vor 200 Jahren gab es Ansätze dazu, die Unterschiede zu Gegensätzen und die Gegensätze zu Widersprüchen zuzuspitzen. Dies ist als hegelsche Dialektik bekannt geworden und hat im 19. Jahrhundert vor allem gesellschaftskritische Theorien inspiriert. Ein zum Widerspruch zugespitzter Unterschied stellt nämlich die Frage nach der Einheit der Gegensätze, nach Synthese oder Versöhnung - oder er schürt die Erwartung von Kampf und Entscheidungsschlacht. Dieses Denken hat in den letzten Jahrzehnten sehr stark an Attraktivität eingebüßt. Wo die Dialektik noch Widersprüche gesehen hat, spricht man heute von Paradoxien, positivem Feedback und "seltsamen Schleifen" (strange loops). Dies sind die zentralen Schlagworte der Postmoderne.
Freiheit durch Entzweiung
Nicht Hegels Dialektik hat überlebt, sondern seine Theorie der modernen Gesellschaft, die auf dem Begriff der "Entzweiung" aufgebaut ist. Mit diesem Begriff bezeichnet er den spezifisch modernen Sachverhalt, dass unsere Herkunft nichts mehr mit unserer Zukunft zu tun hat; dass wir nichts mehr von der Tradition unserer Väter lernen können und dass unsere Erwartungen sich nicht mehr von unseren Erfahrungen leiten lassen.
Die Theorie der modernen Gesellschaft verdankt Hegel die tiefe Einsicht, dass es Freiheit nur in dieser Entzweiung geben kann. Wir müssen deshalb von den alten Idealen der Perfektion und Optimierung Abschied nehmen, also vom richtigen Leben, der gerechten Gesellschaft und dem ewigen Frieden. Es gibt Widersprüche, die man nicht aufheben kann und deshalb ertragen muss. Dies mit Anstand zu tun, ist ein wesentliches Element bürgerlicher Lebensführung. Es geht nicht darum, Widersprüche aufzuheben, sondern sie zu stabilisieren. Denn die Selbstwidersprüche der modernen Gesellschaft helfen ihr bei der Anpassung an das Unvorhersehbare - Stabilität durch Widerspruch.
Challenge und Response
Wir leben mit dem Blick auf die Zukunft gerichtet - deshalb interessieren wir uns für Trends. Wir leben aber auch aus der Geschichte, unsere Herkunft steckt uns in den Knochen - deshalb interessieren wir uns für Gegentrends. Wenn aus dem einen Interesse Realität wird, wenn ein Trend sich in der Gesellschaft Bahn bricht, meldet sich auch das andere Interesse zurück. In Anlehnung an Hölderlin können wir also sagen: Wo aber Trend ist, wächst der Gegentrend auch.
So kann man den Begriff der Entzweiung in ein Schema von Challenge und Response übertragen:
> Gerade weil die Aufklärung so erfolgreich war, erleben wir heute eine Wiederkehr der Religion.
> Gerade weil die Rationalisierung aller Lebensbereiche unaufhaltsam fortschreitet, suchen die Menschen Sinn in Erzählungen.
> Ästhetische Faszination kompensiert die Entzauberung der Welt.
> Je mehr sich die Welt globalisiert, desto wichtiger werden regionale Eigenwerte.
> Gerade die Universalisierung zur "one world" provoziert den Pluralismus der "diversity".
> Dem Challenge einer fortschreitenden Technisierung der Welt antwortet der Kult der Mutter Natur: Gaia.
Das Potenzial der Hybride
Wenn man in Oppositionen denkt, erhält die Welt ein scharf geschnittenes Profil. Und gerade auch die Antithese von Trend und Gegentrend liefert ein Polaritätsprofil, das die Orientierung erleichtert. Das Problem ist nur, dass wir es in der globalisierten Welt immer häufiger mit Phänomenen zu tun haben, die keine klar gezogenen Grenzen haben. Dadurch entsteht Raum für Hybride: Kreuzungen, Gemische. Bei Arnold Gehlen findet sich der gute Ausdruck "objektiv Verwischtes".
In der Biologie bezeichnet der Begriff Kreuzungen verschiedener Arten - Tiere wie das Maultier, Pflanzen wie fast alle Produkte der modernen industriellen Landwirtschaft. Hocheffizient vereinen sie die positiven Eigenschaften von Vater- und Mutterpflanze (die Kombinationen der negativen Eigenschaften verlassen nie das Zuchtlabor), sind aber fast immer unfruchtbar. Die Gegensätze, denen sie entstammen, mischen sich auf - und erzeugen Zwischenlösungen, je nach Bedarf neu konfigurierbar.
Ob es sich nun um Organisationen oder Familien, um Unternehmen oder Identitäten, um Hardware oder Software handelt, überall wird neu gemischt. Alles Hybride ist artifiziell, es entsteht gewissermaßen unter Laboratoriumsbedingungen, also durch Auflösung und Rekombination; das heißt, es gibt keine natürlichen Grenzen mehr: "blurring the boundaries".
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bieten hybride Organisationen. Unternehmen stehen heute keineswegs nur in Konkurrenzverhältnissen, sondern sie ergänzen sich auch und bilden Netzwerke. Solche "interorganizational networks" unterlaufen die Unterscheidung von Unternehmen und Markt. Immer häufiger kommt es in der vernetzten Welt zu Hybridbildungen und wechselseitigen Durchdringungen von Markt und Organisation - zu "symbiotischen Kontrakten", wie Erich Schanze sagt. Zu ihnen gehört das Joint Venture, wo Konkurrenten miteinander kooperieren, oder das Franchising, der ökonomische Ort für unselbständige Selbständige. Jeder Knoten im Netz arbeitet gleichzeitig autonom für sich und für das Netz.
Hier handelt es sich nicht mehr um reine Organisationsstrukturen, aber auch nicht um bloße Marktkontrakte, sondern um eigentümliche Mischgebilde, die für das Business der Zukunft charakteristisch sind. Sie sind verlässlicher als der Markt, aber flexibler als die Organisation. Digital vernetzte Organisationen lassen sich nicht mehr sinnvoll in einer Befehlshierarchie darstellen oder als klar abgegrenzte "Körperschaft" identifizieren. Ein Unternehmen ist heute nichts anderes als der Inbegriff seiner internen und äußeren Beziehungen, die im Wesentlichen als Informationsprozesse gestaltet sind. Elektronische Verknüpfungen verwischen die Grenzen, Kampf- und Konkurrenzlinien in und zwischen den Organisationen.
Hybride Identitäten
Selbst die große Politik lässt sich heute mit dem Begriff der Hybridisierung oft besser beschreiben als mit den alten Freund-Feind-Oppositionen. Wo Samuel Huntington einen "Kampf der Kulturen" ("clash of civilizations") drohen sah, kann man auch eine ganz andere Zukunftsperspektive haben, nämlich die der Hybridisierung der Kulturen. Die Integrationsdebatte, die noch weitgehend von Ausländerfeindlichkeit einerseits und dem Kult des "Multikulti" andererseits geprägt ist, hat ein ganz neues Phänomen verdeckt: die hybride Identität. Das gilt nicht nur - ganz unten - für die Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch - ganz oben - für Manager, denen das Sprachgemisch Denglisch Alltagssprache ist.
Die Welt der Medien wird heute schon von hybriden Genres dominiert, man denke nur an teilanimierte Filme, Fernsehformate wie die Dokusoap und charakteristische Mischformen von Politik, Bildung und Unterhaltung (Politainment, Edutainment). Auch die Grenzen zwischen Produzent und Konsument werden zunehmend verwischt: Der Leser wird Autor (etwa eines Blogs), der Bürger wird Journalist. Schon vor Jahrzehnten konnte Alvin Toffler den "Prosumer" beschreiben.
Soziale Marktwirtschaft - die letzte gute deutsche Idee - ist ein Hybrid von Kapitalismus und Sozialismus. Es geht hier um das Ende des eindimensionalen Kapitalismus, der jedes Geschäft mit der Frage nach der Organisation und dem Profit begonnen hat. Der gebende, der sorgende Kapitalismus hat von den Nonprofit und Non-Governmental Organizations gelernt, dass man mit einer Mission, einer Vision der Umwelt, der Gemeinschaft und der Kunden beginnen muss. Die entscheidende Pointe des Caring Capitalism besteht darin, dass Profit und Non-Profit keinen Gegensatz mehr darstellen, sondern dass Non-Profit als Portal zum neuen Profit verstanden wird. Längst ist der Non-Profit-Sektor der größte amerikanische Arbeitgeber.
Das Beste beider Welten
Trend heißt Zukunft. Gegentrend heißt Vergangenheit. Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt die Gegenwart - und zwischen Trend und Gegentrend der Hybrid. Denn dort, wo die Gegensätze aufeinanderprallen, bieten sich die besten Chancen für neue Produkte und Geschäfte. Gegen einen Discounter wie Aldi ist schwer anzukämpfen, genau wie gegen einen Premium-Anbieter wie Armani. Aber hybriden Konsumenten, die da wie dort zu Hause sind, kann man jederzeit "Armaldi"-Produkte anbieten, die das Beste beider Welten zu vereinen suchen. Wenn Trend und Gegentrend wie Leitplanken die Richtung bestimmen - dann sind Hybride wie die Fahrzeuge, die auf der dadurch vorgegebenen Straße unterwegs sind.
Kasten
TRENDS UND GEGENTRENDS
Trend: Freiheit
Gegentrend: Sicherheit
Historisch lässt sich sagen: Freiheit ist der Urtrend Europas. Und politisch lässt sich sagen: Freiheit ist der Virus des Westens.
Die unverwechselbare Eigenart der Freiheit des Westens hat sich in der einmaligen Konstellation von wissenschaftlich-technischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum, freiem Markt, Privateigentum, Individualismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit herausgebildet.
Man kann Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist; aber die Bemühungen um Sicherheit gefährden die Freiheit. Die berechtigte Sorge um die Bedingungen für mögliche Freiheit lässt uns die Freiheit selbst vergessen und errichtet das soziale Gefängnis, das heute vorsorgender Sozialstaat heißt. Vor allem den Deutschen erscheint Freiheit oft nur als eine Gefährdung ihrer Sicherheit. Wie Neurotiker klammern sie sich an ihre Angst vor der Freiheit, die sehr leicht in einen Kampf gegen die Freiheit umschlagen kann. Freiheit ist der höchste Wert und Sicherheit das tiefste Bedürfnis. Hier gibt es keine höhere Einheit, sondern nur einen Kuhhandel (Trade-off).
Beispiele für Hybride: Credit Default Swaps (CDS) erlauben praktisch jede Kreditvergabe praktisch ohne Ausfallrisiko - weil das der CDS-Verkäufer übernimmt. Es sei denn, er selbst wird zahlungsunfähig. Airbags sieht man nicht und spürt man nicht. Sie schränken nicht ein und fallen nicht auf - außer in dem Moment, in dem man sie braucht.
Trend: Anarchie
Gegentrend: Autorität
"Anything goes" (Paul Feyerabend) betrachtet alles im Hinblick auf seine Ersetzbarkeit. Doch wenn alles geht, was geht, fragt man sich, was wirklich wichtig ist.
Wir nehmen Abschied vom Prinzipiellen, die Funktion ist wichtiger als die Substanz: Dieser Funktionalismus ist die Lebensphilosophie der Netzwerkgesellschaft.
Abschied vom Prinzipiellen heißt vor allem: Abschied von den starken Bindungen. Schwache Bindungen eröffnen die Freiheit großer Netzwerke, die aus entflochtenen Kontakten bestehen. Das Fazit für die Globalisierungsgewinner lautet: Bekannte sind wichtiger als Verwandte, "Links" sind wichtiger als Dinge.
Dieser funktionalistische Lebensstil ist für die meisten aber eine Überforderung. Sie brauchen eine Kompensation für den Verlust der Substanz, einen Trost für den erzwungenen Abschied vom Prinzipiellen. Sie sehnen sich nach dem Steuerkommando von außen. Die Dualität von abnehmender Verbindlichkeit und gesteigerter Sehnsucht nach Autorität findet sich in allen Zonen des gesellschaftlichen Lebens.
Beispiele für Hybride: Google+ erlaubt dem Nutzer mehr als andere soziale Netzwerke, sich selbst zu sortieren - eigene Ordnung im Chaos des Netzes. Die Piratenpartei verkörpert den anarchistischen Freiheitsbegriff der Netzwerkgesellschaft - im Gewand einer traditionellen Partei.
Trend: Science
Gegentrend: Romance
"Science" heißt Entzauberung der Welt durch Wissenschaft, "Romance" heißt Wiederverzauberung der Welt durch Gefühlsdesign (Emotional Design).
Die Wissenschaften haben die Grundbausteine unserer Welt entdeckt, nämlich Atome in der physikalischen Welt, Bits in der Welt der Information und Gene in der Welt des Lebendigen. Heute schaffen wir auf allen drei Ebenen den Schritt von der wissenschaftlichen Analyse zur technischen Synthese. Der Forscher wird zum Schöpfer und Unternehmer. Wissen ersetzt Ressourcen, die technische Welt wird von mysteriösen Maschinen dominiert, hochkomplexen Blackboxes, von denen nur noch Spezialisten sagen können, wie sie im Innersten funktionieren.
Je komplexer unsere Welt wird, desto dringlicher wird die Gestaltung der Schnittstelle von Menschen und Systemen (Interaction Design). Die Form folgt dem Gefühl des Konsumenten, nicht der Funktion der Sache. "Romance" ist also nicht die Kritik der "Science", sondern die Kompensation ihrer Kälte und Komplexität.
Beispiele für Hybride: Tesla ist als Elektroauto Inbegriff von Fortschritt und Vernunft - mit einem Design, das jegliche Vernunft negiert und pure Emotion verkörpert. "Dr. House" ist so faktentreu, dass die Serie auch in der medizinischen Ausbildung eingesetzt wird - mit einem misanthropischen Helden, den doch immer wieder die Menschlichkeit übermannt.
Trend: Community
Gegentrend: Identity
Wir stehen vor einer neuen Gemeinschaftsform: der von elektronischen Netzwerken getragenen Nachbarschaft. Wer seine Identität nicht ans Netz verlieren will, muss und kann sie sich selbst erschaffen.
Die virtuellen Gemeinschaften und sozialen Netzwerke verbinden die Vorteile von Gemeinschaft und Gesellschaft. Man ist in sie ja nicht hineingeboren, sondern kann sie frei wählen und beliebig aktivieren. Während in Dorfgemeinschaften jeder jeden kennt, kann man in sozialen Netzwerken anonym bleiben. Und man ist nicht lokal beschränkt, sondern organisiert sich weltweit nach Interessen, Kompetenzen und Vorlieben. Was zählt, ist Gleichgesinntheit.
Doch niemand will einfach nur eine Datenspur im Netz sein. Jeder Einzelne muss sich eine Lebensrolle definieren: Statt das "wahre" Selbst zu entdecken, geht es darum, ein interessantes Selbst zu erschaffen. Der Arbeitsmarkt wird zum Persönlichkeitsmarkt, Selbstmarketing ist die Bedingung für geschäftlichen Erfolg.
Beispiele für Hybride: LinkedIn oder Xing tarnen sich als soziale Netzwerke - sind aber eher Selbstmarketing-Plattformen für die persönliche Karriere, die Kommunikation versprechen und Transaktion erhoffen. Twitter mausert sich vom Eitelkeiten-Jahrmarkt für Kurzgeplapper zum Individualmedium - jeder zieht aus dem Content-Strom heraus, was er braucht, und speist sich selbst nach Belieben ein.
Trend: Vernetzung
Gegentrend: Leadership
Ein neues Mittelalter der Netzwerke gewinnt im gleichen Maß an Einfluss, wie die Nationalstaaten in der Weltgesellschaft geschwächt werden. Doch dafür brauchen sie Leader, die den neuen Geist verkörpern.
Die vertrauten Formen sozialer Hierarchie werden heute immer entschiedener durch eine heterarchische Netzwerkkultur verabschiedet. Das Internet ist heute die Schlüsselmetapher für spontane soziale Ordnung und Projektionsfläche von Aufklärungsutopien; man spricht von elektronischen Rathäusern und virtuellen Parlamenten und macht die Kraft der Netze für den Arabischen Frühling zumindest mitverantwortlich.
Doch nicht die Massen beherrschen das Internet, sondern die Aktivisten. Es war ein "anarchistisches" Missverständnis, die neue Welt der Netzwerke und Heterarchien als führerlos zu verstehen. Im Gegenteil: Nichts ist heute dringlicher als eine Führungsidee - und ein Leader, der sie leidenschaftlich verkörpert. Gerade in den Netzwerken bildet sich eine Ökonomie der Stars heraus. Nicht die beste Idee gewinnt, sondern die am besten geführte Idee.
Beispiele für Hybride: Barack Obama animierte im Wahlkampf 2008 die US-Bürger, sich selbst als Motoren des Wandels zu sehen - und ihn selbst als ihren Leader. The Huffington Post ist der bislang gelungenste Versuch, die Vielfalt eines Online-Mediums mit dem Einfluss eines Leitmediums zu kombinieren.
Trend: Complexity
Gegentrend: Meaningful Simplicity
Die Komplexität von großen Systemen in Wirtschaft und Gesellschaft nimmt ebenso zu wie unsere Unfähigkeit, sie zu beherrschen. Die Sehnsucht nach Einfachheit kann dennoch erfüllt werden, wenn auch nicht durch schlichte Vereinfachung.
Je komplexer ein System ist, desto weniger kann man es durch Befehle steuern. Es lässt sich nicht einmal zentral überwachen. Komplexität zwingt zur Arbeitsteilung der Kontrolle und schließt einfache Rezepte aus. In unserer sozialen Erfahrung zeigt sich das im Schwinden des Konformismus, in der Unverbindlichkeit der Tradition und an der Unvorhersehbarkeit der Karriere.
Komplex heißt aber nicht einfach: nicht einfach. Erfolgreiche Simplizität kann nicht auf ein Plattschlagen der Verhältnisse aus sein, sondern muss eine ausreichende Eigenkomplexität aufbauen. Die Faszination funktionierender Technik erklärt sich durch gelungene Simplifikation. Das Komplizierte der Technik verschwindet in einer Blackbox, die uns eine Oberfläche der Benutzerfreundlichkeit zeigt: schwer zu verstehen, aber leicht zu bedienen.
Beispiele für Hybride: Siri lässt uns mit unserem iPhone reden - und hinter den Kulissen des Smartphone-Marktes tobt eine Schlacht um Tausende von Patenten. Wikipedia verfügt über die Komplexität eines Weltwissensspeichers - mit einem überschaubaren Set einfacher Produktionsvorschriften.
Trend: Profit
Gegentrend: Nachhaltigkeit
Ohne Profit wird Wirtschaft auch weiterhin nicht funktionieren; nur was Profit macht, kann sich auch weiterverbreiten. Allerdings ist bei der Produktion sozialen Reichtums Non-Profit das Portal zum neuen Profit.
Am Ende des 20. Jahrhunderts erkannte unsere Gesellschaft, dass sie eine äußere Balance mit der Natur finden muss. Am Anfang des 21. Jahrhunderts erkennt unsere Gesellschaft, dass sie nun auch eine innere Balance finden muss - mit einem polemischen Stichwort: soziale Gerechtigkeit. Es geht um die Versöhnung von Profitmotiv und sozialer Verantwortung.
Das große Thema des 21. Jahrhunderts lautet deshalb "soziale Nachhaltigkeit". Jetzt geht es um das Gleichgewicht, das unsere moderne Gesellschaft im Verhältnis der Klassen und Generationen einerseits, im Verhältnis von Staat und Wirtschaft andererseits finden muss. Wir fragen nicht nach den Grenzen des Wachstums, sondern nach einem neuen Reichtum, der sich mit den klassischen Begriffen der Ökonomie nicht fassen lässt.
Beispiele für Hybride: Manufactum war als David im Kampf gegen Wegwerfgesellschaft und Billigramsch gestartet - und bietet seine "guten Dinge" inzwischen unter dem Dach des Versand-Giganten Otto an. Emissionshandel galt lange als Königsweg der Versöhnung von Ökologie und Ökonomie - bis Zocker und Betrüger sich des Marktes annahmen.
Trend: Propaganda
Gegentrend: Selbstinformation
Propaganda ist der ehrliche Name für die Techniken der rationalen Manipulation, die uns beibringen, wie wir leben sollen. Die Parole der Selbstinformation lautet: Open Access. Alle sind klüger als jeder!
Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu bessern und vor sich selbst zu schützen. "Nudge" (Richard Thaler und Cass Sunstein) passt dazu als der "Schubser" in die richtige Richtung des aufgeklärten Verhaltens. Die modernen Paternalisten gehen davon aus, dass einige befugt sind, das Verhalten anderer Menschen so zu beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben.
Gegen diese Politik der paternalistischen Aufklärung richtet sich der Gegentrend der Selbstinformation. Computerbasierte Wissenssysteme und die Schwarmintelligenz der Wissensbörsen untergraben die Autorität der etablierten Experten; man kann deren Aussagen jetzt leicht überprüfen. Die Gatekeeper oder Torwächter, die eine Auswahl vor der Publikation treffen, werden durch Navigatoren ersetzt, die eine Auswahl nach der Publikation ermöglichen.
Beispiele für Hybride: Augmented Self ermöglichen Apps oder Geräte, die Nutzer über ihren eigenen Zustand informieren - oder Tipps zur besseren Lebensführung geben. Alcoguard ist ein Mechanismus, der das Auto nicht startet, wenn der Fahrer zu betrunken ist - damit jeder sich selbst der Polizist sein kann.
Trend: Permissivität
Gegentrend: Zero Tolerance
Permissivität ist die logische Konsequenz der Emanzipationsbewegungen; was einst als abweichend galt, wird normal. Doch es gibt nicht nur Enttabuisierer, sondern auch den Tugendterror neuer Jakobiner.
Das Obszöne ist heute ein selbstverständlicher Teil der Unterhaltungs- und Werbewelt, und seit einigen Jahren hat die westliche Kultur auch die Pornografie als Teil ihrer selbst anerkannt. Die sexuelle Orientierung wird heute betrachtet wie die freie Wahl des Konsumenten. Die moderne Gesellschaft fördert eine Designer-Erotik, das heißt eine maximale Entfernung vom evolutionären Erbe der Sexualität.
Doch aus dem Geist der Libertinage entspringt auch ein neuer Rigorismus. Er betrifft das Sexuelle: An die Stelle der puritanischen Lustfeindlichkeit tritt heute - neben "health care", dem sterilen Kult des gesunden Körpers - die Lustfeindlichkeit des Feminismus. Aber nicht nur das: Nichts macht die Maßlosigkeit des Reinheitswahns deutlicher als der politische Kreuzzug gegen das Rauchen.
Beispiele für Hybride: Slutwalk, zu Deutsch Schlampenmarsch, ist eine medial sehr präsente Protestbewegung für das Recht auf freizügige Kleidung - ohne deshalb als mitschuldig bei sexuellen Übergriffen zu gelten. Xxx-Domains sind ein kürzlich eingeführtes Internet-Reservat für Porno-Seiten - schafft Ordnung und erleichtert Filterung.
Essay und Trends/Gegentrends sind erstmals erschienen in: GDI Impuls 4/11, S. 12-19. Lektüre zum Thema: Die GDI Studie Nr. 34 zu Megatrends erscheint im Frühjahr 2012.
Zitate
"Wir leben mit dem Blick auf die Zukunft gerichtet - deshalb interessieren wir uns für Trends. Wir leben aber auch aus der Geschichte, unsere Herkunft steckt uns in den Knochen - deshalb interessieren wir uns für Gegentrends." Norbert Bolz: Gegensätze mischen sich auf
"Immer häufiger kommt es in der vernetzten Welt zu Hybridbildungen und wechselseitigen Durchdringungen von Markt und Organisation." Norbert Bolz: Gegensätze mischen sich auf
"Wir leben mit dem Blick auf die Zukunft gerichtet - deshalb interessieren wir uns für Trends. Wir leben aber auch aus der Geschichte, unsere Herkunft steckt uns in den Knochen - deshalb interessieren wir uns für Gegentrends." Norbert Bolz: Gegensätze mischen sich auf
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Norbert BolzNorbert Bolz gilt als einer der führenden Denker zur kulturellen Entwicklung. Seit 2002 ist er Professor im Bereich Medienwissenschaft an der TU Berlin; zuvor war er Professor für Kommunikationstheorie an der Universität Essen. Bolz ist Autor zahlreicher Bücher zu Medien, Marketing und Kommunikation.