Die Rückkehr zum "richtigen Maß"
Möglichkeiten, konstruktiv mit dem ausbleibenden Wachstum umzugehen.
Schon das Wort "Schrumpfung" klingt unangenehm. Was nichts an den Tatsachen ändert: Experten sagen einen jährlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung um ein Prozent voraus. Schon wegen der demografischen Entwicklung. Doch statt darüber zu jammern, sollte man diese Situation besser als Chance begreifen. Denn tun kann man einiges.
Deutschland macht gegenwärtig den
Eindruck eines angeschossenen Tigers in der Falle. Die Konjunktur
will einfach nicht in Fahrt kommen und die einzigen Bereiche, die
noch Wachstum aufweisen, sind die Arbeitslosigkeit, Steuern und
Abgaben sowie Gesundheits- und Sozialhilfekosten. Gerade ist nach
zähem Ringen der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst beigelegt
worden, da streiken die niedergelassenen Ärzte. Und das ist noch
lange nicht das Ende des von den unterschiedlichsten Interessen
getriebenen Kampfes um Besitzstandswahrung in Zeiten des
Privilegienabbaus und einer Politik unter den Vorzeichen des
"Mangels". Auf der privaten Seite ist Geiz mittlerweile "geil"
(Medienkette Saturn) und Konsum - Rabattorgien hin, Preisdumping
her - so was von out, dass selbst die Grünen, die einstigen
Vorkämpfer einer ökologisch motivierten Verzichtsideologie,
ernstlich besorgt sind und uns ihre Finanzexpertin Christine
Scheel unlängst aufforderte, doch bitte mehr zu kaufen. So ändern
sich die Zeiten: Anfang der neunziger Jahre versuchte das
Wuppertal Institut in seiner Studie "Zukunftsfähiges Deutschland"
noch mit dem Slogan "Gut leben statt viel haben" zu missionieren.
Eine gute Dekade später sind plötzlich Ratgeber wie "Simplify
your life" mit Tipps zum Entrümpeln von Schreibtisch, Wohnung und
Psyche von allem materiellen und immateriellen Schnickschnack auf
der Bestseller-Liste ganz weit oben.
Signifikantester Ausdruck von ausbleibendem Wachstum bzw.
"Schrumpfung" ist die demografische Entwicklung, die jedes Jahr
rein rechnerisch eine mittlere Stadt von 200.000 Einwohnern von
der deutschen Landkarte verschwinden lässt. Am Ende dieses
Jahrhunderts, so Hochrechnungen von Experten, könnte das
80-Millionen-Volk der Deutschen zu einem Völkchen von nur noch 24
Millionen Einwohnern zusammengeschrumpft sein. Die Deutsche Bank
prognostiziert in diesem Zusammenhang (Demografie Spezial vom 30.
Juli 2002) ab 2020 einen jährlichen Rückgang der
Wirtschaftsleistung um ein Prozent. Die fortschreitende Alterung
der Gesellschaft erscheint als eine Zeitbombe, auf die
Bevölkerungswissenschaftler seit 30 Jahren hingewiesen haben,
deren Sprengkraft aber erst jetzt, wo die Stabilität unseres
Sozialsystems immer schwächer wird, in den Fokus der öffentlichen
Wahrnehmung rückt.
Der Letzte macht das Licht aus.
Was bei bestimmten Konsumententypen
noch als selbst gewählter Lifestyle-Trend des "Downshiftings"
oder einer "Neuen Einfachheit" durchgehen mag, ist für wachsende
Teile der Bevölkerung aus den oben genannten Gründen bereits pure
Notwendigkeit ohne jeden eigenen ästhetischen Anspruch. Übertönt
von dem Getöse des tagespolitischen Hickhacks verlieren immer
mehr Städte und Regionen sowohl Einwohner als auch Arbeitsplätze.
Wie in einem Zukunftslabor lässt sich heute schon in Gegenden
Ostdeutschlands, wie der Uckermark, Vorpommern oder der Lausitz,
beobachten, was auf immer mehr Kommunen auch im Westen zukommt:
Aus Städten und Regionen, die ihre Bewohner nicht mehr ernähren
können, wandern zuerst die Jüngeren, die Leistungsfähigen und
Mobilen ab. Wo kein attraktives Humankapital zur Verfügung steht,
siedeln sich auch keine neuen Betriebe an, die wiederum junge
Leute anziehen. Die, die noch ausharren, bleiben auf den Kosten
einer inzwischen überdimensionierten Infrastruktur sitzen. In
Folge fortschreitender Verarmung und fehlender Auslastung werden
nach und nach Buslinien eingestellt, Kindergärten, Postämter und
Bibliotheken geschlossen, sinkt die Lebensqualität und machen
sich Hoffnungslosigkeit und Depression breit. Niemand möchte der
Letzte sein, der das Licht ausmacht und so laufen - in aller
Stille, aber mit dramatischen Folgen für die betroffenen Menschen
- ganze Regionen leer.
Beispiel Wittenberge (Brandenburg): Die ehemalige
Industriestadt hat seit der Wende ein Drittel seiner Bewohner
eingebüßt. Bestimmte Viertel sind inzwischen so heruntergekommen,
dass sie nur noch als Kulisse für Kriegs- und Nachkriegsfilme
genutzt werden. Selbst Städte wie Leipzig und Chemnitz müssen mit
Leerständen von 20 Prozent und mehr umgehen. Während die
Bauindustrie gegen die teilweise Streichung der Eigenheimzulage
Sturm läuft, stehen in den neuen Bundesländern mittlerweile 1,3
Millionen Wohnungen leer.
Nun ist es nicht so, dass dieser dramatische Strukturwandel
allein ein Phänomen der Wende wäre. Immer wieder hat es in der
Geschichte Schrumpfung in Folge industrieller Wandlungsprozesse
gegeben, beispielsweise in den Zechen-Städten des alten
Ruhrgebietes, wo es auch nur teilweise gelungen ist, den
Niedergang und die Entvölkerung der Region durch kompensatorische
Maßnahmen, wie zum Beispiel die Internationale Bauausstellung
Emscher Park, abzufedern. Unterschiede bestehen vielleicht in
Tempo und Ausmaß der Schrumpfungsprozesse, nicht aber in der
Tatsache des Rückgangs selbst.
Die Übergänge gestalten.
Das Problem ist jedoch nicht
Wachstum oder Schrumpfung an sich, sondern die Gestaltung der
damit verbundenen Transformationsprozesse und Übergänge. Die
Kernfrage, um die es geht, ist die soziale, ökonomische und
ökologische Verträglichkeit des Wandels. Im Prinzip existieren
für den Umgang mit Schrumpfungsprozessen zwei Politikoptionen:
Die eine besteht darin, zu hoffen, dass sich der
Schrumpfungsprozess wieder in einen Wachstumsprozess umkehren
lässt - eine Strategie, die vor allem von westdeutschen Städten
eingeschlagen wird. Stadtentwicklungspolitik ist hier in erster
Linie lokale Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt,
High-Tech-Unternehmen mit Leuchtturmfunktion auf großzügig
ausgewiesenen Gewerbeflächen anzusiedeln oder in so genannten
"public private partnerships" Dienstleistungs- und
Einkaufszentren sowie touristische Anziehungspunkte zu errichten.
Die andere Option erkennt den Schrumpfungsprozess als das an, was
er aller Wahrscheinlichkeit nach ist: ein unumkehrbarer
Strukturwandel, dem nicht durch einen hektischen und
wechselseitig ruinösen Standortwettbewerb wirksam begegnet werden
kann, sondern der einen grundlegenden Paradigmenwechsel
erfordert. Dieses von Stadtsoziologen und Stadtplaner als
"planned shrinking" bezeichnete neue Paradigma versucht Ziele zu
formulieren und neue Instrumente zu finden, mit deren Hilfe der
nicht aufzuhaltende Schrumpfungsprozess qualitativ gesteuert
werden kann.
In Ostdeutschland ist man im Hinblick deutlich weiter als
in Westdeutschland, wo faktisch stattfindende Realitäten noch
häufig negiert oder mit Wahlkampfparolen übertönt werden.
Stadtplaner und Kommunalpolitiker brüten hier bereits angestrengt
über Strategien des integrierten Rückbaus, auch wenn diese
Bemühungen noch zu oft in Wohnungspolitik mit der Abrissbirne
stecken bleiben.
Aufgabe von Zukunftsforschern ist es nicht, einzelne
tagespolitische Maßnahmen zu bewerten, wohl aber, den Blick für
die mittel- bis längerfristigen Zeithorizonte zu schärfen. Und
aus dieser Perspektive kann zumindest eines festgestellt werden:
Parteiübergreifend herrscht gegenwärtig ein eklatanter Mangel an
Mut, Phantasie und Offenheit, die drängenden Zukunftsfragen
erstens wahrzunehmen und zweitens tabulos anzugehen. Was
stattdessen stattfindet, ist ein zähes Ringen um kleinste
Drehungen an Stellschrauben, beispielsweise die Erhöhung des
Rentenversicherungsbeitrages um 0,4 Prozent, was prompt einen
kollektiven Aufschrei der unterschiedlichsten Lobbygruppen
hervorrief. Ihnen gemeinsam ist ein negativ besetztes Gefühl des
(ungerechtfertigten) Verzichts, des Abbaus, der Schrumpfung, des
"Immer-weniger" - kurz: das eines Losers, der unweigerlich auf
den Abgrund zusteuert.
Schrumpfung muss nicht negativ sein.
Die Begriffe "Schrumpfung" und "Rückbau" sind - da geht es schon los - auch ein semantisches Problem. Sie lassen unangenehme Gedanken an Siechtum und Mangelwirtschaft aufkommen und verstellen damit den Blick auf die unterschiedlichsten Gestaltungsoptionen: Leer laufende Regionen können aufgegeben oder renaturiert, aber auch mit Hilfe von Anreizen wie Steuerfreiheit und kostenlosen Grundstücken neu besiedelt werden. Freie Wohnungen, für die sich keine Mieter finden, können abgerissen, aber auch zu großzügigeren Grundrissen zusammengelegt werden. Durch Brachen perforierte Stadtbilder können hingenommen, aber auch umgestaltet werden - sei es durch eine gezielte Aufgabe peripherer Standorte und Verdichtung im Kern oder durch Schaffung innerstädtischer Gärten und anderer - auch experimenteller - Freiräume. Netzgebundene Infrastrukturen wie Verkehrs-, Energie- oder Wasserversorgung können durch kleinere, dezentrale und kostengünstigere Lösungen ersetzt werden (zum Beispiel Bustaxen statt Schienenzüge, Blockheizkraftwerke statt Großkraftwerke). Der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen kann partiell ersetzt werden durch E-Government, neue Nachbarschaftsnetzwerke und Bürgerarbeit - was jedoch die traditionelle Erwerbsarbeitsgesellschaft erheblich in Frage stellen und transformieren würde. Vielleicht müssen wir uns auch klar verabschieden von dem strukturpolitischen Ziel, überall gleiche Lebensbedingungen schaffen zu wollen. Möglicherweise ist eine kulturelle Umwertung das Gebot der Stunde, das Anerkennen und Zulassen von deutlichen Unterschiedlichkeiten in Bezug auf Lebensweisen und Lebensrhythmen, Produktivität und Effizienz.
Gebraucht wird eine neue Reformpolitik.
Reformpolitik, die diesen Namen
wirklich verdient, sollte grundlegende Strukturfehler beseitigen
und sich aus dem Würgegriff derer befreien, die sich in den
Nischen des fehlerhaften Systems komfortabel eingerichtet haben -
angefangen beim Deutschen Beamtenbund, der für den Erhalt eines
durchweg antiquierten Privilegiensystems kämpft, über die
Bauernverbände und das absurde System der Agrarsubventionen bis
hin zu den Gewerkschaften mit ihren Flächentarifverträgen, um nur
einige der zukünftigen "Baustellen" einer angepassten
Schrumpfungspolitik zu benennen. Drei mächtige Wirtschaftsbosse -
Telekom-Chef Sommer, Bertelsmann-Chef Middelhoff, Allianz-Chef
Schulte-Noelle - die alle für einen schnellen und expansiven
Wachstumskurs standen, mussten im letzten Jahr ihren Hut nehmen.
Zufall oder symptomatisch?
Welche Konturen eine zukunftsfähige Schrumpfung auch immer
annehmen wird - sie muss tabulos durchdacht und mutig gestaltet
werden. Das rechte Maß zu finden braucht manchmal seine Zeit -
aber auch Ideen und Visionen, die über den Tag hinausreichen. Für
Kommunen und Gesellschaft sowieso, aber auch für Unternehmen und
ihre sich unter diesen Bedingungen radikal wandelnden Märkte.
Nichts bleibt, wie es war - aber spannend wird es auf jeden
Fall.
Beate Schulz-Montag ist Leiterin des Z _punkt Büros Berlin.
www.z-punkt.de
schulz@z-punkt.de
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