Wirtschaft in Echtzeit

Ein Essay über die Macht der Innovationszyklen.

Von Ulrich Schumacher

Was haben Innovation und Konjunkturentwicklung miteinander zu tun? Mehr, als die meisten denken. Ein Blick hinter die Kulissen der Speed Economy.

Geschwindigkeitssteigerungen sind für uns normal, sie sind sogar eine regelmäßige Anforderung, wenn wir uns fortbewegen. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie Forscher und Entwickler seit Menschengedenken an dem Hinausschieben der Grenzen von Hochgeschwindigkeit bei der Fortbewegung arbeiten? Marco Polo erreichte 1275 nach fünf Jahren Fahrt auf einem Segelschiff den Hof des chinesischen Kaisers Kubilei in Tschengtu. Heute erreiche ich China in wenigen Stunden mit dem Flugzeug. Wir können heute nahezu jeden Punkt der Erde mit den heutigen Verkehrsmitteln schnell - längstens innerhalb von sehr wenigen Tagen - erreichen.
Die Geschwindigkeit, mit der heute kommuniziert wird, hat auch erheblich zugenommen. Auch wenn ich seit bald zehn Jahren E-Mails sende und empfange, bin ich immer noch begeistert, wenn ich innerhalb von ein oder zwei Minuten eine Antwort auf meine E-Mail aus den USA oder von meinen Kollegen in den asiatischen Ländern bekomme. Und ich werde ungeduldig, wenn ich auf das langsame Mittel Fax oder Brief zurückgreifen muss. Unsere Möglichkeiten, sich immer schneller fortzubewegen, sind also nur ein Aspekt der Schnelligkeit. Aber auch die Massenkommunikation ist schneller geworden - und hat sich verändert. Das Internet ermöglicht es, sofort, schnell und ohne weiteres Informationen weltweit verfügbar zu machen und zum Beispiel in Echtzeit auf die Online-Ausgaben von Printmedien aus den USA, Australien, Europa oder dem asiatisch-pazifischen Raum zuzugreifen. Und das alles hat Folgen für den Markt, denn jede Unternehmensentscheidung ist sofort weltweit bekannt - und löst sofort weltweit Reaktionen aus.

Produkte leben immer kürzer.


Weniger offensichtlich ist die Beschleunigung in wirtschaftlichen Mechanismen und Prozessen. Doch auch hier hat die Geschwindigkeit zugenommen. Unternehmen, die in der IT-Industrie oder in der Telekommunikation arbeiten, müssen ihre Zeit in Hundejahren messen. Sie müssen also die Entwicklungen von sieben Jahren in einem Jahr realisieren, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Zeit hat eine neue Dimension erhalten. Die Produkt- oder Produktlebenszyklen - die Phase von der Produktidee über die Produktentwicklung und die serielle Fertigung bis zum Verschwinden des Produktes vom Markt - haben sich von zehn auf sieben oder fünf Jahre reduziert. In manchen Produkten der IT-Industrie sogar - wie bei der Graphikkarte - auf nur sechs Monate.
Gerade in der IT-Industrie haben Sie sehr, sehr schnelle Abfolgen von Produktzyklen. Sie können nicht Jahre arbeiten, bis Sie ein neues Produkt auf den Markt werfen und dann weitere Jahre gut davon leben. Die Zeitfenster werden immer enger. Heute kommt eben alle neun Monate nicht nur eine neue Handygeneration mit einer neuen Gehäusefarbe auf dem Markt. Die neue Generation hat in der Tat technische Neuerungen vorzuweisen.
Sie müssen also in unserer Industrie bei der Entwicklung von Produkten bis zur Marktreife mit der Einführung im Markt eine Punktlandung machen, denn die Herstellung mehrerer Prototypen und kleiner Serien mit kontinuierlicher Fehlerreduktion ist schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich. Die Testphase alleine würde so viel Zeit wie der gesamte Produktlebenszyklus in Anspruch nehmen.
Ein Beispiel: In den meisten Automarken liegt der Elektronikanteil zwischen 43 und 60 Prozent. Hunderte von Sensoren, Mikrocomputern und Elektromotoren steuern das Fahrzeug. Die Kehrseite der Medaille - und ein Beispiel für die Notwendigkeiten von Punktlandungen: 50 Prozent der Autopannen sind heute auf einen Ausfall der Elektronik zurückzuführen. Wir rechnen damit, dass dieser Anteil in zirka fünf bis sechs Jahren auf 60 Prozent anwachsen wird. Die Zahlen zeigen, dass die Ausfallstabilität die wichtigste Voraussetzung der Elektronik sein wird. Aber Sie können die Prototypen nicht fünf Jahre lang durch den Winter jagen, um sicher sein zu können, dass sie nun wirklich zu 100 Prozent funktionieren.

Immer schnellere Innovationszyklen.


Was ist die Folge der schnellen Produktzyklen? Sie befinden sich in einem permanenten Wettlauf um technische Innovationen. Das hat den Vorteil, sehr schnell aufholen zu können - und den Nachteil, genauso schnell wieder Schlusslicht der Entwicklung zu sein.
Der typische Innovationszyklus beträgt heute bei mechanischen Produkten und neuen Werkstoffen sieben bis zehn Jahre, bei Elektromechanik oder Bus-Systemen vier bis sechs Jahre, bei Software und Elektronik unter einem bis zu drei Jahren. Und das müssen Sie in Verbindung mit dem Forschungs- und Entwicklungsanteil betrachten. Je länger der Innovationszyklus, desto geringer die F&E-Anteile. Mechanische Produkte und neue Werkstoffe haben einen Anteil von zehn Prozent, Elektromechanik oder Bus-Systeme 30 Prozent, Software und Elektronik 60 Prozent. Das heißt aber auch aus einem unternehmerischen Gesichtspunkt, dass die Produkte, die die kürzesten Innovationszyklen haben, die höchsten Entwicklungs- und Einführungskosten verlangen! Die Industrie heute steht unter einem enormen Innovations- und Zeitdruck. In manchen Branchen - wie etwa auch in "meiner" Industrie - haben sich der Innovationsvorsprung und damit eine kurzfristige Monopolstellung, die ein Unternehmen mit einem neuen Produkt gewinnen kann, auf etwa vier Wochen reduziert. Mit dem zunehmenden Einzug der Elektronik in nahezu alle Produkte steigt der Innovations- und Zeitdruck aber auch auf alle Branchen.

Wann beginnt die nächste Innovationsphase?


Eine der veränderten Gesetzmäßigkeiten der Gegenwart ist das Verschwimmen von Grenzen - auch zwischen Unternehmen und der Gesellschaft. Hinter dem Stichwort "intelligente Vernetzung der Wissensgesellschaft" verbirgt sich, dass diese neuen Technologien auch gesamtwirtschaftliche Innovationszyklen haben. Denn die Gesellschaft wird immer auch durch neuartige wissenschaftliche Entdeckungen verändert. Dies galt für die Entdeckung der Dampfmaschine ebenso wie für die Einführung der Halbleiter-Technologie, also den Computer. Zwischen diesen Entdeckungen und ihrer gesamtwirtschaftlichen Nutzung liegt nach bisherigen Erfahrungen eine Zeitspanne, die mit 50 Jahren veranschlagt wurde. Diese Spanne ist eine Art gesamtgesellschaftlicher Lernprozess, der den Innovationszyklen zugrunde liegt. Die Konjunktur verläuft zu diesen Innovationszyklen fast parallel. Dem Ende eines Innovationszyklus entspricht eine Rezession beziehungsweise Depression. Damit erlebt die Konjunktur weltweit einen Tiefpunkt dann, wenn ein gesamtgesellschaftlicher Lernprozess zu Ende geht.
Im Lichte dieser Theorie wären die als "Zukunftstechnologien" bezeichneten Innovationen Computer und Telekommunikation bereits nahezu "ausgereizt", denn die industrielle Fertigung der Basistechnologie Halbleiterprodukte begann vor 50 Jahren. Die gegenwärtige konjunkturelle Talsohle würde nach dieser Aussage bis zum Jahre 2010 andauern, die goldenen 70er Jahre erst um das Jahr 2030 wieder ihre moderne Entsprechung finden.
Wenn diese Prognose zutreffen sollte, müssen wir auf Unternehmensebene heute schon für unsere strategischen Entscheidungen einen gesamtwirtschaftlichen Wandel vorhersehen beziehungsweise vorwegnehmen, der eben nicht auf der gegenwärtig bekannten Informations-Technologie aufbaut. Natürlich werden bestimmte Märkte für diese Technologien in den nächsten zehn bis 20 Jahren weiter wachsen. Computer und bisherige Formen der Telekommunikation müssen aber nicht zwangsläufig die Technologien sein, die den kommenden gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lernprozess und damit auch unsere Innovationskultur bestimmen werden.

Innovationen und Volkswirtschaft.


Innovationen sind also existenziell für die Weiterentwicklung von Volkswirtschaften. Denn wenn aus der forschenden Neugier die kommerzielle Vermarktung wird, wechselt das wissenschaftliche Produkt in das Lager der Wirtschaft. Geld wird investiert, um letztlich Gewinne realisieren zu können.
Forschung und Entwicklung sind heute Conditio sine qua non für den Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Sie sind aber auch ein unternehmerisches Risiko. Es kann eine hohe Investitionsentscheidung sein, die keinen Erfolg zeigt. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine bahnbrechende Idee. Würden Sie Ihr Haus mit einem Kredit belasten, um diese Idee zu verwirklichen? Würden Sie einen Vertrag unterschreiben, der Ihnen mehrere Millionen Euro als Honorar sichert, wenn Sie ein hervorragendes Resultat Ihrer Forschungen vorzeigen können, der Sie aber zwingt, bis dahin unbezahlt zu arbeiten? Wir vergessen manchmal, dass es relativ unbelastend ist, Budgets in Firmen auszugeben, solange die Firma ein monatliches Gehalt zahlt. Es ist relativ leicht, vor sich hin zu forschen, solange die Universität eine Stellung auf Lebenszeit bereitstellt. Das verdeutlicht das unternehmerische Risiko eines forschenden Unternehmens - und die Probleme des kontinuierlichen Innovationsdrucks, unter dem Unternehmen stehen.
Dies zeigt aber auch eine interessante Parallele zwischen einem reinen Kapitalinvestor auf dem Finanzmarkt und einem forschenden und produzierenden Unternehmen. Denn beide Seiten möchten ihre Gewinne maximieren. Der Kapitaleinsatz in der Entwicklungs- und Einführungsphase einer neuen Technologie entspricht dem unternehmerischen Risiko eines Kapitalgebers. Für beide Investoren - den Kapitalinvestor genauso wie für das forschende Unternehmen - ist die Chance, Gewinne zu steigern, genauso groß wie das Risiko, Kapital zu vernichten.
Doch die Aufgabe des Unternehmers ist und war nie nur auf die Finanzierung und Einführung technologischer Neuerungen beschränkt. Gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen, in denen sich Innovations- und Produktzyklen massiv reduzieren, gehören saubere Vorbereitungen der in jedem Markt auftretenden Downturns - der Ernüchterungsphasen nach technologischen Innovationen - zu einer der Hauptaufgaben des Unternehmensmanagements. Sie müssen in guten Zeiten das Geld verdienen, mit dem Sie den Downturn und die Vorbereitung des Unternehmens auf den nächsten Aufschwung finanzieren können. Dies gilt in viel stärkerem Maße in Deutschland, denn antizyklisches Verhalten wie die Investition in neue Technologien oder die Neuentwicklung von Produkten in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist gerade in Deutschland schwer zu vermitteln. Sie können - und das muss man auch sehen - auch eine Gefahr in sich bergen, wenn die Konjunktur sich - wie wir es zur Zeit erleben - weiter verschlechtert. Die Geschwindigkeit und die relative Unberechenbarkeit der Entwicklungen heute machen den Grat zwischen Investition und Fehlinvestition sehr schmal. Im Grunde arbeitet man heute als Manager kontinuierlich und täglich nach den Mechanismen, die vor noch rund zehn Jahren als typisches Krisenmanagement bezeichnet wurden.

Die Lehren des Tamagotchi.


Innovationen sind zunächst nur eine technologische Neuerung. Innovationen sind erst dann wirklich Innovationen, wenn sie auf dem Markt Erfolg haben, wenn sie von den Kunden angenommen werden. Sie müssen sich heute genauer als je zuvor die Kunden- und Bedarfsseiten anschauen. Damit haben Sie immer auch Einfluss auf Erwartungshaltungen. Fantasien werden geweckt, zunächst bei technikbegeisterten Kunden. Dann geht die Begeisterung auf andere Kunden über. Wir haben dies im Internet-Hype erlebt. Dies sind auch massenpsychologische Mechanismen. Auf der Basis dieser zunehmenden Begeisterung werden Investitionen getätigt. Sie erzeugen Zulieferungen und Vorleistungen - und schaffen damit neue Märkte. Sie wiederum sind Motor der Konjunktur und erzeugen für einen gewissen Zeitraum Wachstum. Investitionen in Entwicklung und Markteinführung erfolgen. Die Innovation wird eingeführt. Handelt es sich bei der Innovation um ein Produkt, wird eine Produktion aufgebaut. Handelt es sich um eine Dienstleistung, muss eine entsprechende Infrastruktur entwickelt werden. Zunächst liegt die Produktion über den Absatzzahlen. Der Produktion folgen die Verkäufe. Sie führen zur Auslastung und Erweiterung der Kapazität. Mit der Rasanz und zunehmenden Dynamik einer neuen Entwicklung zeigt sich ein übersteuerter Kapazitätsaufbau. Die Entwicklung gipfelt in einer Marktsättigung, in der sich weitere Kapazitäten im Aufbau befinden. Die Erstausstattung des Marktes ist abgeschlossen. Die Marktsättigung hat einen massiven Wandel zu Folge.
Der Abschwung ist unvermeidlich, denn aus Überkapazitäten und Lagerbeständen muss verkauft werden. Kapazitäten und Kosten müssen reduziert werden, bis die Phase des Einpendelns erreicht wird. In dieser Auslaufphase gibt es drei Möglichkeiten. Entweder ist die Innovation so wichtig und unersetzbar, dass ein Markt weiterhin, wenn auch langsamer, wächst. Oder der Markt stagniert bei einer dauernden Querbewegung. Oder - und das ist bei den meisten Innovationen die typischste Entwicklung - die Innovationen werden durch Neuentwicklungen verdrängt, schrumpfen und verschwinden im Extremfall vom Markt. Das ist - in Kürze ausgedrückt - der normale Ablauf einer Innovationskurve. Gültig, seit man sich mit dem Verlauf von Innovationen auseinander setzt.
Eine etwas absurde derartige Entwicklung konnten wir vor zwei Jahren bei den in Japan entwickelten elektrischen Tieren - den Tamagotchis - beobachten. Sie kamen als Innovation auf den Markt und hatten als Produkt eine ausgesprochen gute Resonanz bei den Kunden. Innerhalb kürzester Zeit war der Markt gesättigt. Heute spricht keiner mehr von diesen Tieren. Aber die Erträge aus diesem kurzen und heftigen Aufstieg bis zur Marktsättigung reichten für eine gute Rendite.

Innovationszyklen und Hypes.


Haben wir eine ideale Abfolge von Innovationszyklen, ergänzen sie sich und stärken für einen langfristigen Zeitraum die Konjunktur. Im Internet-Hype der Jahre 1999 und 2000 trat aber der umgekehrte Fall ein - an dessen Folgen wir heute noch leiden. Computer und Server erlebten einen Boom, ausgelöst auch durch den breitflächigen Austausch der IT-Infrastruktur, um optimal auf den Millenniumswechsel vorbereitet zu sein. Gleichzeitig erreichte der Handyabsatz in Europa durch die Subventionierung der Geräte der Netzbetreiber einen Höhepunkt. Der Markt war wesentlich früher gesättigt, als es bei einem normalen Verlauf erfolgt wäre.
Schon die Überlagerung dieser beiden Zyklen alleine hätte massive Verwerfungen mit sich gebracht. Mit dem Verkauf der UMTS-Lizenzen traten gleichzeitig unrealistische Erwartungen an die Telekommunikation auf. Hier wurde von der Politik in nicht zu verantwortender Art und Weise mit der Versteigerung der Lizenzen in Marktmechanismen eingegriffen. Als im Nachhinein die Investitionen der Netzbetreiber in die UMTS-Lizenzen - sie betrugen rund 50 Milliarden Euro, ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts 2003 - als übertrieben eingestuft wurden und der Glaube an den Nutzen der Technologie verloren ging, schlug die Stimmung schnell um. Sie sehen also: Es gab drei Innovationszyklen, die sich überlagert haben. Bei allen trat gleichzeitig eine massive Ernüchterungsphase ein, die die heftigen Einbrüche an den Finanzmärkten einerseits, andererseits aber auch den weltweiten Einbruch der Konjunktur durch die Auswirkungen auf die Zulieferketten erklärt.
Dadurch wird vielleicht verständlicher, warum noch immer kein Aufschwung in Sicht ist - warum die Erholung der Wirtschaft aber nur eine Frage der Zeit ist. Denn es wird immer neue Innovationszyklen geben. Dem fühlen sich Firmen wie Infineon, die von der Innovation, von Patenten und Erfindungen leben, verpflichtet.

Dr. Ulrich Schumacher ist Vorstandsvorsitzender der Infineon Technologies AG.

www.infineon.com
www.campeon.de

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