Schlechte Zeiten für Autodidakten

Ein Gespräch mit Ilona Wallberg über den Beruf des Übersetzers.

Von Heike Littger

Die Übersetzer-Branche boomt. Vergangenes Jahr wurden in Deutschland etwa 30 Millionen Seiten übersetzt, in der EU waren es 100 Millionen, weltweit 200 Millionen. Tendenz steigend. Auch Ilona Wallberg, Mitarbeiterin des SprachenDienstes der Siemens Business Services GmbH & Co. OHG, ist zuversichtlich: "Die Anforderungen haben sich geändert, aber Übersetzer mit fundierter Ausbildung und Engagement haben sehr gute Zukunftsaussichten."

Ilona Wallberg ist Diplom-Übersetzerin. Beim SprachenDienst der Siemens Business Services GmbH & Co. OHG ist sie verantwortlich für Vertrieb und Marketing des Profitcenters. Um die Zusammenarbeit zwischen Ausbildung und Praxis zu verbessern, engagiert sie sich seit sechs Monaten in der Organisation transforum.

Frau Wallberg, stellen wir uns vor: Ich würde gerne den Studiengang "Übersetzen und Dolmetschen" belegen, was müsste ich beachten?
Der wichtigste Punkt: Übersetzer übersetzen Fachtexte. Wollen Sie literarische Texte übersetzen, dann studieren Sie auf keinen Fall "Übersetzen und Dolmetschen", sondern Germanistik, Romanistik, Anglistik ...

Und wie finde ich die richtige Schule? Berlin, Bonn, Heidelberg, Hildesheim, Flensburg, Köln - in Deutschland gibt es derzeit sieben Universitäten, drei Fachhochschulen und einige bayerische Fachakademien.
Prüfen Sie die Angebote der einzelnen Schulen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Sprachen und der Fachgebiete. Nicht alle Sprachkombinationen können an allen Schulen studiert werden. Außerdem sollten Sie sich überlegen, ob Sie promovieren möchten oder nicht - denn dann müssen Sie an eine Universität gehen. Interessant sind auch die Kurse, die die Universitäten und Fachhochschulen neben ihrem eigentlichen Programm anbieten. Diesbezüglich sind FHs oft einen Tick weiter.

Sind Fachhochschulen nicht generell praxisbezogener?
Fachhochschulen sind in der Regel sehr praxisbezogen. Das heißt aber nicht, dass sie besser sind. Lernen zu lernen - das ist das, was man an allen Ausbildungsstätten beigebracht bekommt. Und das ist für den späteren Beruf sehr wichtig. Als Übersetzer belegen Sie nicht nur zwei Sprachen, sondern auch ein Fachgebiet wie Technik, Jura, Medizin, Wirtschaft. Sie müssen sich richtig in die Materie knien und Fachübersetzungen zu dem jeweiligen Fachgebiet anfertigen, um die Terminologie zu erlernen. Je intensiver Sie dieses Studium betreiben, desto leichter fällt es Ihnen, sich später in andere Fachgebiete einzuarbeiten. Denn das müssen Sie. Ganz gleich ob Siemens SprachenDienst, DaimlerChrysler Sprachendienst, Berlitz, inlingua - die eigentliche Spezialisierung kommt nach dem Studium.
Wir haben bei unseren Praktikanten häufig die Erfahrung gemacht, dass Studierende an Universitäten sich schnell in unsere Spezialgebiete einarbeiten. Studierende an FHs oder den anderen Ausbildungsstätten bringen häufig bessere Kenntnisse bei den Themen Organisation, Zeitmanagement und Umgang mit Tools mit.

Organisation, Zeitmanagement und den Umgang mit Tools, diese Fertigkeiten kann ich mir zur Not auch in meiner Freizeit aneignen - dann also doch lieber ein Uni-Studium?
In der Regel haben Sie während des Studiums nicht die Zeit, zusätzliche Kurse zu besuchen. Das ist auch meine Kritik: Lernen zu lernen ist wichtig. Doch alle Absolventen sollten auch wissen, wie man einen Computer bedient. Wie man im Internet recherchiert. Und unter Zeitdruck arbeitet. Deswegen: Es gibt kein besser oder schlechter. In letzter Konsequenz sind die Studierenden für sich und ihre Arbeitsmarktfähigkeit selbst verantwortlich. Aber die Ausbildungsstätten, und dabei nehme ich alle in die Verantwortung, müssen den Studierenden ein klares Bild von der Wirklichkeit des Berufes vermitteln.

Wie sieht es mit Kulturwissenschaften aus?
Sehr wichtig. Wenn Sie das englische Gewerkschaftsrecht nicht kennen, können Sie auch keinen Text zum Thema "Bergarbeiterstreik" übersetzen. Deswegen lernen Sie nicht nur die Sprache eines Landes, sondern auch etwas über seine Kultur: Geistesleben, Literatur, Geschichte, politische Strukturen, Rechtssystem, Wirtschaft, Gesellschaft et cetera. Der Dolmetscher muss noch weitere Merkmale kennen. Mimik, Gestik, Haltung, Ironie, Verhältnis Mann/Frau - das sind alles Dinge, die er bei seiner Tätigkeit berücksichtigen muss.

Und das alles wird im Fach "Landeskunde" thematisiert?
Nein. Die Lehrer können nur darauf hinweisen. Aber das sollten sie auch tun.

Wenn Sie heute ein Curriculum entwerfen müssten, wie sähe es aus?
Englisch lernen - egal welche Sprachkombination sie auch wählen, Englisch müssen Sie beherrschen. Allein schon, um die Bedienungsanleitungen für die Tools zu verstehen. Außerdem sprechen viele Kunden nur Englisch - auch wenn sie eine Übersetzung vom Italienischen ins Französische in Auftrag geben. Außerdem muss die Muttersprache getestet werden. Sie können sich nicht vorstellen, welche Lücken sich da auftun.
Dolmetscher und Übersetzer studieren nur im Grundstudium zusammen. Danach trennen sich ihre Ausbildungswege. Trotzdem sollen sie sich nicht zu sehr aus den Augen verlieren. Dolmetscher müssen sich oft mit Übersetzerjobs über Wasser halten, Übersetzer müssen oft als Dolmetscher einspringen. Nach dem Motto: Sie können doch Spanisch ...
Außerdem: Die Ausbildung in den Fachgebieten sollte besser auf die Bedürfnisse der Übersetzer zugeschnitten sein. Also, nicht einfach nur Recht, sondern Wirtschaftsrecht, Bilanzrecht, Vertragsrecht ...

Gibt es sonst noch etwas, was Sie auf die Liste setzen würden?
Berufskunde. 80 Prozent der Übersetzer arbeiten als Freiberufler. Doch die meisten haben keine Ahnung, was das bedeutet. Dass sie nicht nur ihre Übersetzertätigkeit in Rechnung stellen dürfen, sondern auch einen Teil der Miete, Telefonkosten, Heizung. Außerdem wichtig: Selbst- und Zeitmanagement. Der Beruf ist sehr anstrengend. Psychisch aber auch physisch. Als Übersetzer müssen Sie sehr genau aber auch sehr schnell arbeiten.

Was heißt sehr schnell?
Bei der Produktdokumentation sind acht bis zehn Seiten (eine Seite umfasst 25 Zeilen 55 Anschläge) pro Tag die Regel. Bei Werbetexten etwa die Hälfte. Was noch wichtig ist: PC-Orientierung: Excel, Word und PowerPoint sind Grundvoraussetzung. Außerdem sollte jeder Übersetzer vor Eintritt ins Berufsleben schon mal ein Translation-Memory-System wie Transit, Trados, Dejà Vu oder SDLX, eine Terminologie-Datenbank, ein Mail-Programm inklusive Verschlüsselung und Komprimierung, ein Desktop-Publishing-Programm, ein Spracherkennungs- und ein maschinelles Übersetzungsprogramm kennen gelernt haben.

Warum ist ein guter Übersetzer so wichtig?
Ich hatte einen Wasserkessel von Alessi, die Übersetzung der Bedienungsanleitung war fast unverständlich, hatte aber einen hohen Unterhaltungswert. Doch stellen Sie sich vor: Ihr Anästhesist hat die Bedienungsanleitung für das neue Beatmungsgerät nicht verstanden. Dann sehen Sie alt aus. Jeder Dokumentationsfehler verursacht Folgefehler. Deswegen sollten Freiberufler sehr gut versichert sein.

Übersetzer ist keine geschützte Berufsbezeichnung und kann daher von jedermann ohne Qualifikationsnachweis verwendet werden. Stellen Unternehmen nur Uni-Absolventen ein - oder haben auch Autodidakten eine Chance?
Die meisten Auftraggeber haben keine Ahnung, dass die Berufsbezeichnung nicht geschützt ist. Trotzdem hat sich die Situation für Autodidakten in den letzten Jahren verschärft. Es sind zu viele Fehler passiert, so dass Auftraggeber heute stärker mit renommierten Anbietern zusammenarbeiten - und nicht mehr so aufs Geld achten. Arbeitgeber, die sich einen eigenen SD leisten, stellen in der Regel nur qualifiziertes Personal ein.

Welche Sprachkombinationen sind besonders begehrt?
Englisch ist nach wie vor die wichtigste Sprache. Danach kommen Spanisch und Französisch. Ich habe als Zweitsprache Russisch gelernt. Ich ärgere mich bis heute, dass man mich damals falsch beraten hat. Es ist wichtiger, beide Sprachen gern zu lernen und so einen guten Abschluss zu erreichen, als auf den potenziellen Markt zu achten, denn der ändert sich schnell.

Ist die Zweitsprache nicht egal - außer bei Behörden werden Übersetzer doch eh nur in ihrer Erstsprache eingesetzt.
Das ist richtig. Deswegen meine Empfehlung: Studieren Sie eine der gängigen Sprachen und eine, die Ihnen am Herzen liegt. Das kann dann meinetwegen auch Kiswahili sein. Wenn Englisch, Französisch oder Spanisch aber nicht Teil der Kombination sind, braucht man schon sehr gute Kenntnisse in mindestens zwei Sprachen, um sein Brot zu verdienen.

Übersetzer und Dolmetscher sind extrem wichtig für die multilinguale und multikulturelle Kommunikation - warum ist ihr Image in der Öffentlichkeit nicht besser?
Menschen haben keine Ahnung, was es heißt, einen Text zu übersetzen. Die denken: wird halt noch mal abgetippt - nur in einer anderen Sprache. Deswegen werfen sie Übersetzer, Dolmetscher und Fremdsprachenkorrespondent oft in einen Topf. Alles dieselbe Sauce. Universität, zehn Semester Studium - das wissen die meisten nicht. Leider hat dies auch Auswirkungen auf das Gehalt. Ein Übersetzer verdient weit weniger als ein Informatiker oder Maschinenbauer. Der Einwand "Geisteswissenschaftler verdienen eben weniger" ist nicht gerechtfertigt. Der Lernaufwand ist nicht vergleichbar.

Was halten Sie von den kleinen Helfern aus den Labors der Software-Entwickler?
Ehrliche Antwort: Nichts! Die Systeme sind noch lange nicht ausgereift und können einem menschlichen Übersetzer nicht das Wasser reichen. Vor allem, was den subtilen, flexiblen und kreativen Umgang mit Sprache angeht. Ich will die Dinger aber nicht verteufeln. Wenn Sie Stücklisten übersetzen müssen - dann ist ihr Einsatz sicherlich sinnvoll.

Die Zukunft sieht also gut aus ...
... wer sich heute im internationalen Wettbewerb behaupten will, der muss auf den internationalen Märkten auch in der jeweiligen Landessprache präsent sein. Dieser Herausforderung stellen sich nicht nur die Großen, sondern auch die Mittleren und Kleinen. Deswegen ist der Bedarf an guten Übersetzern groß. Zuverlässige Übersetzungen sind nicht nur das Tüpfelchen auf dem i, sondern für eine Exportnation wie Deutschland unverzichtbar.

Heike Littger arbeitet als Redakteurin bei changeX.

Lesen Sie dazu auch das Portrait über den SprachenDienst.

www.siemens.com/sprachendienst
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Autorin

Heike Littger
Littger

Heike Littger ist selbständige Journalistin und wohnt in Mountain View, Kalifornien. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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