Die da unten
Arm durch Arbeit. Ein Undercover-Bericht - das neue Buch von Markus Breitscheidel.
Von Annegret Nill
Eineinhalb Jahre schlug sich ein Wirtschaftswissenschaftler und Enthüllungsjournalist "ganz unten" durch: als Leiharbeiter, Billiglöhner, Harz-IV-Empfänger. Er spricht über seine Gefühle: Angst, die Zeitarbeitsfirma könnte sich nicht melden. Scham, Flaschen aus dem Müll zu sammeln. Und er berichtet, was er als Zeitarbeiter erlebt: Geringschätzung und Diskriminierung. Sein Buch zielt auf Empörung. / 21.11.08
Breitscheidel CoverWillkommen im Teufelskreis von Hartz IV und Billiglohn. Wie das Leben sich anfühlt, wenn man "ganz unten" angelangt ist, berichtet der Wirtschaftswissenschaftler und Enthüllungsjournalist Markus Breitscheidel in seinem neuen Buch Arm durch Arbeit. Dazu hat er sich in Wallraff-Manier für eineinhalb Jahre selbst in diese Situation begeben.
Sein Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil schildert Breitscheidel seine Erfahrungen mit dem JobCenter und einem Leben unter den Bedingungen von Hartz IV. Im zweiten Teil berichtet er, was er als Leiharbeiter mit verschiedenen Zeitarbeitsfirmen und bei Firmen wie Opel oder Bayer Schering erlebt hat. Nicht zuletzt lässt er sich vom JobCenter zur Arbeit als Erntehelfer verdonnern, was Thema des dritten Teils ist. Doch das Herzstück des Reports ist der Report über die Leiharbeit.
Zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern verläuft ein tiefer Bruch, diagnostiziert Breitscheidel. Firmeninterne Arbeiter kommen in den Genuss von festen Tariflöhnen, Vereinbarungen und Zulagen: "Der Leiharbeiter hingegen ist vertraglich nur an seine Leiharbeitsfirma gebunden. Ihm stehen die werksspezifischen Vereinbarungen nicht zur Verfügung." Deshalb zahlen Leiharbeiter fürs Essen in der Kantine manchmal das Doppelte. Sie haben keinen Umkleideraum zur Verfügung und müssen spezielle Kleidung ohne Firmenaufdruck oder Namensschild tragen. So können sie gleich als Leiharbeiter identifiziert - und diskriminiert - werden.

Tagelöhner in der sozialen Marktwirtschaft.


Aber auch unter den Leiharbeitern gibt es Hierarchien - und zwar auf mehreren Ebenen. Da ist zum einen die Bezahlung. Leiharbeitern wird nämlich unterschiedlicher Lohn gezahlt. Der hängt einmal von der Leihfirma ab, die den Arbeiter schickt. Zusätzlich unterscheidet er sich danach, welcher Tariflohn gilt: derjenige der christlichen Gewerkschaft (in Breitscheidels Beispiel 5,20 Euro brutto nach Osttarif) oder der des DGB (6,42 Euro brutto nach Osttarif). Die Festangestellten verdienen für die gleiche Arbeit teilweise fast das Dreifache.
Zum anderen ist da die Dauer des Einsatzes. Auch hier gibt es klare Hierarchien: Da sind die "festen" Zeitarbeiter, die dauerhaft in der Firma arbeiten, an die sie ausgeliehen sind. Dann gibt es solche, die für eine gewisse Zeit in der Firma sind. Und es gibt die Leiharbeiter, die auf Abruf arbeiten. In einer Firma scheint das so weit zu gehen, dass einige Leiharbeiterinnen täglich zum Werk fahren und dort bis kurz nach Schichtbeginn auf einen eventuellen Arbeitseinsatz warten. Kommt der Einsatz nicht, war der Weg umsonst. Die verlorene Zeit und den Fahrschein bezahlt ihnen niemand. Breitscheidel schildert hier also Tagelöhnerverhältnisse. Was man sich beim Lesen unwillkürlich fragt: Ist das rechtlich korrekt oder verstoßen die Leiharbeitsfirmen mit diesem Verhalten gegen Gesetze? Leider geht Breitscheidel auf diese Fragen nicht ein.

Qualifiziert im Niedriglohnsektor.


Da das Geld, das Breitscheidel so verdient, nicht zum Leben reicht, landet er trotz Arbeit wieder bei Hartz IV - diesmal als "Aufstocker". "Durch die monatliche Aufstockung in Form von Steuergeldern ist die Allgemeinheit gleich mehrfach belastet", analysiert Breitscheidel die Folgen dieses Mechanismus: "In erster Linie zahlen wir aus den allgemeinen Steuerkassen einen Teil der Arbeitslöhne für die Industrieunternehmen ... Bei genauerer Betrachtung bezahlen wir jedoch doppelt und dreifach, denn niedrigere Löhne bedeuten gleichzeitig auch niedrigere Beiträge ins solidarische Sicherungssystem." Und damit Ausfälle für die gesetzliche Renten- und Krankenkasse. Die nächste Konsequenz: Altersarmut bei den Betroffenen, die somit wieder auf öffentliche Gelder angewiesen sein werden. Hier schließt sich der Kreis.
Breitscheidel ist immer dann sehr stark, wenn er von seinen persönlichen Erfahrungen berichtet: Wie sich sein Denken auf Überlebenskampf verengt, wie er die Scham überwindet und anfängt, Flaschen aus dem Müll zu kramen, wie ihn eine Krankheit vor ein schier unlösbares Problem stellt, weil er die Praxisgebühr nicht bezahlen kann. Auch die psychischen Folgen solcher Armutsverhältnisse schildert er plastisch: die innere Zitterpartie desjenigen, der dringend auf einen Anruf der Leihfirma wartet. Die Verzweiflung, wenn das Geld jeden Monat aufs Neue nicht reicht. Die Beschämung, die ein Antrag auf Aufstockung bedeutet. Die Resignation und das gebrochene Selbstbewusstsein derjenigen, deren Arbeitslosigkeit über Jahre hinweg nur gelegentlich von einem Billigjob unterbrochen wird. Die Angst vor finanziellen Kürzungen durch das JobCenter, die manche Menschen dazu treibt, alles mitzumachen - auch wenn die Arbeitsbedingungen unmenschlich sind. Gleichzeitig räumt er mit dem Vorurteil auf, dass nur Unqualifizierte und Angelernte im Niedriglohnsektor unterwegs sind: "Zwei von drei Beschäftigten in diesem Bereich haben eine berufliche Ausbildung oder gar ein abgeschlossenes Studium", schreibt er: "Im Niedriglohnsektor arbeiten vornehmlich Frauen und junge Menschen kurz nach deren Berufsausbildung." Und der Niedriglohnsektor breitet sich weiter aus.

Empörung ist keine Antwort.


Auch die Folgen, die die zunehmende Billigarbeit für ein beitragsfinanziertes Sozialmodell wie das deutsche hat, analysiert der Autor zutreffend - ohne allerdings die Frage zu stellen, ob dieses Finanzierungsmodell so noch zukunftsfähig ist. Was auch fehlt, ist der weitere Zusammenhang, in dem die Arbeitsmarktentwicklungen stehen. Die Globalisierung tritt zwar auf - aber nur in Form von Billiglohnkonkurrenz aus Osteuropa und Billigprodukten aus China. Der Übergang zur Wissensgesellschaft ist kein Thema. Das hat Folgen: Denn Breitscheidel erklärt die Agenda 2010 zur Wurzel allen Übels, ohne darauf einzugehen, worauf diese Reformen reagiert haben. So wird Breitscheidels Report zu einer Anklageschrift - gegen Clement, der an den Leiharbeitsgesetzen beteiligt war, gegen die Politik, die die Agenda beschlossen hat, gegen die Wirtschaft, die nur auf Profitmaximierung aus ist und sich nicht für das Schicksal der Einzelnen interessiert. Breitscheidel operiert hier auf der moralisch-emotionalen Ebene - und auf dieser Ebene ist die Antwort Empörung. Diese aber führt nicht weiter.

Annegret Nill ist Journalistin in Berlin und schreibt als freie Autorin für changeX.

Markus Breitscheidel:
Arm durch Arbeit.
Ein Undercover-Bericht.

Econ Verlag, Berlin 2008,
219 Seiten, 18 Euro.
ISBN 978-3-430-30027-8
www.econ-verlag.de

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: Arm durch Arbeit. Ein Undercover-Bericht. Econ Verlag, Berlin 2008, 219 Seiten, ISBN 978-3-430-30027-8

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Annegret Nill
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Annegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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