Sein Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil schildert Breitscheidel seine Erfahrungen mit dem JobCenter und einem Leben unter den Bedingungen von Hartz IV. Im zweiten Teil berichtet er, was er als Leiharbeiter mit verschiedenen Zeitarbeitsfirmen und bei Firmen wie Opel oder Bayer Schering erlebt hat. Nicht zuletzt lässt er sich vom JobCenter zur Arbeit als Erntehelfer verdonnern, was Thema des dritten Teils ist. Doch das Herzstück des Reports ist der Report über die Leiharbeit.
Zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern verläuft ein tiefer Bruch, diagnostiziert Breitscheidel. Firmeninterne Arbeiter kommen in den Genuss von festen Tariflöhnen, Vereinbarungen und Zulagen: "Der Leiharbeiter hingegen ist vertraglich nur an seine Leiharbeitsfirma gebunden. Ihm stehen die werksspezifischen Vereinbarungen nicht zur Verfügung." Deshalb zahlen Leiharbeiter fürs Essen in der Kantine manchmal das Doppelte. Sie haben keinen Umkleideraum zur Verfügung und müssen spezielle Kleidung ohne Firmenaufdruck oder Namensschild tragen. So können sie gleich als Leiharbeiter identifiziert - und diskriminiert - werden.
Tagelöhner in der sozialen Marktwirtschaft.
Aber auch unter den Leiharbeitern
gibt es Hierarchien - und zwar auf mehreren Ebenen. Da ist zum
einen die Bezahlung. Leiharbeitern wird nämlich unterschiedlicher
Lohn gezahlt. Der hängt einmal von der Leihfirma ab, die den
Arbeiter schickt. Zusätzlich unterscheidet er sich danach,
welcher Tariflohn gilt: derjenige der christlichen Gewerkschaft
(in Breitscheidels Beispiel 5,20 Euro brutto nach Osttarif) oder
der des DGB (6,42 Euro brutto nach Osttarif). Die
Festangestellten verdienen für die gleiche Arbeit teilweise fast
das Dreifache.
Zum anderen ist da die Dauer des Einsatzes. Auch hier gibt
es klare Hierarchien: Da sind die "festen" Zeitarbeiter, die
dauerhaft in der Firma arbeiten, an die sie ausgeliehen sind.
Dann gibt es solche, die für eine gewisse Zeit in der Firma sind.
Und es gibt die Leiharbeiter, die auf Abruf arbeiten. In einer
Firma scheint das so weit zu gehen, dass einige Leiharbeiterinnen
täglich zum Werk fahren und dort bis kurz nach Schichtbeginn auf
einen eventuellen Arbeitseinsatz warten. Kommt der Einsatz nicht,
war der Weg umsonst. Die verlorene Zeit und den Fahrschein
bezahlt ihnen niemand. Breitscheidel schildert hier also
Tagelöhnerverhältnisse. Was man sich beim Lesen unwillkürlich
fragt: Ist das rechtlich korrekt oder verstoßen die
Leiharbeitsfirmen mit diesem Verhalten gegen Gesetze? Leider geht
Breitscheidel auf diese Fragen nicht ein.
Qualifiziert im Niedriglohnsektor.
Da das Geld, das Breitscheidel so
verdient, nicht zum Leben reicht, landet er trotz Arbeit wieder
bei Hartz IV - diesmal als "Aufstocker". "Durch die monatliche
Aufstockung in Form von Steuergeldern ist die Allgemeinheit
gleich mehrfach belastet", analysiert Breitscheidel die Folgen
dieses Mechanismus: "In erster Linie zahlen wir aus den
allgemeinen Steuerkassen einen Teil der Arbeitslöhne für die
Industrieunternehmen ... Bei genauerer Betrachtung bezahlen wir
jedoch doppelt und dreifach, denn niedrigere Löhne bedeuten
gleichzeitig auch niedrigere Beiträge ins solidarische
Sicherungssystem." Und damit Ausfälle für die gesetzliche Renten-
und Krankenkasse. Die nächste Konsequenz: Altersarmut bei den
Betroffenen, die somit wieder auf öffentliche Gelder angewiesen
sein werden. Hier schließt sich der Kreis.
Breitscheidel ist immer dann sehr stark, wenn er von seinen
persönlichen Erfahrungen berichtet: Wie sich sein Denken auf
Überlebenskampf verengt, wie er die Scham überwindet und anfängt,
Flaschen aus dem Müll zu kramen, wie ihn eine Krankheit vor ein
schier unlösbares Problem stellt, weil er die Praxisgebühr nicht
bezahlen kann. Auch die psychischen Folgen solcher
Armutsverhältnisse schildert er plastisch: die innere
Zitterpartie desjenigen, der dringend auf einen Anruf der
Leihfirma wartet. Die Verzweiflung, wenn das Geld jeden Monat
aufs Neue nicht reicht. Die Beschämung, die ein Antrag auf
Aufstockung bedeutet. Die Resignation und das gebrochene
Selbstbewusstsein derjenigen, deren Arbeitslosigkeit über Jahre
hinweg nur gelegentlich von einem Billigjob unterbrochen wird.
Die Angst vor finanziellen Kürzungen durch das JobCenter, die
manche Menschen dazu treibt, alles mitzumachen - auch wenn die
Arbeitsbedingungen unmenschlich sind. Gleichzeitig räumt er mit
dem Vorurteil auf, dass nur Unqualifizierte und Angelernte im
Niedriglohnsektor unterwegs sind: "Zwei von drei Beschäftigten in
diesem Bereich haben eine berufliche Ausbildung oder gar ein
abgeschlossenes Studium", schreibt er: "Im Niedriglohnsektor
arbeiten vornehmlich Frauen und junge Menschen kurz nach deren
Berufsausbildung." Und der Niedriglohnsektor breitet sich weiter
aus.
Empörung ist keine Antwort.
Auch die Folgen, die die zunehmende Billigarbeit für ein beitragsfinanziertes Sozialmodell wie das deutsche hat, analysiert der Autor zutreffend - ohne allerdings die Frage zu stellen, ob dieses Finanzierungsmodell so noch zukunftsfähig ist. Was auch fehlt, ist der weitere Zusammenhang, in dem die Arbeitsmarktentwicklungen stehen. Die Globalisierung tritt zwar auf - aber nur in Form von Billiglohnkonkurrenz aus Osteuropa und Billigprodukten aus China. Der Übergang zur Wissensgesellschaft ist kein Thema. Das hat Folgen: Denn Breitscheidel erklärt die Agenda 2010 zur Wurzel allen Übels, ohne darauf einzugehen, worauf diese Reformen reagiert haben. So wird Breitscheidels Report zu einer Anklageschrift - gegen Clement, der an den Leiharbeitsgesetzen beteiligt war, gegen die Politik, die die Agenda beschlossen hat, gegen die Wirtschaft, die nur auf Profitmaximierung aus ist und sich nicht für das Schicksal der Einzelnen interessiert. Breitscheidel operiert hier auf der moralisch-emotionalen Ebene - und auf dieser Ebene ist die Antwort Empörung. Diese aber führt nicht weiter.
Annegret Nill ist Journalistin in Berlin und schreibt als freie Autorin für changeX.
Markus Breitscheidel:
Arm durch Arbeit.
Ein Undercover-Bericht.
Econ Verlag, Berlin 2008,
219 Seiten, 18 Euro.
ISBN 978-3-430-30027-8
www.econ-verlag.de
© changeX Partnerforum [21.11.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 21.11.2008. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Econ Verlag
Weitere Artikel dieses Partners
Video: Patrick Cowden zu seinem Buch Mein Boss, die Memme zum Video
Schlüsselfaktor Sozialkompetenz - das neue Buch von Eric Adler zur Rezension
36 Formeln, die Ihr Leben vereinfachen - das neue Buch von Chip Conley zur Rezension
Zum Buch
Markus Breitscheidel: Arm durch Arbeit. Ein Undercover-Bericht. Econ Verlag, Berlin 2008, 219 Seiten, ISBN 978-3-430-30027-8
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autorin
Annegret NillAnnegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.