Maxikulti von Joana Breidenbach und Pál Nyíri.
Kulturen, so ihr Credo, sind keine Container, in denen Werte und Normen seit Urzeiten verankert sind. Im Gegenteil, sie sind offen: "Es handelt sich bei ihnen oft um Erfindungen neueren Datums, die im kontinuierlichen (ungleichen) Wechselspiel mit anderen Kulturen entstanden sind ... Austausch und Vermischung sind für den Fortbestand von Gesellschaften unverzichtbar." Die Autoren kritisieren aufs Heftigste den vorherrschenden Kulturdeterminismus, der etwa die Kernwerte einer Gesellschaft fest mit den nationalen Grenzen verknüpft. Was natürlich höchst fragwürdig ist. Denn wer will als Deutscher schon in einen Topf mit einem ostdeutschen Neonazi gesteckt werden? Nur weil er dieselbe Nationalität hat.
Außerdem steckt der Kulturbegriff noch in einem anderen Dilemma. "Kulturen treffen nicht aufeinander, sie kämpfen nicht miteinander und sie diskutieren auch nicht miteinander." Alles das machen einzelne Menschen, die "miteinander Geschäfte machen, verhandeln, Anweisungen erteilen und entgegennehmen". Kultur ist folglich nur die Matrix, vor der wir handeln und uns bewegen. Sie verändert sich ständig und ist keineswegs statisch.
Multi-Individualismus.
In Deutschland ist jedoch das
kulturelle Containerdenken ziemlich verbreitet. Hier die
Deutschen, dort die Türken oder sonst wer. Seltsam wird das Ganze
meistens dann, wenn man fremde Ausdrucksformen durch seine eigene
kulturelle Brille bewerten will. Man bewertet dann oft das
Fremde, ohne es näher zu kennen oder gar zu verstehen. In
Großbritannien hat man beispielsweise festgestellt, dass für
viele muslimische Schülerinnen und Studentinnen Kopftücher eher
ein Zeichen urbanen Schicks oder sogar eine Absage an westliche
Schönheitsstandards sind. "Eine weitere Gruppe trägt Kopftücher
wiederum als explizites politisches Statement gegen die
grassierende und aggressive Anti-Islam-Politik im In- und Ausland
sowie den Druck, sich zu assimilieren." Das Kopftuch ist für
diese Frauen eher ein unabdingbarer Bestandteil ihrer
persönlichen Identität.
Diese Individualisierung dominiert die moderne Welt. Ein
Beispiel: Weltweit gibt es 1,2 Milliarden Muslime. Sie gehören zu
unterschiedlichen Nationen, sind Familienväter, Teenager, arm und
reich, abstinent und Alkoholiker. Wer will da noch von einer
geschlossenen Gruppe sprechen? Im Gegenteil: "Kulturen gehen
jeden Tag zahllose Vermischungen ein." Aus dem Kontakt entstehen
neue Werte, Technologien und Lebensstile.
Interessant zu beobachten, so die Autoren, ist der
weltweite Umgang mit dieser vielkulturellen Wirklichkeit. Die
einen, wie in Kanada oder Australien, haben eine Politik des
Multikulturalismus etabliert, "die Minderheiten neben gleichen
Bürgerrechten auch das Recht auf kulturelle Unterschiedlichkeit
eingeräumt hat". Die anderen, wie in Großbritannien, definieren
sich als Konglomerat vieler unterschiedlicher
Kulturgemeinschaften. Diese werden in ihrem ethnischen
Minderheitenstatus anerkannt. Übrigens findet man diesen
Multikulturalismus nicht nur in der europäischen
Gegenwartsmoderne. "Vorkoloniale afrikanische Gesellschaften
waren multi-ethnisch und beherbergten eine große Vielfalt
unterschiedlicher Lebensstile."
Ein gutes, richtiges und schönes Leben führen.
Wo aber endet die multikulturelle
Toleranz? Offenbar dann, wenn es schwierig im Umgang wird. "Nur
die einfach zu konsumierende und wirtschaftlich profitable
Vielfalt - Sushi, Bollywood oder Salsa - wird als
gesellschaftliche Bereicherung angesehen, während alle Werte und
Verhaltensformen, die Ausdruck grundsätzlicherer kultureller
Unterschiede sein könnten - Kopftücher, Akzentuierung von
Geschlechterunterschieden, arrangierte Heiraten -, argwöhnisch
abgewertet werden."
Der Multikulturalismus hat dabei die Tendenz, "Menschen in
fremdbestimmte Kategorien zu pressen". Beispiel Ethno-Marketing.
Produkte werden ethnisch maßgeschneidert - die Palette reicht von
halal Nahrungsmitteln für Muslime bis hin zu Kosmetika für
schwarze Amerikaner. Das klingt zunächst gut, doch auch in diesem
Fall werden Menschen nur verschubladisiert. In Zielgruppen
nämlich. Die Tatsache, dass die meisten Menschen unterschiedliche
Lebensstile miteinander verbinden, findet in dieser Denkfigur
nicht mehr statt. Vielmehr dominiert ein marketingkonformes
Containerdenken, das die Menschen auf einfache Parameter
reduziert.
Was lernen wir daraus? Es ist künftig ein Bewusstsein für
die Verschiedenartigkeit der Menschen notwendig, um die Welt
besser zu verstehen. Kein Mensch ist, so sehr er es auch will,
die Mitte der Welt. Wir stehen immer am Rand und sind in diesem
Sinne immer irgendwo die fremde Minderheit. Jeder, so das
Ergebnis der Autoren, sollte deshalb das Recht besitzen, sein
Leben nach der eigenen Konfiguration und Programmierung zu
führen. Egal, wie schwer der jeweilige kulturelle Überbau auf ihm
lastet. Deshalb ist es so überaus wichtig, einander mit Demut zu
begegnen. Das heißt: Neugierig sein, Fragen stellen und
Ambiguität aushalten. Diese ethnografische Vorgehensweise ist der
Beginn jeder Form des Verstehens.
Schluss also mit den Großeinteilungen in Nationen, Rassen,
Religionen und Ethnien. Maxikulti ist vielmehr die maximale
Freiheit des Einzelnen, sein Leben so zu führen, wie er will. Mit
kulturellen Einflüssen aus dem Schatzkästlein weltweiter
Lebensstile und -entwürfe. Entscheidend ist dabei, ob man es aus
freien Stücken tun kann oder ob es einem aufgezwungen wird.
"Kulturelle Vielfalt ist kein Wert an sich, sondern Mittel zum
Zweck: um einer möglichst großen Gruppe von Menschen möglichst
frei zu überlassen, wie sie ein Leben führen könnten, das ihnen
gut, richtig und schön erscheint." Diesen emanzipatorischen
Charakter von Diversity in vielerlei Facetten herausgearbeitet zu
haben, ist das außerordentliche Verdienst dieses Buches.
Michael Pepes ist freier Autor bei changeX.
Joana Breidenbach / Pál Nyíri:
Maxikulti.
Der Kampf der Kulturen ist das Problem - zeigt die
Wirtschaft uns die Lösung?
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008,
192 Seiten, 19.90 Euro.
ISBN 978-3-593-38618-8
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Zum Buch
Joana Breidenbach / Pál Nyíri: Maxikulti. . Der Kampf der Kulturen ist das Problem - zeigt die Wirtschaft uns die Lösung? . Campus Verlag, Frankfurt am Main 1900, 192 Seiten, ISBN 978-3-593-38618-8
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