Das ist eine These von Harald Müller, der 1998 mit seinem Buch Das Zusammenleben der Kulturen - Ein Gegenentwurf zu Huntington bekannt wurde. Darin wandte er sich gegen ein Schlagwort des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington. Der hatte zwei Jahre zuvor mit der These vom "Clash of Civilizations", dem "Kampf der Kulturen", für Aufsehen gesorgt.
Heute gehört Müller zu den führenden deutschen Politikwissenschaftlern und beschäftigt sich intensiv mit globalen Fragen. In seinem neuen Buch behandelt er das Thema, wie ein multikulturelles Staatswesen den Weg zur Großmacht beschreitet. Der Titel lautet: Weltmacht Indien - Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert. Müller wurde in Frankfurt am Main geboren. Der 58-Jährige studierte dort neben Politikwissenschaft auch Germanistik, Soziologie und Philosophie. Nach einer Lehrtätigkeit in Darmstadt kam er 1999 zurück nach Frankfurt. Dort hat er seitdem an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität einen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Er ist ein zupackender, selbstbewusster Wissenschaftler, der prägnant definieren kann. Zum Beispiel den Begriff Kultur.
Kultur ist die für den Menschen
spezifische Art, mit den Herausforderungen des Lebens
umzugehen. Tiere haben dafür den Instinkt, wir brauchen
Wissen und die Art, das Wissen zu ordnen. Und diese Ordnung
nennen wir Kultur.
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Das ist ein Verständnis von
Kultur, das sich im deutschen Bildungsbürgertum seit dem 18.
Jahrhundert herausgebildet hat. Das deutsche Bürgertum war
dadurch gekennzeichnet, dass es bis tief in das 19.
Jahrhundert politisch einflusslos war. Im Unterschied zu
seinen Klassengenossen in Frankreich oder Großbritannien,
Schweden oder Holland. Man hat sich in Deutschland auf die
Bildung kapriziert und hat sie zum einzigen Teil von Kultur
hochgejubelt, während in den moderneren europäischen Staaten
der gesamte Bereich der Lebensbewältigung und deren
Sinngebung, das heißt eben auch Industrie und Wirtschaft
unter den Kultur- beziehungsweise unter den
Zivilisationsbegriff fiel. Dieser deutsche Sonderweg ist
mittlerweile eingeebnet, denn auch Kulturministerien kümmern
sich heute um mehr als Goethe.
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Da müssen wir weit zurückgehen,
bis zu Ötzi und noch weiter. Menschen leben zusammen und sie
sind genötigt, eben weil sie anders als die Tiere nicht
instinktabhängig agieren können, das, was sie lernen,
weiterzugeben. Und die Art und Weise, wie das weitergegeben
wird, nennen die Kulturanthropologen und Kulturhistoriker
Meme, in Anlehnung an den Begriff der Gene. Sie setzen sich
zusammen zu Beständen von geteiltem Wissen, das von
Generation zu Generation geht. Es ist das Instrumentarium,
mit dem es uns als Gattung, Familie, Gruppe, Ethnie, als Klan
und als Volk gelingt, in einer herausfordernden Welt zu
überleben. Kultur wächst nicht organisch, aber sie wächst
historisch. Sie springt manchmal, sie erlebt ihre
Katastrophen, aber auch im Untergang geht es meistens ein
Stückchen weiter. Die Kultur der alten Griechen, der
Hellenismus, ist untergegangen, aber es sind eben
Spurenelemente davon im Christentum aufgegangen. Ein massiver
Teil ist durch den fortgeschrittenen Islam, vor allen Dingen
in den spanischen Emiraten weitergetragen worden und in die
europäische Kultur zurückgeflossen, ein Teil ist nach Byzanz
gegangen und dann nach Russland gewandert. So ist der
Hellenismus als solcher gestorben, aber er hat Erben
hinterlassen, eben Meme.
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Es gilt beides. Wenn man eine
Analogie aus der Physik nehmen will, ist es wahrscheinlich
das der Osmose. Man hat ein Gefäß, das leicht porös und in
dem eine Flüssigkeit ist, und das ganze Gefäß steht in einer
anderen Flüssigkeit. Durch die Poren tauschen sich die
Flüssigkeiten aus. Die Wand dieses Gefäßes symbolisiert dabei
die Abwehr des Fremden und die Poren symbolisieren die
Neugier. Auf Dauer bedeutet das, dass sich die Flüssigkeiten
innen und außen angleichen. Aber das dauert sehr lange, und
es entstehen zwischenzeitlich alle möglichen unvorhersehbaren
Mischungen. Es entsteht ständig Neues. Im Verlauf der
Jahrhunderte schleifen die Unterschiede sich ab. Wir haben
heute eine Welt, in der mehr als je zuvor Austausch zwischen
den Kulturen möglich ist, etwa durch die enormen Fortschritte
in der Kommunikationstechnik und durch Migration, Tourismus
und die globalisierte Weltwirtschaft. Trotzdem behalten die
Kulturen ihre Widerständigkeiten. Das heißt, die Gefäße sind
noch da, aber die Poren sind viel größer geworden.
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Ich bin nicht so sicher, dass
der Fremdenhass anthropologisch tief in uns wurzelt. Wenn ich
mir anschaue, mit welcher Neugier kleine Kinder, die noch am
wenigsten kulturell geformt sind, dem Fremden entgegengehen,
solange man sie nicht mit Schreckgespenstern vom schwarzen
Mann und Ähnlichem davon abhält, dann frage ich mich, ob
Fremdenangst oder Fremdenhass wirklich anthropologische
Konstanten sind. Oder nicht ein Kunstprodukt, das unsere
Kulturen auch aus Gründen der Selbstverteidigung produziert
haben und das von politischen Strategen sehr gezielt und zum
eigenen Nutzen in Anschlag gebracht wird. Ich bin da ein
bisschen optimistischer: Die Neugier auf das Fremde ist meist
genauso stark wie die Angst davor. Das kann auch gar nicht
anders sein, weil sonst die Innovationsfähigkeit und die
Entwicklungsfähigkeit der Menschen allzu begrenzt wären. Und
das, was die Menschheit an Innovation, auch an Zugehen auf
das Fremde, an Erforschung des Fremden, an Zulassung des
Fremden im Laufe ihrer Geschichte hinter sich gebracht hat,
spricht eigentlich dafür, dass wir beide Anlagen haben. Dass
offensichtlich einige Kulturen die Fremdenangst vor die
Fremdenneugier stellen, ist eine Tatsache, über die wir nicht
hinwegsehen können und die uns heute im Zeitalter der
Globalisierung ganz besondere Probleme macht. Aber wir
sollten nicht den Fehler begehen, diese kulturelle
Entwicklung mit anthropologischen Konstanten zu
verwechseln.
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Klar, wenn das Fremde mit
Schwertern und Äxten oder im Fall der Mongolen mit
Bogenschützen auf kleinen, flinken Pferden über uns herfällt,
dann hat es keinen Sinn, besonders freundlich zu sein. Dann
geht man in die Festung und zieht sich die Rüstungen über und
freut sich, wenn irgendjemand, in dem Fall übrigens die
Polen, die Mongolen rechtzeitig aufhält. Oder wenn zur
rechten Zeit ein Khan stirbt und das Hauptheer sich
zurückzieht. Oder der Eroberungszug der Türken, die bis vor
Wien kamen. Das sind Schreckgespenster unserer europäischen
Geschichte, und in jenen Zeiten war es vollkommen richtig,
sich höchst robust gegen das Fremde zu erwehren. Aber über
diese Lage reden wir heute im Großen und Ganzen nicht, wenn
es um die Problematik des Fremden geht.
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Im Ersten Weltkrieg griff die britische Propaganda das auf und zeichnete ein Bild von Deutschland als dem angreifenden Hunnenvolk aus dem Osten. Die Deutschen wurden zu "the Huns", die Hunnen. Es gab Länder und Völker, die allein auf Krieg, auf totale Unterwerfung oder Vernichtung anderer aufbauten. Aber war das die Regel? Und waren diese Systeme auf Dauer erfolgreich?
Die Mongolenherrschaft ist
vielleicht das erfolgreichste Beispiel einer fast
ausschließlich militärisch begründeten Kultur. Enorm in ihrer
Expansion, enorm in ihrem militärischen Erfolg, imponierend
durch ihr Kommunikationswesen. Aber sie war nicht in der
Lage, das Überdehnungsproblem zu lösen. Deswegen zerfiel das
Reich relativ schnell in Einzelteile, innerhalb eines
Jahrhunderts. Sie symbolisierten zwar noch mongolische
Herrschaft, bildeten aber kein einheitliches Reich mehr. Auch
das Hitler-Regime war so kurzlebig und auch keine eigene
Kultur, eher eine unkulturelle Besonderheit. Sonst fällt mir
an reinen Militärherrschaften nicht sehr viel ein. Ein
bisschen mehr gehört schon dazu. Man muss in der Lage sein,
die Wirtschaft eines Reiches zu organisieren, man muss eine
Ideologie, die wirklich auch nennenswerte Teile von Elite und
Masse zusammenbindet, erfinden und kultivieren. Das sind
größere Leistungen, als sie das Militär alleine packt, und
deswegen sind reine Militärherrschaften im Allgemeinen recht
kurzlebig. Es bedarf der Entfaltung auch des Zivilen, einer
freien Bauernschaft, eines ausgeklügelten Pacht- und
Bewässerungssystems, einer Kaufmannschaft, einer klugen
merkantilistischen Regierung. Zwar darf der militärische
Wettbewerb nicht unterschätzt werden bei der Evolution von
Politik, Gesellschaft und Kultur, besonders in Europa
zwischen 1200 und 2000. Aber es kamen andere Faktoren hinzu.
Zum Beispiel dieses eigentümliche Gleichgewicht zwischen
geistlicher und weltlicher Macht, das Europa gekennzeichnet
hat. Außerdem gab es in den meisten europäischen Ländern
keine völlige Alleinherrschaft, der Monarch musste sich immer
mit anderen Kräften arrangieren. So entstanden relativ
lebendige politische Austauschsysteme, eine teilunabhängige
Justiz und ähnliche Elemente von moderner Staatlichkeit, die
sich dann weiterentwickeln konnten. Fazit: Krieg und
militärischer Wettbewerb waren ein wichtiges Element dieses
sehr facettenreichen Gesamten, aber nicht das allein
entscheidende.
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Der Islam hat in Bezug auf seine
intellektuelle Entwicklung im Grunde eine tragische
Geschichte. Denn er war nach der enormen Expansion der ersten
zweieinhalb, drei Jahrhunderte das offenste und toleranteste
und auch der Wissenschaft zugewandteste Kultursystem der
Welt. Der Islam hat das unsterbliche Verdienst, die
wissenschaftlichen Errungenschaften des Hellenismus für den
Westen bewahrt zu haben. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als in
unserer eigenen Kulturgeschichte die Phase herrschte, die man
zu Recht als das finstere Mittelalter bezeichnet, in der die
geistige Freiheit totgeschlagen wurde. In dieser Zeit hat der
Islam etwa in Bagdad und in den spanischen Emiraten das
Geistige und die Wissenschaft gepflegt, hervorragende
Lehranstalten unterhalten und das für uns bewahrt. Unsere
Kultur ist rechtzeitig aufgewacht, in der Spätscholastik, um
das aufnehmen zu können, während zur gleichen Zeit die
tragische Wende der islamischen Geschichte geschah: die
fatale Allianz zwischen weltlicher und geistlicher Macht.
Diese Allianz ist absolut tödlich, weil in einer solchen
Symbiose keine Konkurrenz mehr herrscht, sondern die totale
Einheit. Alles, was nach vorne drängt und diese Einheit von
Macht und Indoktrination aufsprengen könnte, wird
abgeschottet und abgeriegelt. Daraus hat sich der Islam
vielerorts nicht mehr befreien können. Wir sehen natürlich
Lichtzeichen, etwa in der Entwicklung der Türkei, wir sehen
das gute Regieren in Malaysia, wir sehen eine relativ offene
Gesellschaft in Indonesien, ein erstes Aufflackern von
Reformen und Freigeist in den kleineren Emiraten, im Irak und
in einem Land wie Marokko. Man hofft, dass es jetzt unter dem
Druck des westlichen Wettbewerbs in eine moderne Richtung
geht. Aber es ist ein langer Weg - nach acht Jahrhunderten
der Abstumpfung gegen freies Denken.
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Das Osmanische Reich ließ andere
Religionen leben. Die waren gemäß den Vorschriften der
Scharia kopftributpflichtig, zahlten also eine Sondersteuer,
ihre Angehörigen dienten im Allgemeinen nicht im Militär, es
sei denn, sie wurden frühzeitig konvertiert wie die
Mamelucken. Es war aber durchaus möglich für Angehörige
anderer Religionen, zu hohen politischen Posten aufzusteigen
und dort erheblichen Einfluss auszuüben. Ein
Regierungssystem, das gut auf die Multikulturalität dieses
großen Imperiums abgestellt war. Aber auch hier gab es diese
Symbiose von Geistlichkeit und weltlicher Macht, insofern nur
begrenzte Toleranz und ein großes Hindernis für eine
Entwicklung in die Moderne hinein.
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Der Völkermord, der im Ersten
Weltkrieg und zu dessen Ende an den Armeniern begangen wurde,
war eine gigantische Opferschlachterei zugunsten der
türkischen Nation, zugunsten der Vorstellung von Kemal
Atatürk, dass man einen ethnisch gleichgeschalteten,
türkischen Einheitsstaat nach französischem oder deutschem
Muster braucht. Darin hatte die Multiethnizität, die das
geografische Gebilde kennzeichnete, keinen Platz. Eine in
meinen Augen extrem verhängnisvolle Fehlentwicklung, die bis
heute nachschwingt, mehr was die Kurden als die Armenier
angeht, die heute in der Türkei allein zahlenmäßig nur noch
eine marginale Rolle spielen. Aber die Ideologie, es muss
alles über den einheitlichen national-ethnischen Kamm
geschert werden, sitzt noch fest und hindert auch die moderne
Türkei daran, das Kurdenproblem in einer annehmbaren, das
heißt letztlich föderalen Weise zu lösen.
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Was haben Islamisten bislang
geleistet? Sie haben ihre eigenen Länder miserabel regiert.
In Afghanistan, im Sudan, in Saudi-Arabien, das zwar vom
enormen Ölreichtum profitiert, sich aber nicht über einen
Rentenstaat hinausentwickelt. Der Iran ist mit seinem
islamistischen System wirtschaftlich abgestürzt; nicht nur
wegen der Sanktionen, denen das Land ausgesetzt ist, sondern
einfach weil die Machthaber ideologisch und nicht vernünftig
reagieren. Man wird sehen, wie die Hamas in Gaza ihre Sache
macht, sie wird wenig Chancen haben, aber auch da sind die
Ansätze nicht vielversprechend. Die Islamisten entzaubern
sich selbst in dem Maße, in dem sie die Macht übernehmen. Die
andere Seite des Islamismus ist die brutale Gewalt, wofür
al-Qaida und eine Reihe von kleineren Gruppierungen stehen,
von denen manche mit al-Qaida verbündet sind. Das ist pure
Destruktion, ein völliger Irrläufer. Das ist deshalb
tragisch, weil viel Energie in der Gewalt extrem autoritärer
und totalitärer Regierungsformen verpufft. Energien, die der
Welt der Muslime zum Aufbau und zur Entwicklung fehlen. Kluge
Muslime erkennen das, das sieht man am
Arab Human Development Report, drei Bände der
Vereinten Nationen, von arabischen Gelehrten geschrieben,
eine beißende Kritik, der absolut nichts hinzuzufügen
ist.
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Dort war man ja so von sich
überzeugt und gegen das Eindringen des Fremden eingestellt,
dass man im 15. Jahrhundert die schicksalhafte Entscheidung
traf, die Hochseeschifffahrt einzustellen. Zu einem
Zeitpunkt, als die chinesische Schifffahrt der europäischen
ebenbürtig und das chinesische Militär, zumindest in seiner
technologischen Entwicklung, dem europäischen sogar überlegen
war.
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Wenn eine Kultur wachsen will,
muss sie im evolutionären Sinne die besten Überlebenschancen
zusammenbringen, und das heißt, von den anderen lernen. Das,
was man abschätzig als Abkupfern bezeichnet, würde ich als
die enorme Fähigkeit des sozialen, kulturellen und
politischen Lernens bezeichnen, das ein Grundbestand
kultureller Evolution ist. Eine Kultur, die glaubt, ohne das
auskommen zu können, fällt zurück. So wie die Chinesen nach
dem 15. Jahrhundert derart zurückgefallen sind, dass sie
mental heute noch darunter leiden und erst jetzt, nach langen
Jahrhunderten, wieder dabei sind, per Aufschwung zur alten
Spitzenstellung zurückzukehren. Das ist eine Folge des
Sichabschottens. Andere Kulturen, die Abschottungstendenzen
gezeigt haben, etwa die spanische Nach-Reconquista, die
Sowjetunion oder am krassesten das sich selbst isolierende
Nordkorea - all diese Kulturen fallen hoffnungslos zurück.
Weil der ständige, lebendige Austausch, das frische Blut, das
in Form fremder Meme in das eigene kulturelle Repertoire
einfließt, unabdingbar ist für die eigene
Weiterentwicklung.
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China hat den Übergang aus der
politischen Vormoderne in die politische Moderne noch nicht
gemeistert. Das steht bevor und das bringt Verwerfungen mit
sich. Wenn China das meistert und wenn Indien in seiner
Entwicklung so weitermacht, dann werden das auch auf
geistigem und wissenschaftlichem Gebiet schon in einer
Generation ernsthafte Konkurrenten für die USA sein. China
ist heute schon Weltspitze, was seine Softwareingenieure und
deren Ausbildung angeht. Die indischen Universitäten werben
in Afrika und Südostasien mit offenen Messen um Studenten.
Für die Vereinigten Staaten wäre es vermutlich tödlich zu
glauben, es würde immer so weitergehen wie bisher.
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Eine Kultur, die zugleich
umfangreich und inklusiv ist, also alle Facetten des
gesellschaftlichen Lebens reflektiert und zugleich offen nach
außen ist, dürfte die beste Voraussetzung der kollektiven
Daseinsbewältigung sein. Damals wie heute. Und wenn man sich
die erfolgreichsten und langlebigsten Kulturen der
Weltgeschichte anschaut, dann sieht man diese Elemente
auch.
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Über das Römische Reich kann man
fast ironisch sagen, dass es von zumindest einer eroberten
Kultur seinerseits erobert wurde, nämlich von der
griechischen. Rom war der große Verarbeiter und
Weitertransporteur des Hellenismus. Von Elementen
hellenistischer Philosophie, Lebensart und Staatsdenken. Rom
hat das weitergetragen und in typisch römischer Weise
verbeamtet, systematisiert und vereinfacht. Rom war stärker
als viele andere große Imperien in der Lage, aufzunehmen und
zu lernen, es war wie ein großer Bauch, der kulturelle
Einflüsse verdauen konnte. Das war seine größte Stärke.
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Genialerweise erkannte
Konstantin, dass diese neue Religion, attraktiv für Römer und
vor allem auch nicht römische Angehörige des Reiches, eine
friedensstiftende Wirkung in dem Moment hatte, wo sie
Staatsreligion wurde. Konstantin hatte begriffen, dass eine
stramme Kirchenorganisation ein hervorragendes
Herrschaftsmittel war. Damit konnte er ein zerfallendes Reich
noch eine Weile zusammenhalten. Man kann die
Organisationskraft der Kirche und was sie als
Staatskirchentum für den römischen Staat bedeutete mit der
Stählung der Kommunistischen Partei Russlands im Untergrund
vergleichen, wodurch sie später zum Herrschaftsmittel der
Sowjetunion wurde.
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Preußen war Militärmacht, bevor
es Industrie- und Wissenschaftsmacht wurde. Seine großen
Zeiten hatte es Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts.
Da war Preußen kulturelles Zentrum. In einer Zeit, als das
Land militärisch relativ schwach war. Die zweite Phase, die
ich hochinteressant finde, ist das Ende des 19. Jahrhunderts,
die letzten 30 Jahre nach Gründung des Deutschen Reiches, in
einer Zeit, in der man eigentlich keine Feinde hatte. Die
friedlichste Phase seit dem 30-jährigen Krieg. Damals hat
Preußen seine Stellung als die intellektuelle, industrielle
und wissenschaftliche Macht Nummer eins in der Welt errungen.
Frei von militärischen Herausforderungen. Der Krieg ist eben
nicht der Vater aller Dinge. In dem Maße, wie sich Preußen
und Deutschland militarisierten, begann der Niedergang.
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Preußen war ein autoritärer
Staat von Anfang bis Ende, aber, was die Religionen anging,
relativ tolerant. Es war protestantisch dominiert, aber
Katholiken konnten dort ebenso leben. Preußen bot Juden,
Hugenotten, das heißt fremdländischen Protestanten mit einem
sehr eigenwilligen Freiheits- und Selbstbehauptungsdrang,
eine Heimat, als sie anderswo vertrieben wurden. Auch dadurch
wurde das Land groß. Die Immigranten spielten im staatlichen,
wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leben eine
hervorragende Rolle. Es war die preußische und später
deutsche Rechtskultur, die diesen Staat berechenbar machte.
Und Berechenbarkeit ist wichtig für die wirtschaftliche
Entwicklung und Wissenschaft, die sich entfalten will.
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Das Fremde, das uns im Moment
bedrängt, sind das Flüchtlingswesen und die Frage der
Zuwanderung. Diesem Phänomen kann man mit unterschiedlichen
Argumenten begegnen. Denken wir an den Mangel an
Facharbeitskräften und unser Rentensystem, dann müssen wir
uns Zuwanderung sehnlichst wünschen. Denken wir an die
Vorurteile im ländlichen und kleinstädtischen Raum, dann
müssen wir uns gegen Fremde möglichst abschotten. Denken wir
an die Kosten, dann kalkulieren wir vielleicht fifty-fifty.
Am Ende wird die kontrollierte Zuwanderung stehen, wie sie
klassische Einwanderungsländer teilweise seit 150 Jahren
praktizieren. Treiber dafür wird unsere Wirtschaft sein. Wir
setzen als Einwanderungsland den Rechtsrahmen, in dem sich
das Fremde bei uns entfalten darf, dafür steht unser
Grundgesetz.
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Huntington definierte einen Kulturkampf, in dem große Kulturkreise in Konkurrenz zueinander treten. Jeweils angeführt durch große Kernstaaten wie die USA, China, Indien und Russland. Für die vermeintlich größte Herausforderung, den Islam, konnte Huntington allerdings keinen Kernstaat ausmachen. Afrika galt bei ihm nicht als eigener Kulturkreis, bei Lateinamerika blieb er vage. Bereits darin zeigt sich, wie konstruiert Huntingtons Einteilung ist. Der Harvardprofessor prophezeit, dass es zwischen diesen Kulturkreisen zu heftigen Spannungen kommen werde. Gewaltsame Konflikte zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturen seien die wahrscheinlichste und gefährlichste Quelle für Eskalationen, die bis hin zu weltweiten Kriegen führen könnten.
Für Politikwissenschaftler Harald Müller ist Huntington ein Lieblingsgegner. In seinem Gegenbuch Das Zusammenleben der Kulturen weist Müller Huntington grobe statistische Fehler nach. Müller führt den enormen Erfolg der Huntington-These auf ein Bedürfnis der US-Gesellschaft nach Gut und Böse, Schwarz und Weiß zurück. Huntington habe dies Bedürfnis medien- und prestigewirksam bedient.
Ich komme zurück zu meinem Bild
der Osmose. Huntington sieht nur die Gefäße, aber sieht nicht
die Poren. Er behandelt Kulturen als außerordentlich starre,
unwandelbare Gebilde. So als hätten sie eine innere Natur,
über die sie nicht hinausgehen können. Das widerspricht
eigentlich sämtlichen großen Narrativen der Kulturgeschichte.
Toynbee, Sorokin und Spengler etwa beschreiben das ganz
anders. Huntington übersieht, was die Kulturen zusammenzieht,
was sie gemeinsam haben, was sie in Verbindung bringt.
Gleichzeitig überbetont er die durchaus vorhandenen Tendenzen
zur Fragmentierung, Abgrenzung und Abschottung. So zeichnet
er ein ungemein einseitiges Bild unserer heutigen Welt, lockt
uns auf einen falschen Pfad. Denn wer glaubt heute am
leidenschaftlichsten an den Kampf der Kulturen? Das ist Osama
bin Laden, beileibe ein Bettgenosse, den sich auch der
Harvardprofessor nicht wünscht.
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Allerdings bestreitet Harald Müller, dass die Anschläge vom 11. September 2001 für die USA eine Zeitenwende bedeuteten. Für ihn ist der Versuch der USA, ihre Weltstellung nach dem Ende des Kalten Krieges zu festigen, bereits älter und reicht bis in die Regierungszeit Bill Clintons zurück. All das beschreibt Müller in seinem Buch Amerika schlägt zurück - Die Weltordnung nach dem 11. September. Die USA werde nicht weiterhin die einzige dominierende Großmacht bleiben. Müller sieht mehrere wirtschaftliche und politische Zentren. Durch die wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung der großen Wirtschaftsriesen entstehe ein permanenter sanfter Zwang zur Kooperation.
Die Welt globalisiert sich
wirtschaftlich. Die Ansprüche der Bevölkerung wachsen
überall. Man findet in den wichtigen Zentren der Welt - von
China über Brasilien, Indien, Japan, Europa, USA und Russland
- eine selbstbewusste und expandierende Mittelklasse. Deren
Mitglieder sind in erster Linie an Wohlfahrtszielen
interessiert. Sie verlangen Teilhabe an politischen und
staatlichen Entscheidungen. Hinzu kommt die wachsende
Einsicht in den wichtigen Kapitalen der Welt, dass es
gemeinsame Probleme gibt, die zwangsläufig, ob man sich nun
liebt oder nicht, zusammen bewältigt werden müssen. Der
Klimawandel ist nur die Spitze des Eisbergs. Knappes
Trinkwasser, Nahrungsproduktion, geordnete Migration: Solche
komplexen Probleme treiben zumindest die großen Mächte eher
in Richtung Kooperation. Kriege bleiben ein Risiko. Die
Tatsache, dass wir sie jetzt seit zwei Generationen nicht
mehr erlebt haben, war Ergebnis harter Arbeit und zum Teil
auch Glück. Aber wir haben gute Chancen, denn kooperative
Aktivitäten werden auf der Welt immer wichtiger.
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Ich bin sehr sicher, dass beide
Länder große Mächte sein werden. Mit globaler Bedeutung und
als jeweils stärkste Regionalmacht. Wobei sie sich, weil sie
aneinandergrenzen, auch ein wenig neutralisieren. Der Begriff
Imperium greift jedoch zu weit. Imperien waren immer auch
jenseits ihrer Grenzen mit einer begrenzten militärischen
Präsenz in der Lage, andere Völker zu kontrollieren. Das ist
endgültig vorbei. Die Tatsache, dass der mit Abstand stärkste
Staat der Welt nicht in der Lage ist, zwei kleine Völker zur
Räson zu bringen, wie derzeit in Afghanistan und im Irak zu
beobachten ist, spricht gegen die Neuauflage eines
Imperialismus. Außerdem gibt es dafür in der chinesischen und
in der indischen Geschichte nur äußerst begrenzte
Traditionen. China hat im 15. Jahrhundert mit der Seefahrt
aufgehört und versucht jetzt äußerst mühsam, irgendeine Art
maritimer Macht auf die Beine zu stellen, um auch nur die
eigenen Küsten zu schützen. Indien war nie ein Imperium. Es
bemüht sich zwar, weltweit präsent zu sein, und es sendet
auch seine Marine auf Flottenbesuche aus, aber ich sehe
keinen wirklichen Versuch einer weiträumigen militärischen
Präsenz. Es geht vielmehr darum, mit den Mitteln des 21.
Jahrhunderts Einfluss auszuüben. Wer das mit klassisch
imperialen Mitteln versucht, wird hinterher sehr viel
bezahlen und sehr wenig dafür bekommen.
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In China sind starke kulturelle Brüche zu erwarten. Zwar lernt das Land unglaublich schnell alles, was Technik betrifft, bleibt jedoch ein extrem autoritäres System mit Pressezensur, Rechtsunsicherheit und Ausschluss der Massen von der politischen Teilhabe.
China hat einen gewaltigen
politischen Umbruch vor sich. Dort hat sich mittlerweile eine
selbstbewusste und leistungsbewusste Mittelklasse entwickelt
und stellt die Forderung nach Teilhabe. So wie es in allen
Kulturen und historischen Perioden war. Nicht nur zwischen
unzufriedenen Bauern und den lokalen Parteikadern werden
Spannungen entstehen, sondern auch zwischen den hochwichtigen
urbanen Eliten und der politischen Führung. Das wird
irgendwann auch in China zu demokratischen Zügen des
Regierens führen. Aber bis es so weit ist, gibt es Umbrüche,
Friktionen, möglicherweise blutige Auseinandersetzungen, die
den chinesischen Entwicklungsweg holpriger machen. Indien hat
das hinter sich. Dort gibt es zwar auch innere Konflikte,
aber die Entwicklung der letzten 30 Jahre zeigt, dass die
Flexibilität des demokratischen Systems Möglichkeiten bietet,
diese Konflikte zu managen. Auch in puncto
Rechtsstaatlichkeit unterscheiden sich die beiden Staaten.
China ist kein Rechtsstaat und für Investoren, aber auch für
einheimische Unternehmer, besteht eine ungeheure
Unsicherheit, ob das, was man besitzt, auch bleibt. Ob etwa
intellektuelle Eigentumsrechte, Patente geschützt werden oder
nicht, ob die lokale Parteielite Gewinne abgreift. In Indien
hat die Rechtsstaatlichkeit kein perfektes, aber ein gutes
Niveau. Es hat mehrere Prozesse gegeben, in denen Unternehmen
ihre Patentrechte behaupten konnten.
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Indien war nie ein einheitlicher
Staat, aber eine gewaltige Kultur, die äußerst aufnahmefähig
war. Indien ist oft erobert worden, musste sich immer wieder
mit fremden Einflüssen auseinandersetzen und sie verarbeiten.
Das Land ist immer multikulturell, multireligiös und
multiethnisch gewesen, und darin würde ich heute seine Stärke
sehen. Es hat das Erbe alter Zeiten mit dem kolonialen Erbe
zusammengebracht. So wurden auch die zarten Einflüsse
britischer Demokratie positiv und sehr indisch
gewendet.
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Die Europäische Union ist ein
fantastisches Modell von Friedensordnung zwischen zuvor
tödlich verfeindeten Staaten. Man darf bei aller Kritik, die
im Zuge der Verfassungsdebatte hochkam, diese unglaubliche
Leistung nie vergessen. Aber der Charakter der Union als
Zusammenschluss von vielen Staaten bedeutet auch, dass ihre
Integration ein schneckenlangsamer Prozess ist. Er eignet
sich nicht übermäßig gut, weltpolitisch große Macht und
Einfluss auszuüben. Wir tun das gelegentlich, wie im Falle
der Libanon-Operation. Aber im Krisenfall reagiert Europa nun
mal langsamer als ein Nationalstaat wie die USA, vielleicht
auch China oder Indien. Das ist der Preis für diese innere
Friedensunion. Die weltpolitische Musik spielt deshalb in
Asien und nicht in Europa. Darüber kann man auch froh sein.
Denn so sind wir erstmal aus der Schusslinie potenzieller
Konflikte heraus. Anders als zur Zeit des
Ost-West-Konfliktes, als wir zu den Frontstaaten gehörten,
bei denen im Extremfall die Opfer gezählt werden. Vielleicht
können wir aus einer gewissen Randposition unseren Einfluss
dahin gehend geltend machen, dass zwischen den vermutlichen
drei Hauptrivalen der Zukunft, Indien, China und den USA,
nichts anbrennt.
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changeX 06.02.2008. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Culture Counts
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