Offenheit gewinnt

Nur offene Kulturen entwickeln sich weiter - ein Essay-Interview mit dem Politikwissenschaftler Harald Müller.

Von Heiner Wember

Quer durch Epochen und Weltgegenden zeigt sich: Kulturen, die sich für Fremdes öffnen, entwickeln sich weiter. Abschottung dagegen führt zu Stillstand und Niedergang. Jede erfolgreiche Kultur musste von anderen Kulturen lernen, um sich längerfristig behaupten zu können. Sagt der Politikwissenschaftler Harald Müller. Der Historiker und Publizist Heiner Wember gestaltete ein Essay-Interview mit ihm. / 06.02.08

Harald MüllerDie Weltgeschichte erscheint aus der Rückschau als eine Aneinanderreihung von Kriegen und Krisen. Die Vorstellung vom Kampf als existenzieller Auseinandersetzung versperrt allerdings den Blick darauf, dass jede erfolgreiche Kultur von anderen Kulturen lernen musste, um sich längerfristig behaupten zu können.
Das ist eine These von Harald Müller, der 1998 mit seinem Buch Das Zusammenleben der Kulturen - Ein Gegenentwurf zu Huntington bekannt wurde. Darin wandte er sich gegen ein Schlagwort des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington. Der hatte zwei Jahre zuvor mit der These vom "Clash of Civilizations", dem "Kampf der Kulturen", für Aufsehen gesorgt.
Heute gehört Müller zu den führenden deutschen Politikwissenschaftlern und beschäftigt sich intensiv mit globalen Fragen. In seinem neuen Buch behandelt er das Thema, wie ein multikulturelles Staatswesen den Weg zur Großmacht beschreitet. Der Titel lautet: Weltmacht Indien - Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert. Müller wurde in Frankfurt am Main geboren. Der 58-Jährige studierte dort neben Politikwissenschaft auch Germanistik, Soziologie und Philosophie. Nach einer Lehrtätigkeit in Darmstadt kam er 1999 zurück nach Frankfurt. Dort hat er seitdem an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität einen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Er ist ein zupackender, selbstbewusster Wissenschaftler, der prägnant definieren kann. Zum Beispiel den Begriff Kultur.

Kultur ist die für den Menschen spezifische Art, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Tiere haben dafür den Instinkt, wir brauchen Wissen und die Art, das Wissen zu ordnen. Und diese Ordnung nennen wir Kultur.
Ein weit gefasster Kulturbegriff. Eine Definition, die über den traditionellen deutschen Begriff von Kultur hinausgeht. Für Müller ist Kultur mehr als Beethoven und Malerei.

Das ist ein Verständnis von Kultur, das sich im deutschen Bildungsbürgertum seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Das deutsche Bürgertum war dadurch gekennzeichnet, dass es bis tief in das 19. Jahrhundert politisch einflusslos war. Im Unterschied zu seinen Klassengenossen in Frankreich oder Großbritannien, Schweden oder Holland. Man hat sich in Deutschland auf die Bildung kapriziert und hat sie zum einzigen Teil von Kultur hochgejubelt, während in den moderneren europäischen Staaten der gesamte Bereich der Lebensbewältigung und deren Sinngebung, das heißt eben auch Industrie und Wirtschaft unter den Kultur- beziehungsweise unter den Zivilisationsbegriff fiel. Dieser deutsche Sonderweg ist mittlerweile eingeebnet, denn auch Kulturministerien kümmern sich heute um mehr als Goethe.
Wenn Kultur viel mehr ist als Goethe, viel weiter ins Alltägliche greift, dann braucht der Begriff eine Abgrenzung. Wo beginnt Kultur und wie entsteht sie?

Da müssen wir weit zurückgehen, bis zu Ötzi und noch weiter. Menschen leben zusammen und sie sind genötigt, eben weil sie anders als die Tiere nicht instinktabhängig agieren können, das, was sie lernen, weiterzugeben. Und die Art und Weise, wie das weitergegeben wird, nennen die Kulturanthropologen und Kulturhistoriker Meme, in Anlehnung an den Begriff der Gene. Sie setzen sich zusammen zu Beständen von geteiltem Wissen, das von Generation zu Generation geht. Es ist das Instrumentarium, mit dem es uns als Gattung, Familie, Gruppe, Ethnie, als Klan und als Volk gelingt, in einer herausfordernden Welt zu überleben. Kultur wächst nicht organisch, aber sie wächst historisch. Sie springt manchmal, sie erlebt ihre Katastrophen, aber auch im Untergang geht es meistens ein Stückchen weiter. Die Kultur der alten Griechen, der Hellenismus, ist untergegangen, aber es sind eben Spurenelemente davon im Christentum aufgegangen. Ein massiver Teil ist durch den fortgeschrittenen Islam, vor allen Dingen in den spanischen Emiraten weitergetragen worden und in die europäische Kultur zurückgeflossen, ein Teil ist nach Byzanz gegangen und dann nach Russland gewandert. So ist der Hellenismus als solcher gestorben, aber er hat Erben hinterlassen, eben Meme.
Kultur hat etwas Bewahrendes. Sie fasst das Wissen vieler Generationen zusammen und tradiert es. Diese Tradition trägt das konservierende Element in sich. Gleichzeitig braucht Kultur neue Impulse von außen, neues Wissen, um sich an eine veränderte Umwelt anzupassen. Welches Element ist stärker - Abschottung oder Neugier?

Es gilt beides. Wenn man eine Analogie aus der Physik nehmen will, ist es wahrscheinlich das der Osmose. Man hat ein Gefäß, das leicht porös und in dem eine Flüssigkeit ist, und das ganze Gefäß steht in einer anderen Flüssigkeit. Durch die Poren tauschen sich die Flüssigkeiten aus. Die Wand dieses Gefäßes symbolisiert dabei die Abwehr des Fremden und die Poren symbolisieren die Neugier. Auf Dauer bedeutet das, dass sich die Flüssigkeiten innen und außen angleichen. Aber das dauert sehr lange, und es entstehen zwischenzeitlich alle möglichen unvorhersehbaren Mischungen. Es entsteht ständig Neues. Im Verlauf der Jahrhunderte schleifen die Unterschiede sich ab. Wir haben heute eine Welt, in der mehr als je zuvor Austausch zwischen den Kulturen möglich ist, etwa durch die enormen Fortschritte in der Kommunikationstechnik und durch Migration, Tourismus und die globalisierte Weltwirtschaft. Trotzdem behalten die Kulturen ihre Widerständigkeiten. Das heißt, die Gefäße sind noch da, aber die Poren sind viel größer geworden.
Was Müller in seinem Bild so einleuchtend beschreibt, spielt sich in der Realität durchaus in einem Spannungsfeld ab. Denn Neues kann immer auch bedrohlich sein. Angriffe anderer Gruppen bis hin zu Mord und Totschlag. Hat nicht auch eine anthropologisch tief im Menschen verwurzelte Ablehnung alles Neuen bis hin zum Hass auf das Fremde eine Funktion?

Ich bin nicht so sicher, dass der Fremdenhass anthropologisch tief in uns wurzelt. Wenn ich mir anschaue, mit welcher Neugier kleine Kinder, die noch am wenigsten kulturell geformt sind, dem Fremden entgegengehen, solange man sie nicht mit Schreckgespenstern vom schwarzen Mann und Ähnlichem davon abhält, dann frage ich mich, ob Fremdenangst oder Fremdenhass wirklich anthropologische Konstanten sind. Oder nicht ein Kunstprodukt, das unsere Kulturen auch aus Gründen der Selbstverteidigung produziert haben und das von politischen Strategen sehr gezielt und zum eigenen Nutzen in Anschlag gebracht wird. Ich bin da ein bisschen optimistischer: Die Neugier auf das Fremde ist meist genauso stark wie die Angst davor. Das kann auch gar nicht anders sein, weil sonst die Innovationsfähigkeit und die Entwicklungsfähigkeit der Menschen allzu begrenzt wären. Und das, was die Menschheit an Innovation, auch an Zugehen auf das Fremde, an Erforschung des Fremden, an Zulassung des Fremden im Laufe ihrer Geschichte hinter sich gebracht hat, spricht eigentlich dafür, dass wir beide Anlagen haben. Dass offensichtlich einige Kulturen die Fremdenangst vor die Fremdenneugier stellen, ist eine Tatsache, über die wir nicht hinwegsehen können und die uns heute im Zeitalter der Globalisierung ganz besondere Probleme macht. Aber wir sollten nicht den Fehler begehen, diese kulturelle Entwicklung mit anthropologischen Konstanten zu verwechseln.
Schön gesagt. Als aber die Mongolen kamen, da half keine Neugier, da half nur noch Verteidigung.

Klar, wenn das Fremde mit Schwertern und Äxten oder im Fall der Mongolen mit Bogenschützen auf kleinen, flinken Pferden über uns herfällt, dann hat es keinen Sinn, besonders freundlich zu sein. Dann geht man in die Festung und zieht sich die Rüstungen über und freut sich, wenn irgendjemand, in dem Fall übrigens die Polen, die Mongolen rechtzeitig aufhält. Oder wenn zur rechten Zeit ein Khan stirbt und das Hauptheer sich zurückzieht. Oder der Eroberungszug der Türken, die bis vor Wien kamen. Das sind Schreckgespenster unserer europäischen Geschichte, und in jenen Zeiten war es vollkommen richtig, sich höchst robust gegen das Fremde zu erwehren. Aber über diese Lage reden wir heute im Großen und Ganzen nicht, wenn es um die Problematik des Fremden geht.
Krieg und Unterdrückung durchziehen die Jahrhunderte. Apokalyptische Bedrohungen wie der Einfall der Hunnen ins Römische Reich oder der Mongolensturm klingen als historisches Echo bis heute in unserer kulturellen Erinnerung nach. Sie werden immer wieder auf moderne Feindbilder projiziert. Zum Beispiel in einer Rede von Kaiser Wilhelm II. Er forderte im Jahr 1900 seine Soldaten auf, bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China ebenso rücksichtslos vorzugehen wie einst die Hunnen unter ihrem König Etzel.
Im Ersten Weltkrieg griff die britische Propaganda das auf und zeichnete ein Bild von Deutschland als dem angreifenden Hunnenvolk aus dem Osten. Die Deutschen wurden zu "the Huns", die Hunnen. Es gab Länder und Völker, die allein auf Krieg, auf totale Unterwerfung oder Vernichtung anderer aufbauten. Aber war das die Regel? Und waren diese Systeme auf Dauer erfolgreich?

Die Mongolenherrschaft ist vielleicht das erfolgreichste Beispiel einer fast ausschließlich militärisch begründeten Kultur. Enorm in ihrer Expansion, enorm in ihrem militärischen Erfolg, imponierend durch ihr Kommunikationswesen. Aber sie war nicht in der Lage, das Überdehnungsproblem zu lösen. Deswegen zerfiel das Reich relativ schnell in Einzelteile, innerhalb eines Jahrhunderts. Sie symbolisierten zwar noch mongolische Herrschaft, bildeten aber kein einheitliches Reich mehr. Auch das Hitler-Regime war so kurzlebig und auch keine eigene Kultur, eher eine unkulturelle Besonderheit. Sonst fällt mir an reinen Militärherrschaften nicht sehr viel ein. Ein bisschen mehr gehört schon dazu. Man muss in der Lage sein, die Wirtschaft eines Reiches zu organisieren, man muss eine Ideologie, die wirklich auch nennenswerte Teile von Elite und Masse zusammenbindet, erfinden und kultivieren. Das sind größere Leistungen, als sie das Militär alleine packt, und deswegen sind reine Militärherrschaften im Allgemeinen recht kurzlebig. Es bedarf der Entfaltung auch des Zivilen, einer freien Bauernschaft, eines ausgeklügelten Pacht- und Bewässerungssystems, einer Kaufmannschaft, einer klugen merkantilistischen Regierung. Zwar darf der militärische Wettbewerb nicht unterschätzt werden bei der Evolution von Politik, Gesellschaft und Kultur, besonders in Europa zwischen 1200 und 2000. Aber es kamen andere Faktoren hinzu. Zum Beispiel dieses eigentümliche Gleichgewicht zwischen geistlicher und weltlicher Macht, das Europa gekennzeichnet hat. Außerdem gab es in den meisten europäischen Ländern keine völlige Alleinherrschaft, der Monarch musste sich immer mit anderen Kräften arrangieren. So entstanden relativ lebendige politische Austauschsysteme, eine teilunabhängige Justiz und ähnliche Elemente von moderner Staatlichkeit, die sich dann weiterentwickeln konnten. Fazit: Krieg und militärischer Wettbewerb waren ein wichtiges Element dieses sehr facettenreichen Gesamten, aber nicht das allein entscheidende.
Das rückständige mittelalterliche Europa erlebte eine Renaissance, die Wiederentdeckung antiker griechischer Denker und römischer Pragmatiker. Diese Wiedergeburt konnte aber nur gelingen, weil während des Mittelalters der aufblühende Islam die alten Schriften gerettet und überliefert hatte. Der Islam wurde, als die antiken Strukturen zusammenbrachen, zur eurasischen Hochkultur. Für Harald Müller stellt der Islam ein Beispiel dar, wie eine vergleichsweise tolerante Kultur sich ausbreitete, von anderen lernte und jahrhundertelang erfolgreich war. Eine Kultur, die dann durch Dogmatismus und Abschottung in die Defensive geriet.

Der Islam hat in Bezug auf seine intellektuelle Entwicklung im Grunde eine tragische Geschichte. Denn er war nach der enormen Expansion der ersten zweieinhalb, drei Jahrhunderte das offenste und toleranteste und auch der Wissenschaft zugewandteste Kultursystem der Welt. Der Islam hat das unsterbliche Verdienst, die wissenschaftlichen Errungenschaften des Hellenismus für den Westen bewahrt zu haben. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als in unserer eigenen Kulturgeschichte die Phase herrschte, die man zu Recht als das finstere Mittelalter bezeichnet, in der die geistige Freiheit totgeschlagen wurde. In dieser Zeit hat der Islam etwa in Bagdad und in den spanischen Emiraten das Geistige und die Wissenschaft gepflegt, hervorragende Lehranstalten unterhalten und das für uns bewahrt. Unsere Kultur ist rechtzeitig aufgewacht, in der Spätscholastik, um das aufnehmen zu können, während zur gleichen Zeit die tragische Wende der islamischen Geschichte geschah: die fatale Allianz zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Diese Allianz ist absolut tödlich, weil in einer solchen Symbiose keine Konkurrenz mehr herrscht, sondern die totale Einheit. Alles, was nach vorne drängt und diese Einheit von Macht und Indoktrination aufsprengen könnte, wird abgeschottet und abgeriegelt. Daraus hat sich der Islam vielerorts nicht mehr befreien können. Wir sehen natürlich Lichtzeichen, etwa in der Entwicklung der Türkei, wir sehen das gute Regieren in Malaysia, wir sehen eine relativ offene Gesellschaft in Indonesien, ein erstes Aufflackern von Reformen und Freigeist in den kleineren Emiraten, im Irak und in einem Land wie Marokko. Man hofft, dass es jetzt unter dem Druck des westlichen Wettbewerbs in eine moderne Richtung geht. Aber es ist ein langer Weg - nach acht Jahrhunderten der Abstumpfung gegen freies Denken.
Toleranz und Vielfalt sind Grundlagen für langfristigen Erfolg in der Weltgeschichte. Ein Beispiel dafür ist das Osmanische Reich. Es hielt sich über 600 Jahre lang. Zu seinen Stärken gehörte eine für seine Zeit vergleichsweise große Toleranz gegenüber vielen Minderheiten.

Das Osmanische Reich ließ andere Religionen leben. Die waren gemäß den Vorschriften der Scharia kopftributpflichtig, zahlten also eine Sondersteuer, ihre Angehörigen dienten im Allgemeinen nicht im Militär, es sei denn, sie wurden frühzeitig konvertiert wie die Mamelucken. Es war aber durchaus möglich für Angehörige anderer Religionen, zu hohen politischen Posten aufzusteigen und dort erheblichen Einfluss auszuüben. Ein Regierungssystem, das gut auf die Multikulturalität dieses großen Imperiums abgestellt war. Aber auch hier gab es diese Symbiose von Geistlichkeit und weltlicher Macht, insofern nur begrenzte Toleranz und ein großes Hindernis für eine Entwicklung in die Moderne hinein.
Am Ende des Osmanischen Reiches stand eine Menschheitstragödie: der Völkermord an den Armeniern. Dabei kamen bis zu 1,5 Millionen Menschen um. Dieser Genozid hatte allerdings wenig mit dem Islam zu tun, sondern vielmehr mit einer neuen Grundidee des 20. Jahrhunderts: der Überhöhung des eigenen Volkes (oder seiner sogenannten Rasse) und der Herabsetzung aller anderen. Nationalismus und Rassismus waren Sprengsätze im Zusammenleben der Kulturen und trugen den Keim einer Ausrottungspolitik in sich.

Der Völkermord, der im Ersten Weltkrieg und zu dessen Ende an den Armeniern begangen wurde, war eine gigantische Opferschlachterei zugunsten der türkischen Nation, zugunsten der Vorstellung von Kemal Atatürk, dass man einen ethnisch gleichgeschalteten, türkischen Einheitsstaat nach französischem oder deutschem Muster braucht. Darin hatte die Multiethnizität, die das geografische Gebilde kennzeichnete, keinen Platz. Eine in meinen Augen extrem verhängnisvolle Fehlentwicklung, die bis heute nachschwingt, mehr was die Kurden als die Armenier angeht, die heute in der Türkei allein zahlenmäßig nur noch eine marginale Rolle spielen. Aber die Ideologie, es muss alles über den einheitlichen national-ethnischen Kamm geschert werden, sitzt noch fest und hindert auch die moderne Türkei daran, das Kurdenproblem in einer annehmbaren, das heißt letztlich föderalen Weise zu lösen.
Die heutige Türkei zeigt - trotz innenpolitischer Konflikte - wichtige Ansätze zum Anschluss an die globalisierte Welt. Im Gegensatz zum Islamismus. Der Islamismus ist eine militante Anti-Bewegung. Gegen Menschen- und Frauenrechte, gegen Wohlstand und eine freie Kultur. Gegen Demokratie und Gedankenfreiheit. Harald Müller sieht allerdings im Islamismus keine dauerhafte Gefahr für den sogenannten Westen, zu dem man auch China, Indien und den Großteil Asiens zählen kann. Denn eines ist für Müller klar: Der Islamismus ist nicht lernfähig, beruht auf radikaler Ausgrenzung und hat kein funktionierendes praktisches Modell. Solche Systeme müssen über kurz oder lang scheitern.

Was haben Islamisten bislang geleistet? Sie haben ihre eigenen Länder miserabel regiert. In Afghanistan, im Sudan, in Saudi-Arabien, das zwar vom enormen Ölreichtum profitiert, sich aber nicht über einen Rentenstaat hinausentwickelt. Der Iran ist mit seinem islamistischen System wirtschaftlich abgestürzt; nicht nur wegen der Sanktionen, denen das Land ausgesetzt ist, sondern einfach weil die Machthaber ideologisch und nicht vernünftig reagieren. Man wird sehen, wie die Hamas in Gaza ihre Sache macht, sie wird wenig Chancen haben, aber auch da sind die Ansätze nicht vielversprechend. Die Islamisten entzaubern sich selbst in dem Maße, in dem sie die Macht übernehmen. Die andere Seite des Islamismus ist die brutale Gewalt, wofür al-Qaida und eine Reihe von kleineren Gruppierungen stehen, von denen manche mit al-Qaida verbündet sind. Das ist pure Destruktion, ein völliger Irrläufer. Das ist deshalb tragisch, weil viel Energie in der Gewalt extrem autoritärer und totalitärer Regierungsformen verpufft. Energien, die der Welt der Muslime zum Aufbau und zur Entwicklung fehlen. Kluge Muslime erkennen das, das sieht man am Arab Human Development Report, drei Bände der Vereinten Nationen, von arabischen Gelehrten geschrieben, eine beißende Kritik, der absolut nichts hinzuzufügen ist.
Eine ähnliche Entwicklung wie der Islam nahm vor ihm eine große andere Weltkultur: die chinesische. Ihr Aufstieg begann mit dem, was Chinesen heute wieder auszeichnet: lernen, lernen, lernen. Jahrhundertelang war die chinesische Kultur geprägt durch Offenheit und Aufnahmebereitschaft. Die Chinesische Mauer, Sinnbild für die Abwehr des Fremden, wurde erst im großen Maße ausgebaut, als das Land sich isolierte.

Dort war man ja so von sich überzeugt und gegen das Eindringen des Fremden eingestellt, dass man im 15. Jahrhundert die schicksalhafte Entscheidung traf, die Hochseeschifffahrt einzustellen. Zu einem Zeitpunkt, als die chinesische Schifffahrt der europäischen ebenbürtig und das chinesische Militär, zumindest in seiner technologischen Entwicklung, dem europäischen sogar überlegen war.
Das isolierte China ging nicht sofort unter, sondern hielt sich noch 500 Jahre lang - bis die Briten China zur Öffnung zwangen. Aber in der Zeit der Abschottung hatte es kaum Entwicklung geben, sondern Verkrustung. Für China galt der Satz, dass Stillstand Rückschritt ist.

Wenn eine Kultur wachsen will, muss sie im evolutionären Sinne die besten Überlebenschancen zusammenbringen, und das heißt, von den anderen lernen. Das, was man abschätzig als Abkupfern bezeichnet, würde ich als die enorme Fähigkeit des sozialen, kulturellen und politischen Lernens bezeichnen, das ein Grundbestand kultureller Evolution ist. Eine Kultur, die glaubt, ohne das auskommen zu können, fällt zurück. So wie die Chinesen nach dem 15. Jahrhundert derart zurückgefallen sind, dass sie mental heute noch darunter leiden und erst jetzt, nach langen Jahrhunderten, wieder dabei sind, per Aufschwung zur alten Spitzenstellung zurückzukehren. Das ist eine Folge des Sichabschottens. Andere Kulturen, die Abschottungstendenzen gezeigt haben, etwa die spanische Nach-Reconquista, die Sowjetunion oder am krassesten das sich selbst isolierende Nordkorea - all diese Kulturen fallen hoffnungslos zurück. Weil der ständige, lebendige Austausch, das frische Blut, das in Form fremder Meme in das eigene kulturelle Repertoire einfließt, unabdingbar ist für die eigene Weiterentwicklung.
Heute beweist kein anderes Land so radikal wie China, wie man mit Lernen weiterkommt. An der Stuttgarter Universität zum Beispiel ist der häufigste Name unter den Studenten zwar Müller, aber danach folgen drei exotische: Wang, Zhang und Li, Namen von Chinesen, die bei uns studieren. Die chinesische Wirtschaft ist inzwischen in der Lage, komplexe Produkte nachzubauen, von Kettensägen über den Smart bis hin zur Magnetschwebebahn. Auf das geistige Eigentum anderer nehmen chinesische Firmen dabei in der Regel keine Rücksicht. Das hat Vorbilder. Auch japanische Unternehmen haben in den 1960er-Jahren westliche Technik abgekupfert. Doch haben sie gelernt, dass Produktpiraterie auf Dauer zum wirtschaftlichen Bumerang werden kann. Wer möchte schon dort investieren, wo seine Eigentumsrechte verletzt werden? Inzwischen sind auch chinesische Produkte es wert, dass man sie illegal kopiert. Politische Systeme, so Harald Müller, die keinen geordneten Rechtsrahmen schaffen, tun sich auf lange Sicht schwer.

China hat den Übergang aus der politischen Vormoderne in die politische Moderne noch nicht gemeistert. Das steht bevor und das bringt Verwerfungen mit sich. Wenn China das meistert und wenn Indien in seiner Entwicklung so weitermacht, dann werden das auch auf geistigem und wissenschaftlichem Gebiet schon in einer Generation ernsthafte Konkurrenten für die USA sein. China ist heute schon Weltspitze, was seine Softwareingenieure und deren Ausbildung angeht. Die indischen Universitäten werben in Afrika und Südostasien mit offenen Messen um Studenten. Für die Vereinigten Staaten wäre es vermutlich tödlich zu glauben, es würde immer so weitergehen wie bisher.
Harald Müller sieht in der Weltgeschichte durchaus allgemeingültige Regeln, die auf Dauer Erfolg oder Misserfolg von Staaten und Völkern beeinflussen. Dazu gehören kulturelle Lernfähigkeit und Integration von Ausländern. Eine erfolgreiche Immigration.

Eine Kultur, die zugleich umfangreich und inklusiv ist, also alle Facetten des gesellschaftlichen Lebens reflektiert und zugleich offen nach außen ist, dürfte die beste Voraussetzung der kollektiven Daseinsbewältigung sein. Damals wie heute. Und wenn man sich die erfolgreichsten und langlebigsten Kulturen der Weltgeschichte anschaut, dann sieht man diese Elemente auch.
Müller kann seine These an einem besonders bedeutenden historischen Beispiel anschaulich machen: am Imperium Romanum, dem Urbild aller Imperien.

Über das Römische Reich kann man fast ironisch sagen, dass es von zumindest einer eroberten Kultur seinerseits erobert wurde, nämlich von der griechischen. Rom war der große Verarbeiter und Weitertransporteur des Hellenismus. Von Elementen hellenistischer Philosophie, Lebensart und Staatsdenken. Rom hat das weitergetragen und in typisch römischer Weise verbeamtet, systematisiert und vereinfacht. Rom war stärker als viele andere große Imperien in der Lage, aufzunehmen und zu lernen, es war wie ein großer Bauch, der kulturelle Einflüsse verdauen konnte. Das war seine größte Stärke.
Das galt auch für die Binnenorganisation des Reiches. Die innere Verwaltung des Imperiums, eine der großen Machtstützen Roms, drohte Ende des 3. Jahrhunderts immer mehr zusammenzubrechen. Kaiser Konstantin erkannte einen radikalen Ausweg. Obwohl er, der Kaiser, als gottgleich galt, drängte er die alten Götter zurück und verkündete Religionsfreiheit. Anschließend förderte er das lange Zeit unterdrückte Christentum nach Kräften. Ein neuer Halt für das Imperium durch kulturelle Integration.

Genialerweise erkannte Konstantin, dass diese neue Religion, attraktiv für Römer und vor allem auch nicht römische Angehörige des Reiches, eine friedensstiftende Wirkung in dem Moment hatte, wo sie Staatsreligion wurde. Konstantin hatte begriffen, dass eine stramme Kirchenorganisation ein hervorragendes Herrschaftsmittel war. Damit konnte er ein zerfallendes Reich noch eine Weile zusammenhalten. Man kann die Organisationskraft der Kirche und was sie als Staatskirchentum für den römischen Staat bedeutete mit der Stählung der Kommunistischen Partei Russlands im Untergrund vergleichen, wodurch sie später zum Herrschaftsmittel der Sowjetunion wurde.
Kulturen werden auf Dauer erfolgreich, wenn sie für Immigranten attraktiv sind. Das galt sogar für jenes Gebilde, das für uns bis heute als Sinnbild des Militarismus steht. Für Preußen. Wie konnte es gelingen, aus dem armen Dorf Berlin im märkischen Sand das zeitweise größte industrielle Zentrum Europas zu machen? Mit Gewalt. So lautet die vordergründige Erklärung. Tatsächlich war es so, dass Preußen, die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches, zunächst militärisch expandierte. Gegen Schweden, gegen Österreich, gegen Frankreich und Russland. Mehrfach stand Preußen dabei am Abgrund. Doch was die preußische Militärmaschine verdeckte: Der weitere Aufstieg Preußens zur Führungsmacht Mitteleuropas und an die Spitze Deutschlands gelang vor allem mit religiöser Toleranz, Lernbereitschaft und Immigration. Ein zentraler Aspekt für die Blütezeit Preußens.

Preußen war Militärmacht, bevor es Industrie- und Wissenschaftsmacht wurde. Seine großen Zeiten hatte es Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Da war Preußen kulturelles Zentrum. In einer Zeit, als das Land militärisch relativ schwach war. Die zweite Phase, die ich hochinteressant finde, ist das Ende des 19. Jahrhunderts, die letzten 30 Jahre nach Gründung des Deutschen Reiches, in einer Zeit, in der man eigentlich keine Feinde hatte. Die friedlichste Phase seit dem 30-jährigen Krieg. Damals hat Preußen seine Stellung als die intellektuelle, industrielle und wissenschaftliche Macht Nummer eins in der Welt errungen. Frei von militärischen Herausforderungen. Der Krieg ist eben nicht der Vater aller Dinge. In dem Maße, wie sich Preußen und Deutschland militarisierten, begann der Niedergang.
Preußen verstand es, die klügsten Köpfe anzuziehen. Es bot eine neue Heimat, eine unbestechliche Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und vor allem - religiöse Toleranz. Vertriebene Hugenotten aus Frankreich fanden in Preußen ebenso eine neue Heimat wie verfolgte Juden aus Österreich. Friedrich II., genannt der Große, schrieb sogar, wenn die Türken kämen, wolle er ihnen Moscheen bauen.

Preußen war ein autoritärer Staat von Anfang bis Ende, aber, was die Religionen anging, relativ tolerant. Es war protestantisch dominiert, aber Katholiken konnten dort ebenso leben. Preußen bot Juden, Hugenotten, das heißt fremdländischen Protestanten mit einem sehr eigenwilligen Freiheits- und Selbstbehauptungsdrang, eine Heimat, als sie anderswo vertrieben wurden. Auch dadurch wurde das Land groß. Die Immigranten spielten im staatlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leben eine hervorragende Rolle. Es war die preußische und später deutsche Rechtskultur, die diesen Staat berechenbar machte. Und Berechenbarkeit ist wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung und Wissenschaft, die sich entfalten will.
Heute sind es wieder die wirtschaftlichen Entwicklungen, die zu einem dynamischen kulturellen Austausch führen. Für die einen ist es eine Bereicherung, wenn Bollywood-Filme in Deutschland populär werden oder chinesische moderne Kunst bei uns ausgestellt wird. Andere fühlen sich in der eigenen Identität bedroht und sehen voraus, dass die Kulturen in eine Art Endkampf um Identität, aber auch um die Ressourcen der Welt hineinschlittern.

Das Fremde, das uns im Moment bedrängt, sind das Flüchtlingswesen und die Frage der Zuwanderung. Diesem Phänomen kann man mit unterschiedlichen Argumenten begegnen. Denken wir an den Mangel an Facharbeitskräften und unser Rentensystem, dann müssen wir uns Zuwanderung sehnlichst wünschen. Denken wir an die Vorurteile im ländlichen und kleinstädtischen Raum, dann müssen wir uns gegen Fremde möglichst abschotten. Denken wir an die Kosten, dann kalkulieren wir vielleicht fifty-fifty. Am Ende wird die kontrollierte Zuwanderung stehen, wie sie klassische Einwanderungsländer teilweise seit 150 Jahren praktizieren. Treiber dafür wird unsere Wirtschaft sein. Wir setzen als Einwanderungsland den Rechtsrahmen, in dem sich das Fremde bei uns entfalten darf, dafür steht unser Grundgesetz.
Wie geht es weiter mit unserem Globus? Lassen sich die kulturellen Erfahrungen der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen? Wie lernfähig sind wir in einer Welt, deren Ressourcen schwinden und deren Bevölkerung wächst? Zurzeit dominieren die USA noch das weltpolitische Geschehen. Als einzige verbliebene Supermacht. Im Kalten Krieg lag für die USA das Reich des Bösen hinter dem Eisernen Vorhang, im sowjetischen Kommunismus. Ein Imperium, das vor allem auf Militär setzte und seine kulturelle Idee schon lange ad absurdum geführt hatte. Die Idee - eine unglaublich attraktive Vision -, dass alle Menschen gleich sein sollten. Nach dem Untergang des Ostblocks war die Anfälligkeit der USA für ein neues Feindbild groß, und geliefert wurde es von einem amerikanischen Harvardprofessor, dem Politikwissenschaftler Samuel Huntington.
Huntington definierte einen Kulturkampf, in dem große Kulturkreise in Konkurrenz zueinander treten. Jeweils angeführt durch große Kernstaaten wie die USA, China, Indien und Russland. Für die vermeintlich größte Herausforderung, den Islam, konnte Huntington allerdings keinen Kernstaat ausmachen. Afrika galt bei ihm nicht als eigener Kulturkreis, bei Lateinamerika blieb er vage. Bereits darin zeigt sich, wie konstruiert Huntingtons Einteilung ist. Der Harvardprofessor prophezeit, dass es zwischen diesen Kulturkreisen zu heftigen Spannungen kommen werde. Gewaltsame Konflikte zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturen seien die wahrscheinlichste und gefährlichste Quelle für Eskalationen, die bis hin zu weltweiten Kriegen führen könnten.
Für Politikwissenschaftler Harald Müller ist Huntington ein Lieblingsgegner. In seinem Gegenbuch Das Zusammenleben der Kulturen weist Müller Huntington grobe statistische Fehler nach. Müller führt den enormen Erfolg der Huntington-These auf ein Bedürfnis der US-Gesellschaft nach Gut und Böse, Schwarz und Weiß zurück. Huntington habe dies Bedürfnis medien- und prestigewirksam bedient.

Ich komme zurück zu meinem Bild der Osmose. Huntington sieht nur die Gefäße, aber sieht nicht die Poren. Er behandelt Kulturen als außerordentlich starre, unwandelbare Gebilde. So als hätten sie eine innere Natur, über die sie nicht hinausgehen können. Das widerspricht eigentlich sämtlichen großen Narrativen der Kulturgeschichte. Toynbee, Sorokin und Spengler etwa beschreiben das ganz anders. Huntington übersieht, was die Kulturen zusammenzieht, was sie gemeinsam haben, was sie in Verbindung bringt. Gleichzeitig überbetont er die durchaus vorhandenen Tendenzen zur Fragmentierung, Abgrenzung und Abschottung. So zeichnet er ein ungemein einseitiges Bild unserer heutigen Welt, lockt uns auf einen falschen Pfad. Denn wer glaubt heute am leidenschaftlichsten an den Kampf der Kulturen? Das ist Osama bin Laden, beileibe ein Bettgenosse, den sich auch der Harvardprofessor nicht wünscht.
Huntington hat mit seiner These das US-amerikanische Denken beeinflusst. Präsident George W. Bush handelt nach diesen Kategorien. Wie beliebig eine solche Weltsicht ist, zeigte sich bei seiner "Achse des Bösen". Dazu zählt Bush den Iran und Irak, aber auch das kommunistische Nordkorea. In jedem Fall passt eins: die stark religiös geprägte Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
Allerdings bestreitet Harald Müller, dass die Anschläge vom 11. September 2001 für die USA eine Zeitenwende bedeuteten. Für ihn ist der Versuch der USA, ihre Weltstellung nach dem Ende des Kalten Krieges zu festigen, bereits älter und reicht bis in die Regierungszeit Bill Clintons zurück. All das beschreibt Müller in seinem Buch Amerika schlägt zurück - Die Weltordnung nach dem 11. September. Die USA werde nicht weiterhin die einzige dominierende Großmacht bleiben. Müller sieht mehrere wirtschaftliche und politische Zentren. Durch die wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung der großen Wirtschaftsriesen entstehe ein permanenter sanfter Zwang zur Kooperation.

Die Welt globalisiert sich wirtschaftlich. Die Ansprüche der Bevölkerung wachsen überall. Man findet in den wichtigen Zentren der Welt - von China über Brasilien, Indien, Japan, Europa, USA und Russland - eine selbstbewusste und expandierende Mittelklasse. Deren Mitglieder sind in erster Linie an Wohlfahrtszielen interessiert. Sie verlangen Teilhabe an politischen und staatlichen Entscheidungen. Hinzu kommt die wachsende Einsicht in den wichtigen Kapitalen der Welt, dass es gemeinsame Probleme gibt, die zwangsläufig, ob man sich nun liebt oder nicht, zusammen bewältigt werden müssen. Der Klimawandel ist nur die Spitze des Eisbergs. Knappes Trinkwasser, Nahrungsproduktion, geordnete Migration: Solche komplexen Probleme treiben zumindest die großen Mächte eher in Richtung Kooperation. Kriege bleiben ein Risiko. Die Tatsache, dass wir sie jetzt seit zwei Generationen nicht mehr erlebt haben, war Ergebnis harter Arbeit und zum Teil auch Glück. Aber wir haben gute Chancen, denn kooperative Aktivitäten werden auf der Welt immer wichtiger.
Müller erwartet, wie andere Politikwissenschaftler auch, ein asiatisch dominiertes Jahrhundert. Mit zwei Hauptakteuren: China und Indien.

Ich bin sehr sicher, dass beide Länder große Mächte sein werden. Mit globaler Bedeutung und als jeweils stärkste Regionalmacht. Wobei sie sich, weil sie aneinandergrenzen, auch ein wenig neutralisieren. Der Begriff Imperium greift jedoch zu weit. Imperien waren immer auch jenseits ihrer Grenzen mit einer begrenzten militärischen Präsenz in der Lage, andere Völker zu kontrollieren. Das ist endgültig vorbei. Die Tatsache, dass der mit Abstand stärkste Staat der Welt nicht in der Lage ist, zwei kleine Völker zur Räson zu bringen, wie derzeit in Afghanistan und im Irak zu beobachten ist, spricht gegen die Neuauflage eines Imperialismus. Außerdem gibt es dafür in der chinesischen und in der indischen Geschichte nur äußerst begrenzte Traditionen. China hat im 15. Jahrhundert mit der Seefahrt aufgehört und versucht jetzt äußerst mühsam, irgendeine Art maritimer Macht auf die Beine zu stellen, um auch nur die eigenen Küsten zu schützen. Indien war nie ein Imperium. Es bemüht sich zwar, weltweit präsent zu sein, und es sendet auch seine Marine auf Flottenbesuche aus, aber ich sehe keinen wirklichen Versuch einer weiträumigen militärischen Präsenz. Es geht vielmehr darum, mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts Einfluss auszuüben. Wer das mit klassisch imperialen Mitteln versucht, wird hinterher sehr viel bezahlen und sehr wenig dafür bekommen.
Auch zu Asien hat Harald Müller eine überraschende These parat: Er geht davon aus, dass auf lange Sicht Indien erfolgreicher sein wird als China. Alle Zahlen sprechen zurzeit gegen diese Thesen. Die chinesische Wirtschaft ist etwa dreimal so stark wie die indische. Auch die chinesischen Wachstumszahlen liegen um etwa zwei Prozentpunkte über den indischen. Allerdings wird Indien bald mehr Menschen haben als China, und die indische Öffnung begann zwölf Jahre nach der chinesischen. Indien startete später in die Globalisierung.
In China sind starke kulturelle Brüche zu erwarten. Zwar lernt das Land unglaublich schnell alles, was Technik betrifft, bleibt jedoch ein extrem autoritäres System mit Pressezensur, Rechtsunsicherheit und Ausschluss der Massen von der politischen Teilhabe.

China hat einen gewaltigen politischen Umbruch vor sich. Dort hat sich mittlerweile eine selbstbewusste und leistungsbewusste Mittelklasse entwickelt und stellt die Forderung nach Teilhabe. So wie es in allen Kulturen und historischen Perioden war. Nicht nur zwischen unzufriedenen Bauern und den lokalen Parteikadern werden Spannungen entstehen, sondern auch zwischen den hochwichtigen urbanen Eliten und der politischen Führung. Das wird irgendwann auch in China zu demokratischen Zügen des Regierens führen. Aber bis es so weit ist, gibt es Umbrüche, Friktionen, möglicherweise blutige Auseinandersetzungen, die den chinesischen Entwicklungsweg holpriger machen. Indien hat das hinter sich. Dort gibt es zwar auch innere Konflikte, aber die Entwicklung der letzten 30 Jahre zeigt, dass die Flexibilität des demokratischen Systems Möglichkeiten bietet, diese Konflikte zu managen. Auch in puncto Rechtsstaatlichkeit unterscheiden sich die beiden Staaten. China ist kein Rechtsstaat und für Investoren, aber auch für einheimische Unternehmer, besteht eine ungeheure Unsicherheit, ob das, was man besitzt, auch bleibt. Ob etwa intellektuelle Eigentumsrechte, Patente geschützt werden oder nicht, ob die lokale Parteielite Gewinne abgreift. In Indien hat die Rechtsstaatlichkeit kein perfektes, aber ein gutes Niveau. Es hat mehrere Prozesse gegeben, in denen Unternehmen ihre Patentrechte behaupten konnten.
Harald Müllers neues Buch trägt den Titel Weltmacht Indien - Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert. Darin beschreibt er eindrücklich mit vielen Fakten und Überlegungen, warum er Indien für das globale Zukunftsmodell hält. Müller trennt sich bei seiner Bewertung von nackten Wirtschaftszahlen und berücksichtigt auch die kulturelle Lernfähigkeit von China und Indien. Ihre Bereitschaft, die Gesellschaft friedlich zu verändern. Müllers Analyse nach hat Indien das Erfolgsmodell der Zukunft. Die Inder als Meister, neue Kulturen aufzunehmen.

Indien war nie ein einheitlicher Staat, aber eine gewaltige Kultur, die äußerst aufnahmefähig war. Indien ist oft erobert worden, musste sich immer wieder mit fremden Einflüssen auseinandersetzen und sie verarbeiten. Das Land ist immer multikulturell, multireligiös und multiethnisch gewesen, und darin würde ich heute seine Stärke sehen. Es hat das Erbe alter Zeiten mit dem kolonialen Erbe zusammengebracht. So wurden auch die zarten Einflüsse britischer Demokratie positiv und sehr indisch gewendet.
Zur Rolle Europas fällt die Analyse halbwegs optimistisch aus. Denn nach einem Jahrtausend der Kriege hat der alte Kontinent zu einer Binnentoleranz gefunden, die ihm vor 100 Jahren niemand zugetraut hätte. Europas dominierende Zeit ist zwar vorbei, aber trotzdem und vielleicht gerade deshalb hat es eine Zukunft als offene, lernfähige und friedliche Kultur.

Die Europäische Union ist ein fantastisches Modell von Friedensordnung zwischen zuvor tödlich verfeindeten Staaten. Man darf bei aller Kritik, die im Zuge der Verfassungsdebatte hochkam, diese unglaubliche Leistung nie vergessen. Aber der Charakter der Union als Zusammenschluss von vielen Staaten bedeutet auch, dass ihre Integration ein schneckenlangsamer Prozess ist. Er eignet sich nicht übermäßig gut, weltpolitisch große Macht und Einfluss auszuüben. Wir tun das gelegentlich, wie im Falle der Libanon-Operation. Aber im Krisenfall reagiert Europa nun mal langsamer als ein Nationalstaat wie die USA, vielleicht auch China oder Indien. Das ist der Preis für diese innere Friedensunion. Die weltpolitische Musik spielt deshalb in Asien und nicht in Europa. Darüber kann man auch froh sein. Denn so sind wir erstmal aus der Schusslinie potenzieller Konflikte heraus. Anders als zur Zeit des Ost-West-Konfliktes, als wir zu den Frontstaaten gehörten, bei denen im Extremfall die Opfer gezählt werden. Vielleicht können wir aus einer gewissen Randposition unseren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass zwischen den vermutlichen drei Hauptrivalen der Zukunft, Indien, China und den USA, nichts anbrennt.
Eine Kampfabsage tut not, um auf einem begrenzten Planeten mit immer mehr Menschen und immer weniger Ressourcen zu überleben. Das ist das Credo von Müller und einer wachsenden Zahl anderer Wissenschaftler und Publizisten. Die Zukunft gehöre den weltoffenen.


Harald Müller ist geschäftsführendes Mitglied im Vorstand der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, außerdem Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Bologna. Er hat zahlreiche praktische Erfahrungen in der internationalen Politik gesammelt. Bei den Vereinten Nationen ist er Vorsitzender eines Beratungsausschusses des Generalsekretärs für Abrüstungsfragen, war für Deutschland mit der Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags beschäftigt und fungiert im Planungsstab des Auswärtigen Amtes als Co-Vorsitzender des Arbeitskreises "Friedens- und Konfliktforschung".


Heiner WemberHeiner Wember ist Historiker und Publizist. Er arbeitet überdies als freier Autor für Culture Counts.


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